Ausgabe 2 / 2010 Artikel von Simone Kluge

Mit Farbe zurück ins Leben

Kunstpädagogik mit inhaftierten Frauen

Von Simone Kluge


Wie schaffen es Menschen, trotz Mangel und Härte oder anderer Widrigkeiten psychosozial gesund zu bleiben? Und warum rutschen andere ab, werden straffällig, kriminell?

Das Potenzial dazu steckt in jeder von uns. Wer wäre nicht schon einmal an die eigenen Grenzen gestoßen? Hätte nicht schon Mordgedanken gehegt, die unbändige Lust verspürt, jemandem zu schaden, sich einfach zu nehmen, was man braucht?

Zwei der bekanntesten Frauen, die ihr Leben mithilfe von Kunst gemeistert haben, sind Niki de Saint Phalle und Frida Kahlo. Mit dem Leben dieser Künstlerinnen haben sich in der Justizvollzugsanstalt Hildesheim inhaftierte Frauen beschäftigt. In der praktischen Auseinandersetzung mit ihren Werken haben sie neue Perspektiven für sich selbst gewinnen können. Ein Blick auf das Leben von Niki de Saint Phalle und Frida Kahlo lässt ahnen, warum diese beiden für ein kunstpädagogisches Projekt mit inhaftierten Frauen hoch „geeignet“ sind.

Niki de Saint Phalle wird am 29. Oktober 1930 in Frankreich geboren, wächst aber hauptsächlich in den USA auf. Zu den prägenden Erfahrungen ihrer Kindheit gehört der Missbrauch durch ihren Vater einerseits, die Reserviertheit ihres adeligen Elternhauses und eine prüde und moralistische Erziehung andererseits – von 1936 bis 1945 besucht sie die Klosterschule Sacré-Cœur in New York. Nach einem psychischen Zusammenbruch und Einweisung in eine psychiatrische Klinik beginnt sie zu malen, 1953 entstehen ihre ersten Gemälde. Sie beginnt, autobiographische Gegenstände auf ihre Bilder zu montieren und diese für Schießaktionen freizugeben, in denen sich die Farbe wie Blut über die Bilder ergießt und Neues hervorbringt. Später schafft sie begehbare Großplastiken und die berühmten Nanas, überlebensgroße bunte Figuren mit prallen weiblichen Formen – lebensfroh und lebensbejahend. Wie keine andere hat sie Kunst als Eigentherapie genutzt, um sich aus Depressionen und Suizidgefährdung zu befreien und ein selbst bestimmtes Leben zu führen. Künstlerisch entwickelt sie sich ständig weiter, erschafft sich und ihre Kunst immer wieder neu. Am 21. Mai 2002 stirbt Niki de Saint Phalle mit 71 Jahren in San Diego/Kalifornien. Die Malerin und Bildhauerin gehört zu den bedeutendsten Vertreterinnen des „Neuen Realismus“.

Frida Kahlo, mit vollem Namen Magdalena del Carmen Frieda Kahlo y -Calderón, wird am 6. Juli 1907 in Coyoacán, Mexiko-Stadt, geboren. Das unbeschwerte Leben der Deutschmexikanerin findet mit 17 Jahren ein jähes Ende. Im September 1925 wird sie bei einem Busunglück schwer verletzt, eine Stahlstange durchbohrt ihr Becken. Von da an muss sie ihren Alltag immer wieder liegend und in einem Ganzkörpergips beziehungsweise Stahlkorsett verbringen. Der Unfall nimmt ihr die Gesundheit, die Freunde, den Traum auf ein eigenes Kind, auf Reisen nach Europa, doch nicht ihren unbändigen Lebenswillen. An das Bett gefesselt beginnt sie zu malen, und wenn es ihr Gesundheitszustand zulässt, stürzt sie sich in das gesellschaftliche Leben.

In ihren Bildern macht Frida Kahlo ihre Leiden und Gefühle sichtbar, indem sie ihr Körperinneres nach außen kehrt, zum Beispiel ihre gebrochene Wirbelsäule oder ihren geschundenen und blutbespritzten Körper malt. Ihr Gesicht ist stets wie eine Maske erstarrt, ihr Körper erscheint oft nackt und verletzt – wie ihre Gefühle. Ihr Markenzeichen sind die zusammengewachsenen Augenbrauen, die sich wie Vogelschwingen über ihr Gesicht erheben. In ihren Bildern arbeitet sie ihr Leiden an ihrer chronischen Krankheit auf, aber auch ihre Eheprobleme. 55 ihrer 143 Bilder sind Selbstbildnisse. Andere Bilder zeugen von ihrer großen Liebe zur mexikanischen Heimat, deren Tier- und Pflanzenwelt sie in leuchtenden Farben auf die Leinwand bannt. Am 13. Juli 1954 stirbt Frida Kahlo mit 53 Jahren in ihrer Heimatstadt. Die mexikanische Malerin zählt zu den bedeutendsten Vertreterinnen einer volkstümlichen Entfaltung des Surrealismus.

