Ausgabe 2 / 2017 Andacht von Saskia Ulmer

Mit der Angst leben

Andacht gegen die Angst für Vertrauen und Verantwortung

Von Saskia Ulmer

Gestaltung der Mitte:

– Waage
-Steine mit Begriffen, die uns Angst machen:
Zum Beispiel: Endlichkeit, Sinnlosigkeit, Grenzenlosigkeit, fehlende Werte
– Für das Ende der Andacht bereit legen: Steine mit Begriffen gegen die Angst:
Zum Beispiel: Gottvertrauen, ­Gemeinschaft, Freundschaften, Hilfe leisten
Auf die Gegenseite der Waage legen;
– Botschaft: Gott und unsere Gemeinde trägt uns.

Lied:
Durch Hohes und Tiefes, Nr. 88: In Ängsten die einen …

„In Ängsten die einen und die anderen leben […] nicht schlecht“, so haben wir eben gemeinsam gesungen. Das Lied stellt diejenigen, denen es gut geht, den anderen, denen es schlecht geht, gegenüber. Viele Menschen leben in ­ihrer eigenen Angst, in Hunger und in Not gefangen. Dem gegenüber sind die anderen gestellt. Klar ist da für mich: Ich ordne mich denjenigen zu, denen es gut geht. Ich kann frei von existenziellen Ängsten leben. Es geht mir gut, ich lebe sicher, ich sollte frei von Angst ­leben können.

Aber so einfach ist es nicht. Viele Menschen leben auch bei uns mühsam, obwohl es uns objektiv betrachtet sehr gut geht. Wir machen uns Sorgen, haben Ängste: Angst vor Krankheiten, Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor der Endlichkeit unseres Leben und Angst vor Sinnlosigkeit. Das mögen objektiv betrachtet „Luxusängste“ sein, die klassischen Sorgen wohlhabender Menschen. Doch auch wenn die Angstursache unscheinbar scheint, die Einschränkungen durch die Ängste sind nicht geringer. Auch unsere „Luxusängste“ können hemmen und lähmen. Angst ist, was jede und jeder selbst empfindet.

Bisher konnten wir uns, von diesen Ängsten abgesehen, sicher fühlen, geborgen, nicht bedroht durch Hunger, Krieg und politische Konflikte.

Jetzt kommen Flüchtlinge zu uns. Kinder, Frauen und Männer, die Schreck­liches erlebt haben, leben in unserem Land, in unserer Stadt, in unserem Ort. Sie kommen aus Syrien, viele aus dem Nahen Osten und aus Afrika. Mit den geflüchteten Menschen unter uns sind die Probleme plötzlich sehr nah. Die Flüchtlinge beweisen, dass Staaten und Sicherheiten zerbrechlicher sind, als wir wahrhaben wollen. Plötzlich prägen weitere Ängste unseren Alltag: die Angst vor größenwahnsinnigen Staatsführern, Angst vor korrupten Politikern in Nachbarländern oder in Ländern, zu denen Deutschland eine enge Bindung und Abhängigkeit hat. Angst vor einer verrohenden Kultur, vor Verlust und vor Terror sind auf einmal real und nah.

Diese Ängste können gefangen halten. Sie schränken ein, machen zaghaft und schwach. Ängste entmutigen – was kann ich als Einzelne gegen so viele Probleme schon unternehmen? Man fängt bei einer Herausforderung an und schon tauchen fünf neue Probleme auf. Ängste können auch krankhaft werden. Von einer Angststörung betroffene Menschen sind tatsächlich ­Gefangene der eigenen Ängste. Die Angst kann verhindern, dass ich aus dem Haus gehe. Sie kann verhindern, dass ich mit anderen Menschen spreche. Sie kann verhindern, dass ich Neues ausprobiere, um aus meiner Routine auszubrechen. Egal, wie das jeweilige Gefängnis aussieht, Hilfe ist dringend notwendig.

Woher aber kommen diese Ängste, die sich bis zu Krankheiten ausweiten?
­Realistisch betrachtet leben wir hier in Deutschland in einem sicheren Land. Wer arbeitslos wird, erhält staatliche Hilfe. Wer krank wird, hat eine Versicherung. Wir leben in einem Land, in dem es sehr wenig Gewalt und Terror gibt. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen plagen uns keine existenziellen Ängste und Sorgen. Wenn Plan A nicht funktioniert, dann findet sich rasch ein Plan B. Finde ich in Deutschland keine Arbeit, dann gehe ich eben in einem anderen EU-Land arbeiten. Wir haben es gut, wir haben viele Freiheiten und noch viel mehr Wahlmöglichkeiten.

