Alle Ausgaben / 2015 Frauen in Bewegung von Antje Schrupp

Mit der Trauer weiterleben

Ayten Adalilar im Porträt

Von Antje Schrupp

Rhabdomyosarkom. Ein merkwürdiges Wort. Ich höre es vom Aufnahmegerät zunächst falsch und tippe „Raptomiosarkom“ bei Google ein. Das Internet weiß aber, was gemeint ist.

Ein „Rhabdomyosarkom“, sagt Wikipedia, ist „ein hoch bösartiger Weichteil­tumor, der aus entarteten Zellen der Skelettmuskulatur herrührt“. Er kommt fast nur bei Kindern vor, Erwachsene sind so gut wie nie betroffen. Praktisch nie überlebt jemand diese Krankheit. Auch Gökhan Tatchouop, der Sohn von Ayten Adalilar, hat sie nicht überlebt. Die schreckliche Diagnose kam 1997, da war er 14 Jahre alt. Zwei Jahre später, mit 16, ist Gökhan gestorben. Noch heute bricht die Mutter in Tränen aus, wenn sie davon erzählt. Kann man überhaupt jemals über so eine Tragödie hinweggetröstet werden?

„Den Verlust eines Kindes kann man nicht vergessen“, sagt Adalilar. „Da ist ein Feuer in mir drin, manchmal brennt es sehr stark, manchmal zieht es sich zurück. Aber dann gibt es wieder Tage, da habe ich nachts von ihm geträumt oder es kommt plötzlich eine Erinnerung hoch, oder es ist sein Geburtstag oder Muttertag oder das Datum seines ersten Schultags, und dann ist alles wieder da. Ich weiß noch alles: wie er zum ersten Mal beim Friseur war, wie ihm der erste Zahn ausgefallen ist. Eine Mutter vergisst das nicht.“ Anfangs hat es sie getröstet, an der Frankfurter Uniklinik mit Eltern zusammenzukommen, die in einer ähnlichen Situation sind. Im Verein „Hilfe für krebskranke Kinder“ gibt es eine Trauergruppe für verwaiste Mütter und Väter, die sich regelmäßig trifft. „Da habe ich ganz tolle Frauen kennen gelernt“, erzählt Adalilar, „aber auf die Dauer hat es mich auch belastet. Ich habe das alles immer mit nach Hause genommen.“ Eine Frau dort habe häufig davon erzählt, dass sie ihre Tochter immer im Treppenhaus sieht. „Und dann habe ich mir auch eingebildet, ich würde meinen Sohn sehen. Weil ich mir das so sehr gewünscht habe.“ Auch mit einer Therapie hat die heute 57-jährige versucht, über ihre Trauer hinwegzukommen, mit durchwachsenem Erfolg. „Natürlich hat meine Trauer im Lauf der Zeit einen anderen Weg gefunden, ich habe zum Beispiel nicht mehr dauernd geheult. Aber meine Therapeutin meint, dass ich noch nicht Abschied von meinem Sohn genommen habe.“

Anderen helfen hilft

Statt Abschied zu nehmen und die Sache „hinter sich zu lassen“, hat Ayten Adalilar sich für einen anderen Weg entschieden. Seit acht Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich in der türkischen Untergruppe des Vereins „Hilfe für krebskranke Kinder“. Dabei geht es nicht nur um seelischen Beistand, sondern um ganz praktische Unterstützung. An der Frankfurter Uniklinik werden viele krebs­kranke Kinder aus dem Ausland behandelt, und besonders viele aus der Türkei. Diese Familien brauchen vor allem Hilfen im Alltag: Übersetzungen, Wohnungssuche, Spenden. „Oft haben sie alles in ihr Kind investiert, und für sie selbst oder auch die anderen Geschwister bleibt nichts übrig“, sagt Adalilar. „Deshalb sammeln wir Geld, zum Beispiel für Geburtstagsgeschenke oder Heimflüge.“ Einmal im Monat gibt es ein gemeinsames Essen, zu dem dreißig bis fünfzig Leute kommen, einmal im Jahr ein Sommerfest, da kommen Hunderte.