Inhaftierte Frauen begegnen Niki de Saint Phalle und Frida Kahlo

Die Abteilung Hildesheim der Justizvollzugsanstalt Vechta bietet den dort inhaftierten Frauen regelmäßig kunstpädagogische Projekte an, deren Ergebnisse auch in der Öffentlichkeit präsentiert werden.(1) In einem Interview erläutert Oliver Weßels, der Leiter der JVA Vechta, das Projekt.

Simone Kluge: In Hildesheim werden Frauen ab 18 Jahren inhaftiert, die ihren Lebensmittelpunkt im südlichen bzw. südöstlichen Bereich Niedersachsens haben. In der Regel haben die Frauen keine langen Haftstrafen zu verbüßen, die Delikte reichen von Fahren ohne Führerschein bis zu Eigentumsdelikten im Bereich Betrug und Diebstahl. Etwa 50 Prozent der inhaftierten Frauen hatten bereits vor ihrer Inhaftierung Suchtprobleme. Für diese Frauen bieten Sie regelmäßig kunstpädagogische Projekte an, deren Ergebnisse auch in der Öffentlichkeit präsentiert werden. Können Sie uns etwas mehr über diese ungewöhnliche Idee erzählen?

Oliver Weßels: Unter der Überschrift „Jede Frau ist eine Lebenskünstlerin“ haben wir im Jahre 2007 verstärkt mit unseren kunstpädagogischen Projekten begonnen. Da lautete das Motto „Bunt, stark und lebensfroh“ – Ein Jahr mit Niki de Saint Phalle. Und 2008 stand unter dem Motto „Jede Frau ist eine Lebenskünstlerin“ – Der Wille zu Leben – ein Jahr mit Frida Kahlo. Wir haben uns bewusst für diese beiden Künstlerinnen entschieden, die trotz schwerer Schicksalsschläge ihren Lebensmut nicht verloren hatten und ihrem Leben einen weiteren Sinn gaben. Die Biografie vieler unserer inhaftierten Frauen ist gekennzeichnet von Missbrauch und Unterdrückung. Bevor sie selber Täterinnen wurden, waren sie häufig Opfer. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass es vielen dieser Frauen an Selbstwertgefühl und Selbstachtung fehlt. Die Auseinandersetzung mit den Werken der vorgenannten Künstlerinnen – durch Diskussion wie insbesondere durch aktives künstlerisches Gestalten – korrespondiert dabei in besonderer Weise mit der Lebensgeschichte von Niki de Saint Phalle und Frida Kahlo. In diesem Sinne verstehen wir Kunst als Eigentherapie, in der über die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk der Künstlerinnen ein konkreter Zusammenhang mit dem eigenen Leben hergestellt wird. Die Arbeit in einer Gruppe mit gemeinsamer Zielsetzung und die Anleitung zur Auseinandersetzung mit eigenen künstlerischen Potenzialen und Fähigkeiten ermöglicht es den inhaftierten Frauen, auch auf vielen anderen Gebieten weitere eigene Fähigkeiten und Potenziale zu erkennen, zu entwickeln um positiv von ihnen Gebrauch zu machen, insbesondere im psychosozialen Bereich. Kurzum: Es geht darum, dass die inhaftierten Frauen erkennen, welches Potenzial in ihnen steckt und ihnen darüber auch ein positives Selbstwertgefühl zu vermitteln.

Können Sie an einem Beispiel deutlich machen, welche Prozesse diese Arbeit angestoßen hat?

Mir ist besonders eine inhaftierte Frau in Erinnerung, die aufgrund ihrer überaus problembeladenen Biografie (Missbrauch, Abhängigkeiten) keiner vollzuglichen Intervention zugänglich war. Durch die Teilnahme an den Workshops öffnete sie sich soweit, dass sie auch einer therapeutischen Einzelintervention zugänglich wurde. Innerhalb der zwei Jahre, die sie an den Workshops teilgenommen hat, und begleitet durch die psychotherapeutische Intervention hat sich das Verhalten dieser Frau dermaßen positiv entwickelt, dass der Strafrest schließlich zur Bewährung ausgesetzt werden konnte. In vielen Fällen war die Teilnahme an den Workshops bei den inhaftierten Frauen der Einstieg in die Umorientierung ihres Lebens. Nicht wenige Frauen haben so zum Beispiel so viel Zutrauen zu ihrer Leistungsfähigkeit gefunden, dass sie Aus- und Fortbildungsangebote im beruflichen und schulischen Bereich angenommen haben. Und schließlich hat das Kunstprojekt sich insofern auch für uns positiv ausgewirkt, als die Workshops unter Anleitung externer Künstlerinnen und Künstler unsere Arbeit deutlich erleichtert und inhaltlich bereichert haben.

