Alle Ausgaben / 2009 Andacht von Anja Bremer

Mit dem Herz in der Hand

Andacht zur Jahreslosungskarte

Von Anja Bremer

Lied: Die Gott suchen (EG 176)

Worauf richtet sich Ihr Blick zuerst, wenn Sie das Bild von Lucas Cranach ansehen? Nehmen Sie sich kurz Zeit, um dem nachzugehen. Vielleicht können Sie beschreiben, wie Ihre Augen über das Bild wandern…  Was nehmen Sie zuerst in den Blick, was als nächstes, was danach?

Lucas Cranach hat das Bild „Christi Abschied von seiner Mutter und seinen Verwandten“ im Jahr 1540 gemalt. Christus und Maria stehen im Bildvordergrund, aber nicht in der Bildmitte. Wenn ich mit meinen Augen die Bildmitte suche, wandert mein Blick in die Weite, über grüne Natur, Berg und Tal bis zum Horizont und zum Himmel. Hier im Vordergrund jedoch gibt es eine klare Aufteilung: Auf der rechten Bildseite stehen mit Maria drei weitere Frauen; links von der Bildmitte hat der Maler Jesus Christus abgebildet.

Schauen Sie genau hin: Wie sehen die Frauen aus? Was verrät uns ihre Körperhaltung? Was tun sie? Welche der vier Frauen wären Sie?

Drei der vier Frauen tragen Gewänder, wie sie mittelalterliche Klosterfrauen trugen. Ihre Haare sind mit Tüchern bedeckt, ihr Blick ist getrübt. Die vierte Frau trägt ein weltliches Gewand und ein schmuckes Haarnetz, wie es im 16. Jahrhundert, der Entstehungszeit des Bildes, typisch für wohlhabende Standesfrauen war. Ihr Blick ist gesenkt, mit Hilfe eines weißen Stoffes scheint sie sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Die drei anderen – in der Darstellung des Malers vielleicht innerlich schon einen Schritt weiter – blicken Christus an. Zwar können wir bei genauer Bildbetrachtung auch weiche Tränen in ihren Gesichtern und Augenwinkeln erkennen, dennoch suchen sie den erwartungsvollen Blickkontakt zu dem, über dessen Fortgang sie so betrübt sind.

Dass vier Frauen auf dem Bild von Cranach abgebildet sind, von denen es heißt, sie seien seine Mutter und Verwandte, ist sicher kein Zufall. Die Zahl vier steht in der Zahlsymbolik für alles Weltliche: die vier Himmelsrichtungen, die vier Jahreszeiten, die vier Elemente – und auch die vier Buchstaben, aus denen die hebräische Bezeichnung für das Menschenwesen „Adam“ zusammengesetzt wird. Diese vier Frauen stehen also symbolisch für die ganze Menschheit. Sie sind umgeben vom Grün der Natur, ein weiteres Zeichen ihres irdischen Lebens. Gleichzeitig tönt die grüne Farbe um ihre Köpfe herum von der Hoffnung, die sie trägt.

Maria ist die Frau im Vordergrund. Sie hält ihre Hände ineinander gefaltet. Ihr Blick ist fest auf Christus gerichtet. Ich stelle mir vor, wie ihr Blick über seine Hände zu seinen Augen wandert. Ihr Gesichtsausdruck ist gleichsam traurig, erschrocken und staunend. Ihr Mund ist leicht geöffnet, als würde sich das Erschrecken in Staunen verwandeln.

Lassen Sie Ihren Blick auf die linke Bildhälfte wandern. Welche Farben trägt Christus? Wie hält er seine Hände? Versuchen Sie, diese Handhaltung einmal nachzuahmen. Was fällt Ihnen auf?

Der Mann auf der linken Bildhälfte des Cranach-Bildes ist größer als die vier Frauen. Sein Kopf mit dem ernsten, aber milden Blick ragt aus dem weltlichen Grün heraus, über den Horizont hinweg in den Himmel. Der Maler hat hier den irdischen Jesus und den himmlischen Christus zugleich dargestellt. Er trägt ein blaues Gewand; um seine Schultern ist ein rotes Tuch geschlungen, das sich vorne um seinen Körper legt. In der Symbolik des Mittelalters gilt Blau als himmlische Farbe. Blau steht für Treue und Vertrauen. Das Rot drückt auf der einen Seite Jesu Liebe und Hingabe aus. Gleichzeitig steht es für das bevorstehende Leiden. Beide Farben finden sich in der Bekleidung Marias wieder, wodurch ihre Verbundenheit zu Jesus ausgedrückt wird.