Anderen helfen zu können, die etwas ähnlich Schlimmes durchleben, empfindet Aytar Adalilar selbst als tröstlich. Auch wenn sie bei der Erinnerung an den Tod anderer Kinder manchmal ebenso in Tränen ausbricht, wie bei der Erinnerung an den Tod ihres eigenen Kindes. Sie erzählt von einem 16-jährigen Mädchen aus der Türkei, das dieselben Symptome hatte wie Gökhan damals. „Als sie gestorben ist, sah ich, wie hilflos ihre Mutter war, und ich konnte zu ihr hingehen und mit ihr weinen und sagen: Unsere Kinder sind jetzt im Himmel, du wirst es auch schaffen.“ Sie erinnerte sich nämlich gut daran, wie es bei ihr selbst gewesen war: „Als mein Sohn krank war, dachte ich, dass ich ohne ihn nicht leben kann. Ich habe ihm das regelrecht versprochen, ich sagte immer zu ihm: Bitte geh nicht weg, ich kann ohne dich nicht leben.“ Aber dann – lebte sie eben doch weiter. Und dieses Wissen konnte sie der anderen Mutter weitergeben: „Ich konnte zu ihr hingehen und die Frau festhalten und ihr sagen: Du schaffst es, ich habe es geschafft, du schaffst es auch. Und wenn sie dann fragte: Ja, wirklich?, konnte ich nicken und mit ihr weinen.“ Natürlich zieht ein solches Engagement sie auch manchmal runter. Aber das Wissen, anderen zu helfen, bedeutet auch, der Sinnlosigkeit des Todes im Leben noch etwas Sinnvolles abzuringen. Sicher, es stimmt: Dass sie immer wieder mit krebskranken Kindern und ihren Eltern zusammen ist, dass sie regelmäßig in die Räume der Kinderstation kommt, die Ärzte sieht, die Nebenwirkungen von Therapien erläutert, den Chemogeruch einatmet, „all diese Erinnerungen, sie in- und auswendig kennen“, verhindern das Vergessen. „Aber trotzdem“, sagt Ayten Adalilar.

Sie ist nicht die einzige, die die Auffassung in Frage stellt, es sei nötig, Vergangenes loszulassen und die Trauer zu überwinden. „Beim Loslassen handelt es sich um alltagspsychologisch auf ein Wort zugespitzte Erkenntnisse, die auf einem Ansatz innerhalb der Trauer- und Sterbeforschung fußen“, schreibt der Autor und Theologe Georg Magirius in seinem Buch „Schmetterlingstango“, das er nach dem Verlust seiner tot geborenen Tochter Juliane geschrieben hat. Nach dieser verbreiteten Auffassung handelt es sich beim Trauern um einen Prozess, den man in mehreren Phasen durchwandern muss: Nichtwahrhaben-Wollen, Leugnen, eine Phase der Wut und des Suchens und schließlich der Zustand, in dem man den Verlust akzeptiert – und sich dann sozusagen wieder reibungslos in die Gesellschaft in­tegriert. „Nicht loslassen zu können“, schreibt Magirius, „ist dann das Bild für eine Störung in diesem Prozess, etwa für das Verharren in der Phase des Nichtwahrhaben-Wollens. Man weigert sich, inneren Frieden zu finden und das Leben neu anzupacken. Stattdessen befindet sich der Trauerprozess-Verweigerer im Stau, weil er das geliebte, aber doch nachweislich vergangene Leben nicht lassen will. Er hält die Finger krampfartig am Alten fest. Wer dagegen loszulassen lernt, sich also – um das Bild weiter auszumalen – vom Beckenrand abstößt, dem kann es gelingen, wieder frei zu schwimmen.“ Doch genau diese Aussicht finden verwaiste Eltern wie Magirus und Adalilar nicht unbedingt tröstlich und erstrebenswert. „Es ist eher wie ‚vor Christus' und ‚nach Christus'“, versucht Adalilar es mit einem anderen Bild. „Es gibt ein Leben davor und ein Leben danach, ein Leben vor der Krankheit und ein Leben nach der Krankheit. Die Trauer ist keine Phase, die irgendwann vorbeigeht, das bleibt für das ganze Leben. Es wird nie so sein, als hätte es das nicht gegeben.“ Deshalb schämt sie sich auch nicht dafür, Depressionen zu haben, und freut sich, wenn sie vor allem bei anderen Frauen Verständnis findet. „Nur einmal ist es mir passiert, dass eine mich dauernd fragte, warum ich denn immer noch depressiv bin. Das hat mich sehr verletzt.“

Weinen hilft und reden – und beten

Auf jeden Fall gibt es beim Trauern und Trösten Phasen. „Anfangs hat mir das Weinen sehr gut getan“, erinnert sich Ayten Adalilar. „Ich habe aus der Seele heraus tief geweint. Ich bin auch viel auf den Friedhof gegangen, ich habe viel geredet, auch mit meinem Sohn.“ Was sie bis heute nicht kann, das ist, ­Videos von Gökhan anschauen. „Das ist wie ein Tabu für mich, ich habe Angst, ich würde das nicht überleben.“ Auch anderen verwaisten Eltern rät sie das: Nicht dauernd Bilder anzuschauen, zumindest nicht ganz am Anfang. „Aber mit Freunden reden, das hat mir sehr geholfen und besser getan als meine Therapie. Ganz viel von ihm zu erzählen, was er gemacht hat, was er gesagt hat. Essen zu kochen, das er gemocht hat und andere dazu einzuladen, die dann auch ihre Kinder mitbringen.“ Ist es nicht belastend, andere glückliche Eltern zu sehen, deren Kinder noch ­leben? Wird man dann nicht neidisch? „Nein, überhaupt nicht“, ruft Ayten Adalilar aus, „ganz und gar nicht! Es hat mir sehr viel Freude gemacht, gerade auch in der ersten Zeit, die Kinder meiner Freundinnen zu sehen, Kinder um mich zu haben.“