Worauf ist Ihrer Ansicht nach besonders zu achten, wenn kunstpädagogische oder therapeutische Maßnahmen eingesetzt werden? Wo sehen Sie die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen?

Die kunstpädagogischen Projekte sind sicherlich ein eher niederschwelliges therapeutisches Angebot. Grundsätzlich würde ich daher allenfalls als Ausschließungsgrund sehen, dass Teilnehmerinnen nicht in der Lage sind, an gemeinschaftlichen Arbeiten teilzunehmen. In der Regel kann davon ausgegangen werden, dass es zu Störungen kommt, weil einzelne Teilnehmerinnen durch auffallendes negatives Verhalten ihre eigene Unsicherheit überspielen wollen. Durch Einzelarbeiten im Rahmen der kunstpädagogischen und kunsttherapeutischen Maßnahmen können die Teilnehmerinnen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickeln und so darauf vorbereitet werden, auch an gemeinschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Weßels, und für Ihre Arbeit weiterhin viel Erfolg! Möge es Ihnen weiter gelingen, die Frauen zu stärken und ihnen Wege aufzuzeigen, damit sie es schaffen, aus den Kreisläufen von Gewalt auszusteigen und sich auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich ganz besonders bei allen inhaftierten Frauen für ihr Engagement zu bedanken, ebenso aber auch bei allen haupt- und nebenamtlichen Bediensteten der JVA/Abteilung Hildesheim für ihr Engagement bei der Umsetzung unserer Projekte – namentlich bei Andrea Marsal, die die Projekte maßgeblich initiierte, sowie bei Sandra Heim und Mandy Bluhm, die den eingeschlagenen Weg gemeinsam mit den Bediensteten der Abteilung Hildesheim fortführen werden.


Für die Arbeit in der Gruppe


Ziel

Die Lebensbilder der beiden Künstlerinnen Niki de Saint Phalle und Frida Kahlo können dazu anregen, auch die eigene Biographie in den Blick zu nehmen, sich an eigene kritische Lebenssituationen zu erinnern und sich eigener Problemlösungsstrategien bewusst zu werden. Am Beispiel der kunstpädagogischen Arbeit in der JVA Hildesheim lernen die Frauen Kunst als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel kennen. Es soll erfahrbar werden, welche Überwindung es kosten kann, sich auf diese Form der Selbsterfahrung einzulassen. Das eigene künstlerische Gestalten kann innere Prozesse deutlich machen, die durch das künstlerische Arbeiten und dessen Präsentation angestoßen werden.


Material

Kopien des Interviews, ein großes Tuch, um einen Stuhl zu verkleiden; Bilder, die in der JVA Hildesheim entstanden sind; weißes DIN A4-Papier in der Anzahl der Teilnehmerinnen und bunte Stifte, Tusche o.ä.
Kopiervorlagen für die Bilder sind für AbonnentInnen unter www.ahzw.de/Service zum Herunterladen vorbereitet.


Zeit

1,5-2 Stunden


Ablauf

Kurzvorstellung Niki de Saint Phalle und Frida Kahlo

Das Leben fordert manchmal mehr von uns als wir verkraften können. Es gibt Menschen, die uns zusetzen. Es gibt Strukturen, die uns den Raum zum Atem nehmen. Es gibt schreiende Ungerechtigkeiten, Erfahrungen von Krankheit, Tod, Missgunst, Habgier, Macht und Ohnmacht. Bei Niki de Saint Phalle war es die Missbrauchserfahrung durch ihren eigenen Vater, das Gefühl der Ohnmacht und die Sprachlosigkeit innerhalb der eigenen Familie. Bei Frida Kahlo der schwere Unfall und seine Folgen. Erinnert Sie das an einschneidende Erfahrungen Ihres Lebens?

Austausch in Zweiergruppen


Die beiden vorgestellten Künstlerinnen versuchen, ihrem Schmerz und ihrer Aggression in ihrem künstlerischen Schaffen Ausdruck zu verleihen und sich so von belastenden Erfahrungen zu befreien. Andere ihrer Werke zeugen von unbändigem Lebenswillen und sprühender Energie.