Genau in diesen Freiheiten und Wahl­optionen liegt häufig die Wurzel unserer Ängste. Unsere Gesellschaft ist sehr komplex, Grenzen fehlen an vielen Stellen. Flexibilität ist heute ein höheres Gut als Verlässlichkeit. Besonders in der Arbeitswelt ist es heute selbstverständlich, dass wir nicht mehr 40 Jahre im gleichen Beruf bleiben, sondern stetig unsere Kompetenzen erweitern und ­flexibel bleiben. Genauso sind auch Werte und Einstellungen beweglich. Wir sollen und müssen uns stetig weiterentwickeln, zugleich aber entwickelt sich unsere Umwelt rasant weiter. Diese grenzenlose Welt voller Möglichkeiten und Entscheidungen, die getroffen werden wollen, ängstigt uns. Was fehlt, ist ein sicherer Halt.

Dazu kommt, dass jetzt Menschen zu uns kommen, die der ständigen Bedrohung durch Terror und Gewaltherrschaft entflohen sind. Die Geflüchteten bringen schlimme Fluchterfahrungen mit. Sie mussten erleben, dass ihre Befürchtungen und Ängste zur Realität werden. Mit großen Hoffnungen kommen sie zu uns, in eine sichere Umgebung. Viele fühlen sich im Angesicht dieser Herausforderung selbst haltlos, verängstigt und voller Furcht gegenüber Neuem. Wie soll man denn in ­dieser unbeständigen Welt mit noch mehr Veränderung klar kommen?

Diese Angst wird von rechtspopulistischen Kreisen ausgenutzt. Auf politischer Ebene nutzen populistische Kreise geschickt für sich, dass uns unsere Welt so komplex geworden ist. Sie bieten – scheinbar – einfache Lösungen an. Es werden Parolen geliefert. Sie präsentieren sich als letzten Ausweg vor der Katastrophe. Das beste Beispiel liefert ein AfD-Wahlplakat, das als Überschrift hat:
„Masseneinwanderung – Kriminalität – Rentensicherheit“. Darunter steht: „Damit Deutschland nicht zerstört wird! Jetzt AfD wählen“.

Die Botschaft ist einfach, klar und deutlich. Der Rechtspopulismus verspricht, das Ruder herumzureißen, uns unsere Ängste zu nehmen. Angesprochen sind hier die Angst vor „den Fremden“ mit der Masseneinwanderung, die Angst vor der Kriminalität und die Zukunfts­angst – sind wir im Alter gut genug abgesichert? Das Versprechen lautet: Wählt uns, und wir sorgen dafür, dass es euch gut geht und diese Ängste der Vergangenheit angehören. Hintergründe werden nicht erklärt, komplexe ­Zusammenhänge werden ignoriert. Diese Simplifizierung kommt an in unserer konfusen Welt. Rechtspopulisten werden zwar nie konkret, wie sie die Probleme lösen werden, aber vielen Wählenden genügt es, dass sie selbst die Verantwortung weiterreichen dürfen. Schließlich gibt es in unserem ei­genen Leben schon zu viele Bereiche, in denen wir Verantwortung tragen müssen. Um die globalen politischen Angelegenheiten sollten wir uns als Einzelpersonen nicht auch noch kümmern müssen.

Dabei ist es genau diese Verantwortung, die wir als Christinnen und Christen haben. Wie es im Liedtext heißt: Uns geht es gut, aber andere leben in Hunger und Angst. Genau da haben wir soziale Verantwortung. Diese Verantwortung speist sich auch aus dem Gebot der christlichen Nächstenliebe. Nächstenliebe, die unter uns Menschen für mehr Gerechtigkeit sorgen soll. In Jesaja 41,10 heißt es: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott; ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ Gott fordert also dazu auf, mit seiner Hilfe für mehr Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen und unsere Ängste zu überwinden. Wir sind aufgefordert, uns nicht zu fürchten.

