Ausgabe 2 / 2010 Artikel von Christiane Bastian

Mit dieser Schuld zu leben

Seelsorge im Frauengefängnis

Von Christiane Bastian

Fünf Prozent aller straffällig gewordenen Menschen in Deutschland sind Frauen. Daher sind meist den Haftanstalten für Männer Abteilungen für Frauen angegliedert und gibt es nur fünf selbständige Haftanstalten für Frauen. Eine davon befindet sich in Hessen, in Frankfurt-Preungesheim.

Hier sitzen zurzeit etwa 300 Frauen ein, alle Haftarten werden vollzogen. Das heißt: Wir begegnen Frauen in Untersuchungshaft ebenso wie Frauen, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Andere „warten“ auf die drohende Abschiebung – einige werden wiederkommen, andere wissen nicht, ob sie „zuhause“ überleben werden. Jugendliche Straftäterinnen bewohnen ein eigenes Haus, ebenso Mütter mit Kindern bis zu drei Jahren. Gut 50 Prozent der Frauen sind Ausländerinnen, sie kommen aus über 40 Nationen.

Sie alle sind auf einem Gelände hinter hohen grauen Betonmauern untergebracht, die mit doppeltem Stacheldraht gekrönt sind. Die Gebäude stammen teilweise noch aus dem 19. Jh., die übrigen wurden Ende des vergangenen Jahrhunderts gebaut, hinzu kommen kürzlich errichtete Containerbauten. Alle Frauen befinden sich im geschlossenen Vollzug. Dann gehören zum Frauengefängnis – außerhalb der Betonmauern, aber auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt – noch zwei Abteilungen des offenen Vollzugs. In einer davon sind Mütter mit ihren Kindern bis zu sechs Jahren untergebracht, hier befindet sich auch der anstaltseigene Kindergarten.

Alltag hinter Mauern

Der Alltag läuft hinter den Mauern in unspektakulärer Eintönigkeit ab. Alles wird überwacht und kontrolliert, vieles ist reglementiert oder verboten. Die Zelle ist in der Regel acht Quadratmeter groß und muss oft mit einer anderen geteilt werden. Sie ist unveränderbar eingerichtet, jederzeit durch einen Türspion von außen einsehbar, die Zellenfenster sind vergittert. Die Anzahl der persönlichen Gegenstände, die die Gefangene in der Zelle haben darf, ist ebenso festgelegt wie das, was sie überhaupt haben darf. Mindestens einmal pro Woche ist „Zellencheck“ durch eine/n Vollzugsbedienstete/n. Die aus- und eingehende Post wird von der Sozialarbeiterin gelesen, Telefonate können jederzeit mitgehört werden, Handys und Computer sind verboten.

Die Gefangenen werden zu allen Veranstaltungen und Orten geführt – zur Arbeit, zur Freistunde in den Hof, zu Sportkursen, sonntags zum Gottesdienst oder zum Besuch. Kein Schritt ist unüberwacht. Die Hafthäuser sind in Stockwerke und Stationen unterteilt, jeweils durch Gitter- oder Glastüren voneinander getrennt. Es ist nicht möglich, Frauen in anderen Stockwerken oder Häusern zu besuchen. Auf einer Station befinden sich acht Zellen, ein Aufenthaltsraum mit Gemeinschaftsfernseher, eine Küchenzeile mit Essbereich, zwei Duschen und ein Wirtschaftsraum mit Waschmaschine und Trockner. Diesen „Lebensraum“ teilen sich bis zu 14, im Altbau 30 Frauen. Unter der Woche werden die Zellen um 20.15 Uhr verschlossen, an den Wochenenden schon um 17.45 Uhr, wenn zu wenig Bedienstete vor Ort sind, beginnt der Nachtverschluss noch früher. Frauen, die keine Arbeit haben, sind auch tagsüber für weitere Stunden eingeschlossen. Auch wir Seelsorgerinnen haben einen Schlüssel, schließen Türen auf und zu, holen Gefangene aus ihren Zellen und bringen sie zurück.