Was ihr außerdem noch geholfen hat: Beten. „Der Glaube hilft unheimlich viel“, sagt Adalilar. „Ich hab viel im Koran gelesen, über den Tod und das Leben nach dem Tod, was uns dann erwartet, über das Paradies, über Märtyrer. Zu ­lesen, dass man nach einer langen, schweren Krankheit als Märtyrer stirbt, hat mich getröstet.“ Aber hilft Beten nicht nur denen, die ohnehin schon religiös sind, die einen engen Bezug zur Religion haben? „So einen großen Bezug zur Religion habe ich gar nicht“, sagt sie, „ich glaube einfach an Gott.“ Sie hat auch nicht nur im Koran gelesen, sondern genauso in der Bibel und überhaupt alle möglichen Texte, die von Tod und Sterben handelten. „Besonders tröstlich fand ich das Sprichwort, dass die Seelen immer verbunden bleiben. Dass die Toten nur auf eine andere Seite wechseln, wo man sie nicht sehen kann, aber immer fühlen. Das ist doch tröstlich: zu wissen, dass der Tod nicht das Ende ist.“ Auch mit buddhistischen Eltern kommt Adalilar bei ihrem Engagement an der Uniklinik manchmal zusammen. „Sie glauben an Reinkarnation und sagen dann: Unser Kind ist zwar gestorben, aber jetzt wird es irgendwo auf der Welt wiedergeboren und ist glücklich. Das klingt für mich aber nicht so realistisch, das kann ich mir nicht vorstellen.“ Aber wenn es tröstet? Einen Sinn im Schrecklichen zu finden, das ist ohnehin nicht nur Sache von Religionen, denn jede Weltanschauung muss sich dem Problem der Endlichkeit der Menschen stellen. „Ich habe im Verein eine Freundin, die ist Atheistin“, erzählt Adalilar, „und sie sagt immer: Das ist halt so, das Leben ist wie eine Wurst, es hat einen Anfang und ein Ende. Das ist ja auch irgendwie eine tröstliche Idee. Diese Freundin nimmt ihr Schicksal ebenfalls mit Würde, und sie ist wirklich stark, wenn sie diese ehrenamtliche ­Arbeit macht und anderen Kindern hilft. Obwohl sie nicht gläubig ist.“

Geht es also vielleicht gar nicht darum, die Trauer zu überwinden, sondern darum, trotz Trauer gut zu leben? Einen Modus zu finden, wie die Trauer im eigenen Leben einen Platz haben kann? „Selbst wenn ich loslasse, und ich wollte es schon oft, kommt es nicht wirklich zum Abschied“, schreibt Georg Magirius in seinem Buch. „Vielleicht übertreiben wir mit unserer Trauer?, fragen sich viele Eltern von Kindern, die nicht mehr leben. So frage ich mich auch. Und indem ich auf diese Weise frage, fühle ich mich wie in einer falschen Haut. Und ich überlege weiter: Soll ich in eine andere Haut schlüpfen, indem ich das Vergangene einfach gehen lasse? Also gut, ­beschließe ich erneut: Ich lasse meine Tochter gehen! Sie allerdings scheint auf eigenwillig andere Weise sehr leben­dig zu sein, denn immer kommt sie zurück, ohne dass ich das Gefühl habe, dass sie mich damit am Leben hindern wolle. Denn gerade sie gibt mir oft die Sicherheit, in der einzig richtigen Haut zu sein, nämlich in meiner: Wenn ich traurig und unruhig bin, rufe ich mir ihr Bild vor Augen: Augenblicklich werde ich ruhig.“

Es klingt verrückt, aber genau dieses Gefühl der Ruhe spürt man auch im Gespräch mit Ayten Adalilar, und sogar besonders in jenen Momenten, wo sie ganz und gar nicht ruhig ist, sondern höchst emotional. „Tut mir leid, ich bin eine Heulsuse“, sagt sie bei einem ihrer Tränenausbrüche, und so, wie sie das sagt, klingt es selbstbewusst und souverän und ich denke ganz automatisch: Ja, warum denn auch nicht? Vielleicht ist das das Wichtigste beim Trostfinden: Sich nicht an abstrakten Normen davon, „wie es richtig wäre“, zu orientieren, sondern den eigenen Gefühlen und Intuitionen zu vertrauen. Also die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es so, wie man es macht, vielleicht ganz einfach okay ist.

Dr. Antje Schrupp ist Journalistin und Politikwissenschaftlerin. Sie ist viel in sozialen Netzwerken im Internet unterwegs und bloggt unter antjeschrupp.com über Feminismus und Politik. – mehr unter www.anjeschrupp.de

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