Diese Forderung kann auch manchmal zu viel sein, aber wenn wir uns darauf einlassen, uns trauen und Mut fassen, dann wachsen wir an unseren Aufgaben. Frauen gehen mit der Angst anders um als Männer. Sie gehen Dinge trotz der Angst davor an. Sehr beeindruckte mich da die Geschichte einer Bekannten. Sie erzählte von ihrem Engagement in der Flüchtlingshilfe. Für sie war klar: Ich muss etwas machen, da möchte ich helfen. Es war aber auch klar, dass Flüchtlingshilfe erstmal bedeutete, vor allem zu vielen Männern zu gehen. Neben der Angst vor Männern, insbesondere Männern in großen Gruppen, plagte sie sich mit der Angst vor der Fremdheit. Da prallen zwei ­Kulturen aufeinander, die „fremden“ Männer würden sie als Frau vielleicht gar nicht respektieren und was war, wenn sie sich in den Augen der Männer ungehörig oder zu sexy anzog?

Ich bewundere sie sehr dafür, dass sie trotz all dieser Ängste und Sorgen hinging. Die Belohnung für diesen Mut war großartig. Mit leuchtenden Augen erzählte sie, wie gut die ersten Begegnungen gelaufen sind, wie herzlich doch die Menschen seien und so dankbar, weil sie ihnen Offenheit statt Misstrauen entgegenbrachte. Die Ängste erwiesen sich als unbegründet, die Freude über die netten jungen Männer war riesig. Am Ende also erlebte sie statt Furcht vor allem bereichernde Begegnungen.

Dem Vorbild dieser Frau möchte ich selbst folgen. Fremd und angsteinflößend ist zumeist das, was wir nicht kennen. Wenn wir aber aufeinander zu­gehen und einander begegnen, dann lernen wir uns kennen und sind uns nicht mehr fremd. Vielleicht hilft das Kennenlernen sogar, eigene Ängste zu relativieren. Wir können lernen, dass die fremde Person keineswegs angstein­flößend ist. Außerdem verblassen vielleicht eigene Ängste und Sorgen in Anbetracht dessen, was die Flüchtlinge, die „Fremden“ erleben mussten. Wieder die richtige Sicht auf unsere Herausforderungen bekommen kann helfen, unsere Ängste leichter zu (er)tragen. Wie es im 2. Thimotheus 1,7 steht: „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“. Danach sollen Gottes Menschen handeln. Wir können mit Gottes Hilfe den „Geist der Furcht“ überwinden.

Wir finden im Glauben Halt. Bei Gott bin ich auch mit meinen Ängsten willkommen. In der Angst vor alltäglichen Herausforderungen dürfen wir auf die Zusagen der Bibel vertrauen. Viele ­Frauen spüren das besonders in Andachten, Gottesdiensten, Gemeinschaften und beim gemeinsamen Liedersingen. Das Miteinander der Christinnen und Christen gibt Zuversicht. Gottes Zusage hilft gegen die Angst: Ich darf loslassen, es gibt eine größere Dimension als meine. Auch Mütter und Väter des Glaubens haben wie ich mit ihren Ängsten gelebt. Wie sie darf ich meine Hoffnung und Zuversicht in Gott wurzeln lassen. Wir sind aufgefordert: „Alle eure Sorge werfet auf ihn; denn er sorgt für euch!“ (1. Petrus 5,7). Amen.

Fürbitten:
Gott, wir bitten Dich: hilf uns, mit unseren Ängsten zu leben und immer wieder den Mut zu haben, die Angst zu überwinden. Lass uns in der Gemeinschaft mit anderen Frauen Stärke und Mut schöpfen. Gemeinsam können wir uns gegenseitig Halt geben.

Wir bitten Dich: gib uns den Mut, Fremdem gegenüber aufgeschlossen zu sein. Lass uns Neues als Chance begreifen, als Herausforderung und nicht als Problem. Lass uns mit Frauen aller Glaubens- und Kulturrichtungen ins Gespräch kommen und gib, dass wir uns gegenseitig verstehen.