Seelsorge für Täterinnen

In Preungesheim arbeiten zurzeit zwei evangelische Pfarrerinnen und eine katholische Seelsorgerin. Wir halten im Wechsel sonntags Gottesdienst, führen seelsorgliche Einzelgespräche und bieten thematische Gruppen an. Wir haben Schweigepflicht, die unverbrüchlich gilt – ein hohes Gut in einer totalen Institution, die von Misstrauen, Kontrolle und Sanktion geprägt ist. Wer zu uns kommt, tut dies freiwillig. Wir lesen in der Regel keine Akten, sondern warten ab, was die Einzelne uns erzählen mag. Wenn Vertrauen gewachsen ist, nähern wir uns behutsam dem, was zur Tat geführt hat. Keine Frau im Gefängnis hat nicht irgendwann in ihrem Leben Gewalt erfahren, am Leib und/oder an ihrer Seele. Sie waren Opfer und sind zu Täterinnen geworden – einige haben dabei auch Gewalt ausgeübt.

Wichtig ist, dass Tat und Täterin zwei verschiedene Größen sind, dass die Frau nicht mit der Tat gleichgesetzt wird. Leider verschwimmt diese Unterscheidung in Gesprächen über die Frauen immer wieder, heißt es in Vollzugskonferenzen dann „die Betrügerin“, „die Mörderin“ und nicht Frau X oder Y. Auch die Frauen selbst sprechen so voneinander, meist, um sich von einer bestimmten Deliktgruppe abzugrenzen – am deutlichsten, wenn es um Frauen geht, die ihre Kinder misshandelt oder getötet haben. Am härtesten urteilen dabei die Frauen, deren eigene Kinder das Jugendamt in Obhut genommen und in einer Pflegefamilie oder einem Heim untergebracht hat.

Überwiegend aber respektieren die Gefangenen einander. Sie helfen sich gegenseitig, trösten, wenn schlechte Nachrichten von draußen eintreffen, sprechen miteinander. Oft heißt es: Wir alle haben etwas gemacht, was nicht in Ordnung ist, keine ist besser als die andere. Natürlich gibt es in diesen Zwangs-Wohngemeinschaften auch „Zickenkrieg“. Solche Auseinandersetzungen haben aber nichts mit den Taten der Protagonistinnen zu tun, sondern eher mit Neid, Eifersüchteleien und unterschiedlichen Vorstellungen von Sauberkeit und Ordnung. Auch kulturell bedingt unterschiedliche Gewohnheiten prallen hier häufig aufeinander und führen zu Konflikten.

Die meisten Frauen, die ins Gefängnis müssen, schämen sich dafür und fühlen sich schuldig ihren Familien, vor allem den Kindern gegenüber. Oft bricht durch die Inhaftierung das soziale Gefüge zusammen, und die Sorge um das, was draußen gerade passiert, erschwert drinnen die Auseinandersetzung mit der Tat – die aber für eine günstige Sozialprognose verlangt wird. Manuela formuliert dies während der U-Haft so:
„Mit der Strafe, die mich erwartet, kann ich umgehen. Ich bin schuld, ich habe es verursacht. Das viel größere Problem für mich ist mein Kind! Ihn im Stich gelassen zu haben, ist die viel größere Last, die mich erdrückt. Es ist schier unerträglich, der Gedanke, was mein Kind jetzt durchlebt und erleidet ohne Mama. Mit dieser Schuld zu leben, das ist das schwerste Leid, das ich in meinem bewegten Leben erfahren musste. Eine Last, die auf mir liegt und untragbar erscheint.“ Zum Glück ist die kleine Familie nicht an der Haft zerbrochen, Vater und Sohn kommen so oft wie möglich zu Besuch, und die Mutter konnte zur Einschulung des Kindes gehen. Sie hat sich mit sich, ihrem bisherigen Leben und dem, was zur ihrer Straftat führte, intensiv auseinandergesetzt. So kann sie heute sagen: „Ich habe Frieden gefunden, indem ich die auferlegte Strafe akzeptiere, an mir selbst arbeite und den Blickwinkel verändere.“

Die meisten Frauen sind wegen eines sogenannten Bagatelldeliktes verurteilt, haben gestohlen, betrogen, mit illegalen Drogen gehandelt, Schulden nicht gezahlt. Nur eine Minderheit sitzt wegen eines Kapitaldeliktes ein, also wegen Mordes oder Totschlags. Stetig wächst die Zahl der Frauen, die zu einer Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt werden. Weil sie immer wieder Schulden nicht begleichen oder Geldstrafen nicht bezahlen, werden sie zum Ersatz dafür inhaftiert. Das Gericht legt einen Tagessatz fest, der „abzusitzen“ ist und der von 5 Euro aufwärts gehen kann – während ein Haft-Tag 90 Euro kostet!

