In der Begleitung von Menschen mit Demenz machen wir die schmerzliche Erfahrung, dass immer mehr verschwindet – letztlich geht viel vom Können verloren, die Kranken können immer weniger leisten, Intellektualität verschwindet. Das Leben reduziert sich fast auf pures Dasein. Wenn die Demenz auch ein fortschreitendes Abschiednehmen ist, so ist das, was verloren geht, nicht das, was uns Menschen im Tiefsten ausmacht. Wie auch immer wir das nennen: die Seele oder die Person, der unzerstörbare Kern im Menschen oder der Name, mit dem Gott uns Menschen ruft. Was uns zu Menschen macht, ist der Lebensodem, den Gott uns eingehaucht hat. Jeder Mensch bleibt Geschöpf Gottes, bleibt Gottes Ebenbild, auch im Ärgsten.
Wir können Spiritualität nicht machen. Aber wir können Raum schaffen, dass demente Menschen dieses Verlangen ausdrücken können. Ich erlebe, dass Gebete und Lieder, Berührungen und Segensworte, Abendmahl und Kerzen weiterhelfen können. Natürlich nur dann, wenn wir vorsichtig schauen, sensibel wahrnehmen, ob es dran ist oder nicht. Natürlich nur dann, wenn wir uns dessen bewusst sind, dass es nur „Hilfsmittel“ sind und keine Sicherheit, um so etwas wie Spiritualität erfahrbar zu machen. Es geht nicht um ein Programm, sondern um ein vorsichtiges Ausprobieren, ob es etwas zum Klingen bringt, ob es auf Resonanz stößt. Derzeit sind wir noch in der günstigen Lage, dass es überindividuelle Zeichen gibt, kollektives Liedgut zum Beispiel, Dinge, auf die wir als Schatz zurückgreifen können. In der spirituellen Begleitung geht es darum zu entdecken, was dem jeweiligen Menschen mit Demenz heilig ist.
Ich erinnere mich an eine demente Frau, die sich nur noch wenig über Worte zum Ausdruck bringen konnte und von einer starken Unruhe geplagt war. Sie hatte ihre Kindheit in einem Ort verbracht in der Nähe meines Wohnorts – und so habe ich in unseren Gesprächen den Namen dieses Ortes immer und immer wieder erwähnt und konnte förmlich sehen, wie sie dabei entspannter wurde und förmlich Boden unter den Füßen bekam. Bei manch einem werden die Lebensgeister durch die Natur geweckt – an einer Blume riechen, die Gardine aufziehen, so dass ein Sonnenstrahl ins Zimmer scheinen kann, der Geruch von frischem Holz oder Heu. Die sakramentale Handlung im Abendmahl ermöglicht eine Erfahrung jenseits vom Verstehen der Wörter. Ich habe erlebt, dass Menschen, die völlig verwirrt sind, die vielleicht kaum noch schlucken können oder hinschauen, beim gemeinsamen Abendmahl ganz dabei sind. Und ich behaupte, dass die Bedeutung des Abendmahls – das Festhalten daran, dass eine gute und gerechte Welt möglich ist, die Erfahrung von Gemeinschaft, das Erleben, dass Schuld vergeben wird, die Erfahrung, dass an Gottes Tisch die Spaltung dieser Welt ein Ende hat (auch die Spaltung in Kranke und Gesunde) – auch für Schwerstdemente noch sinnlich erfahrbar werden kann.
Spiritualität wird heutzutage oft vor allem als individuelle Erfahrung verstanden. Biblische Spiritualität beschreibt demgegenüber das Durchbrechen des Individuellen und das Hineingenommenwerden in Gottes Vision von dieser Erde. In der Bibel geht es um eine gemeinsame Praxis, darum, dass alle genug zu essen haben. Bezogen auf Menschen mit Demenz würde ich das so übersetzen: dass Umherirrende Geborgenheit erfahren und nach Hause finden.
Geertje-Froken Bolle
aus:
Spiritualität und Demenz
in:
Junge Kirche 3/2010
Diese Ausgabe der Jungen Kirche ist ein guter Einstieg in die Auseinandersetzung mit den zunehmenden Demenzerkrankungen; vgl. Anzeige Seite 30.
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