Wir bitten Dich: Lass uns immer wieder den Blick auf andere Teile der Erde richten. Aus der Ferne erscheint manches Problem kleiner. Hilf du, dass wir auch andere Perspektiven einnehmen und unser Leben mit all unseren Ängsten einmal mit den Blicken anderer betrachten. Weite Du unseren Blick, so dass wir auch von den Erfahrungen, die andere Menschen machen, profitieren können.
Gott, wir bitten Dich: Sei du bei allen Kindern, Frauen und Männern, die unter Krieg, Hunger, Armut und Krankheit leiden. Sei du bei allen traumatisierten Menschen. Sei du auch bei allen Menschen, die psychisch krank sind. Sei bei jenen, denen die Angst das Leben eng und klein gemacht hat. Schenke Ihnen und uns Weite und neue Zuversicht.
Amen.

Saskia Ulmer ist Politikwissenschaftlerin, sie arbeitet bei den Ev. Frauen in Württemberg zu den Themen Frauenverbandsarbeit / Frauenpolitik.

Gebete

Wohin gehe ich?
Nachrichten bestimmen meinen Tag,
unentrinnbar ist die Flut aus ­Schrecken und Chaos.
Schlagzeilen geschrieben ohne Glaube und Liebe.
Meldungen gemacht ohne ­Hoffnung,
zu viele Bilder gesendet ohne ­Bedeutung.

Wenn mir die Orientierung fehlt
in dieser Welt,
zeigst Du mir einen Sinn des
Ganzen.
Unter allen Medien bist Du die
Botschaft,
unter allen Möglichkeiten bist Du das Ziel.
Gott hilf mir, zur Sprache zu ­bringen,
was deine Nachricht ist.

Kathrin Jütte, in: Margot Kässmann (Hrsg.):
In Gottes Hand gehalten. Frauengebete.
Herder Verlag 2016. © bei der Autorin


Geboren, um die Herrlichkeit Gottes zu verwirklichen
Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind.
Unsere tiefste Angst ist, dass wir unermesslich machtvoll sind.
Es ist unser Licht, das wir fürchten, nicht unsere Dunkelheit.

Wir fragen uns: „Wer bin ich denn eigentlich,
dass ich leuchtend, hinreißend, begnadet sein darf?“
Wer bist du eigentlich, um dies nicht zu sein?
Du bist ein Kind Gottes.
Wenn du dich klein machst, dient das nicht der Welt.

Es hat nichts mit Erleuchtung zu tun,
wenn du dich klein machst, nur damit andere
sich in deiner Nähe nicht verunsichert fühlen.

Wir sind geboren, um die Herrlichkeit Gottes zu verwirklichen,
die in uns ist.
Sie ist nicht in einigen von uns, sie ist in jedem Menschen.

Und wenn wir unser Licht erstrahlen lassen,
geben wir unbewusst anderen die Erlaubnis, dasselbe zu tun.
Wenn wir uns von unseren eigenen Ängsten befreit haben,
wird unsere Anwesenheit ohne unser Zutun andere befreien.

Marianne Williamson, Rückkehr zur Liebe. Harmonie, Lebenssinn und Glück durch
„Ein Kurs in Wundern“ © Arkana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Übersetzung: Susanne Kahn-Ackermann


Gebet

Mutlosigkeit überdauern
Mutlos bin ich
bis auf den Grund,
meiner selbst
nicht mehr gewiss.
Gott, meine Bergung,
umhülle mich
mit Deinem Licht.
Durchdringe
Die Dunkelwolken
Meiner Urangst.
Hauche Deinen Atem
in alles Verstörte
und Gelähmte.
Birg mich
in deiner Zärtlichkeit,
dass ich mir
bewohnbar bin.
Stärke
Das erschöpfte Vertrauen.

Antje Sabine Naegeli, in: Antje Sabine Naegeli: Umarme mich, damit ich weitergehen kann. Gebete des Vertrauens. © Verlag Herder GmbH, 2013

Segen

Gott segne dich,
dass sich jeden Tag deine Sehnsucht nach Leben erfüllt
und du deine Kraft als Tochter Gottes spürst.
Gott segne dich,
dass du getrost jedem neuen Tag entgegensehen kannst
weil Gott dich und alle seine Menschen nicht alleine lässt.
Gott segne dich
und finde Raum in dir und deinem Leben
und durch dich in der Welt.
Geh so gesegnet deinen Weg.
Amen

Eva Bachteler © bei der Autorin

Liedvorschläge
– EG, Regionalteil Württemberg: 574, Nada te turbe – Nichts soll dich ängsten
– EG, Regionalteil Württemberg: 629, Fürchte dich nicht

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