Drogenabhängige Frauen kommen häufig wieder. Sie begehen Straftaten, um die täglichen Drogen zu finanzieren. Petra schreibt über sich: „Ich als Täterin. Warum? Sehr schwierig zu beschreiben. Schwere Kindheit, Heim, dann vielleicht falsches Umfeld, soll aber keine Entschuldigung sein. Später Drogensucht und Finanzierung. Warum tut man einige Sachen? Um zu überleben, seine Sucht zu finanzieren. Sicherlich nicht richtig. Da ich keine so lange Strafe habe, kann ich vielleicht manches besser machen. Aber ich möchte kein besserer Mensch werden, sondern vielleicht nur einiges anders machen, wenn ich die Chance dazu haben werde.“

Das Gefängnis hat noch keine von der Sucht geheilt, es unterbricht lediglich den hektischen und mühevollen Kreislauf von Beschaffung und Konsum der Drogen. Gleichwohl hofft jede, dass es doch einen Ausweg gibt, dieser Knastaufenthalt wirklich der letzte war. Einigen gelingt dies mit Hilfe einer Drogentherapie, andere bleiben ihr Leben lang dabei – und schon manches Mal haben wir als letzte seelsorgliche Aufgabe die Trauerfeier gestaltet.

Frauen, die wegen Betrugs einsitzen, sprechen selten offen über ihr Delikt und wenn, dann in verworrenen Einzelheiten. Die Seelsorgerin ist versucht, in der Akte nachzulesen, wie es „wirklich“ gewesen sein könnte. Aber ist das wichtig? Keine wird als Lügnerin und Betrügerin geboren. Es muss auch im Laufe dieses Lebens etwas geschehen sein, was sie so hat werden lassen. Um mit einer Supervisorin zu sprechen: Irgendwann, vielleicht früh, ist dieser Mensch betrogen worden. Um den Schmerz aushalten zu können, baut er ein Gebäude aus Lug und Trug um sich und andere.

Manchmal werfen Brüche im Leben eine so aus der Bahn, dass sie in einen Strudel von Kaufen und Nichtbezahlen gerät, aus dem es kein Auftauchen zu geben scheint. Sie macht die Augen zu, öffnet die Post nicht mehr, spricht mit niemandem über ihre Not. Regina erzählt: „Ich war 18 Jahre glücklich verheiratet und habe drei Kinder. Von heut auf morgen war alles vorbei, Ehe kaputt, Geschäft weg, ich war am Boden zerstört. Bin dadurch straffällig geworden und habe drei Jahre Haft bekommen, was sehr schlimm für mich ist. Andererseits sehe ich es auch als neue Chance, mein Leben auf die Reihe zu bekommen. Die Haft selbst ist das Härteste, was ich jemals in meinem Leben durchmachen musste. Gleichzeitig entwickle ich eine wahnsinnige Stärke, das alles zu überstehen. Ich habe in dieser Zeit sehr viel über mich selbst gelernt.“

Frauen, die töten, sind Beziehungstäterinnen, keine Wiederholungstäterinnen. Werden sie wegen Mordes verurteilt, heißt das fast immer: lebenslänglich. Sie verbringen also mindestens 15 Jahre im Gefängnis, die meiste Zeit im geschlossenen Vollzug. Wir begleiten alle, die es wünschen, durch die Höhen und Tiefen dieser langen Zeit. Einige von Anfang an, andere wollen erst später Kontakt zur Seelsorgerin. Es ist schwer, zu dem zu stehen, was da geschehen ist: Ein Mensch lebt nicht mehr und ich bin dafür verantwortlich. In den seelsorglichen Gesprächen stehen hier die Fragen nach Schuld und Vergebung im Vordergrund. In einigen Fällen haben wir die Täterin an das Grab des Opfers begleitet – bewegende Momente, die auch Versöhnliches in sich tragen.