Seine Hände hält Jesus senkrecht erhoben und gewölbt. Wenn ich die Handhaltung einzunehmen versuche, entsteht ein Hohlraum zwischen meinen Hand-Innenflächen, und ich möchte diesen Hohlraum füllen. Ich stelle mir vor, wie Jesus im Bild seine Hände auf Maria zu bewegt und ihr Gesicht in die Hände nimmt. Ich stelle mir vor, wie seine Hände die betenden Hände seiner Mutter umfassen. Seine Handhaltung zeugt von Achtsamkeit, sie ist behutsam und bergend zugleich. Im Grunde, denke ich, würde ein Herz, so wie wir Herzen malen und darstellen, wunderbar zwischen seine Hände passen…

„Euer Herz erschrecke nicht!“ – heißt es in der Jahreslosung 2010. Ein Herz, das von Christus umfasst wird, muss keine Angst haben, es wird gehalten. Ein Herz? Es ist das ganze Innere des Menschen, das hier angesprochen ist. Es geht um das menschliche Selbstbewusstsein, sein Erkennen, Streben, Fühlen und Wollen.

Im Bild von Lucas Cranach ist die Wirkung der Worte Jesu bereits sichtbar geworden. Vom verzweifelten In-sich-gekehrt-sein erheben sich die Blicke der Frauen und richten sich auf Jesus. Maria nimmt sogar eine staunend-dankbare Haltung ein, so sehr scheint sie die Worte ihres Sohnes in all ihrer Traurigkeit zu verstehen und sich von seiner Gestik innerlich berühren zu lassen.

„Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!“ Eine Aufforderung und ein Trost zugleich. Ein Zuspruch, getragen zu sein, mutig – mit dem Herz in der Hand…

Fällt Ihnen ein Lied ein, das so tröstlich und zugleich mit einer auffordernden Lebenszuversicht ausgestattet ist wie unsere Jahreslosung? Vielleicht kommt Ihnen auch ein Gesangbuchlied in den Sinn, in dem es um das Herz geht? – Singen Sie es oder hören Sie auf seinen Text, während Ihre Augen das CranachBild betrachten. Tauschen Sie sich über Ihre Gedanken aus.

Vorgeschlagenes Lied:
Wer nur den lieben Gott lässt walten (EG 369,1.3.7)

Wer nur den lieben Gott lässt walten
Und hoffet auf ihn allezeit,
Den wird er wunderbar erhalten
In aller Not und Traurigkeit.
Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut,
Der hat auf keinen Sand gebaut.

Man halte nur ein wenig stille
Und sei doch in sich selbst vergnügt,
Wie unsers Gottes Gnadenwille,
Wie sein Allwissenheit es fügt,
Gott, der uns sich hat auserwählt,
Der weiß auch sehr wohl, was uns fehlt.

Sing, bet und geh auf Gottes Wegen,
verricht das Deine nur getreu
und trau des Himmels reichem Segen,
so wird er bei dir werden neu;
Denn welcher seine Zuversicht,
Auf Gott setzt, den verlässt er nicht.

T und M: Georg Neumark (1941) 1957

Gebet:

Komm, o Du glückselig Licht,
fülle Herz und Angesicht,
dring bis auf der Seele Grund.
Ohne Dein lebendig Weh’n
Kann im Menschen nichts besteh’n,
kann nichts heil sein noch gesund.
Was befleckt ist, wasche rein,
Dürrem gieße Leben ein,
heile Du, wo Krankheit quält.
Wärme Du, was kalt und hart,
löse, was in sich erstarrt,
lenke, was den Weg verfehlt.
Gib dem Volk, das Dir vertraut,
das auf Deine Hilfe baut,
Deine Gaben zum Geleit.
Lass es in der Zeit bestehn,
Deines Heils Vollendung sehn
Und der Freuden Ewigkeit.
Komm, Heiliger Geist,
erfülle die Herzen Deiner Gläubigen.
Amen

Sequenz Veni Sancte Spiritus, 2. Teil, Übertragung: Maria Luise Thurmair und Markus Jenny in: Evangelisches Frauenbrevier, Gütersloher Verlagshaus, S. 81.

Anja Bremer, Jg. 1974, ist Dipl. Religionspädagogin und Kirchenraumpädagogin. Sie arbeitet als Öffentlichkeitsreferentin in der Frauenarbeit der Evangelischen Landeskirche in Baden, gibt Kreativseminare und leitet Spirituelle Kirchenführungen. Sie ist Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw.

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