Ich arbeite seit 18 Jahren in der Frauenhaftanstalt und bin in dieser Zeit wunderbaren Frauen begegnet, von denen ich viel gelernt, mit denen ich gelacht und geweint habe, deren Lebensgeschichten oft zutiefst erschütternd sind und die dennoch versucht haben, die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht zu verlieren. In der Begegnung mit ihren Schattenseiten bin ich meinen eigenen Schatten begegnet. Ich bin dankbar, dass ich in Freiheit leben kann.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit

ca. 1,5 Stunden

Material

Flipchart oder Wandtafel, dicke Stifte, Kreppband, Papierstreifen, Papier, Zollstock, die beweglichen Teile der Zelle (Stuhl, Regal etc.) in Originalgröße aus Papier oder Pappe schneiden; Texte von Frauen aus dem Gefängnis (oben im Beitrag kursiv gesetzt); Texte, Zellengrundriss etc. für AbonnentInnen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet

Ablauf

– kurze Einführung in das Thema; dabei auch fragen, ob es Erfahrungen mit Gefängnis in den Familien oder der Umgebung gibt – oder woher sonst Vorstellungen über das Leben in der Zelle stammen
– zur Veranschaulichung Umrisse (Zollstock) einer 8-qm-Gefängniszelle mit einem Kreppband auf den Boden kleben, dann ebenso die Umrisse der nicht beweglichen Teile (Toilette, Waschbecken etc.) markieren; die ausgeschnittenen Teile (Stuhl etc.) dazulegen
– Eindrücke über diesen Raum miteinander teilen; Hinweis: In den alten Zellen sind die Fenster so weit oben, das frau auf einen Stuhl steigen muss, um rauszugucken.
– Einladung, eine „Straßenklatsch-Gruppe“ zu sein, die sich dazu äußert, warum Frauen im Gefängnis sind; Leiterin schreibt Genanntes auf Papierstreifen und legt sie in die „Zelle“ (Idee aus ahzw 1-2006, S. 80); evtl. aus dem Beitrag oben nicht genannte Aspekte ergänzen
– Texte von Frauen aus dem Gefängnis werden von 2 TN aus verschiedenen Ecken des Raums vorgelesen; die Frauen bitten, in die Ecke zu gehen, deren Text sie am meisten angesprochen, aufgeregt oder nachdenklich gemacht hat; in Dreiergruppen Austausch über den jeweiligen Text.
– Wer möchte, bringt in die anschließende Plenumsrunde ein, was ihr wichtig ist. Die Leiterin betont abschließend, wie wichtig es ist zu beachten, dass Tat und Täterin zwei verschiedene Größen sind und dass die Frau nicht mit der Tat gleichzusetzen ist.
– Abschluss: Segen

Falls die Gruppe Frauen im Gefängnis helfen möchte: Adressen von Gefängnispfarrerinnen in Frauengefängnissen sind über die jeweiligen Landeskirchen zu erhalten. Unter www.ahzw.de / Service / Material zur Ausgabe 2-2010 kann ein Bericht des Stadtverbandes der Ev. Frauenhilfe in Frankfurt (Main) über die langjährige Zusammenarbeit mit der JVA Preungesheim heruntergeladen werden.

Christiane Bastian, geb. 1955, ist Pfarrerin der Ev. Kirche in Hessen und Nassau. Sie arbeitet seit 1991 im Gefängnis, in den letzten sechs Jahren schwerpunktmäßig in der Seelsorge an den Angehörigen inhaftierter Frauen.

Am Vorschlag für die Arbeit in der Gruppe hat
Gisela Egler, Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw, mitgearbeitet.

Zum Weiterlesen

Schwerpunktthema „Frauen in Haft“, in: rheinweiber Nr. 22 (Juni 2009)
Christiane Bastian, Karin Greifenstein: „…angenommen mit all dem Schrecklichen, was ich getan und was ich erlebt habe“, in: Magdalene L. Frettlöh: Wie? Auch wir vergeben unseren Schuldigern? Mit Schuld leben lernen, Gütersloh 2004
Dies. (Hgg.): Du stellst meine Füße auf weiten Raum – „Expressionen“ aus dem Frauenknast / Bezug: Ev. Seelsorge an der JVA III,Obere Kreuzäckerstr. 4, 60435 Frankfurt
Erika Müller: Eismütter? Eine Annäherung an Frauen, die ihre Kinder getötet haben, in: ahzw 1-2006, Mutterbilder im Wandel

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