Wo lassen Sie Ihren Schmerz? Ihre Wut? Schlucken Sie sie hinunter? Wenden Sie sie gegen sich selbst und andere? Was hilft Ihnen? Und wie geben Sie Ihrem Lebenswillen und Ihrer Lebensfreude Ausdruck?

Austausch in Murmelgruppen

„Zurück ins Leben? In welches Leben denn?“ Das mag sich manche Frau fragen, deren bisheriger Lebensweg im Gefängnis ein vorläufiges Ende gefunden hat. Oft steht die Verhaftung in einer Reihe von Stationen des Abstiegs. Vielen der inhaftierten Frauen fehlt es an Selbstwertgefühl und Selbstachtung, manchen auch an Lebensmut. Oliver Weßels berichtet, wie inhaftierte Frauen der JVA Hildesheim über kunstpädagogische Workshops erreicht werden können.

Interview S. 73-75 vorlesen

Klingt ja super! denken Sie jetzt vielleicht. Bei so einem Projekt hätte ich auch gerne mitgemacht – ein tolles Angebot. Bei den inhaftierten Frauen selbst war die Begeisterung zunächst gar nicht so groß. Eine Frau mit dem Künstlernamen Ulla de Saint Phalle berichtet: „Am Anfang wollte ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht mitmachen, weil es nicht mein Ding ist und ich nicht malen kann.“ Sakineh de Saint Phalle erklärt: „Mittlerweile bin ich bei dem Workshop gerne dabei, auch wenn ich anfangs eher aus dem Grund teilnahm, um länger draußen zu sein.“

Wie erklären Sie sich diese Zurückhaltung? (spontane Reaktionen abwarten)

Wir wollen die widerstrebenden inneren Stimmen einmal deutlich machen. Dazu möchte ich eine Frau bitten, sich auf diesen frei stehenden Stuhl zu setzen (vorher mit dem Tuch verkleiden). Um sie herum stellen sich sechs Frauen auf, die die inneren Stimmen verkörpern und aussprechen, was ihnen durch den Kopf geht…

Impuls der Leiterin: „Du sitzt in Haft. In deinem Leben hast du bereits mehrfach erfahren müssen, dass Menschen dich enttäuschen. Oft hast du das Gefühl, dich wehren und verteidigen zu müssen. Nun lebst du hier eingepfercht. Du weißt nicht so recht, was du von den anderen halten sollst. Du hältst dich bedeckt, zeigst möglichst wenig von dir. Nun hörst du davon, dass ein Kunst-Workshop angeboten wird, zu irgend so einer Künstlerin, „Saint Phalle“ oder so. Was geht dir dazu durch den Kopf?“

Wortmeldungen der „inneren Stimmen“

Vielleicht kennen Sie das auch, diese zögernden und zweifelnden Stimmen, wenn es gilt, sich auf etwas Neues und Unbekanntes einzulassen?

Austausch im Plenum

Kreativ zu sein, ist ungemein belebend und bereichernd – und doch oft mit Ängsten besetzt: Worauf lasse ich mich da ein? Kann ich das überhaupt? Was kommt da auf mich zu? Was tritt womöglich dabei zutage? Will ich mich so zeigen?

Ich möchte Ihnen „Nanas“ zeigen, die in der JVA Hildesheim entstanden sind. Lassen Sie sie auf sich wirken: Welches Bild, welche Form, welche Farbe spricht Sie besonders an?

Präsentation der Nanas

Nehmen Sie sich jetzt Farben und ein Blatt und wählen einen Ort im Raum. Lassen Sie Ihre eigene Nana auf dem Papier entstehen. Dabei können Sie sich von den Formen und Linien zur Farbe leiten lassen.

Malaktion / Einzelarbeit

Zeigen Sie sich mit Ihrem Bild. Wer mag, kann äußern, wie es ihr mit dem Malauftrag gegangen ist. Ist es Ihnen schwer gefallen, sich darauf einzulassen? Wie ist es für Sie, sich jetzt mit Ihrem Werk zu präsentieren?

Präsentation der Ergebnisse

Abschlussrunde: Was ist Ihnen durch die eigene Erfahrung mit der Kunst deutlich geworden? Über sich selbst, aber auch im Hinblick auf die kunstpädagogische Arbeit mit den inhaftierten Frauen?


Simone Kluge ist Pädagogisch-theologische Mitarbeiterin der Ev. Frauenhilfe Landesverband Braunschweig e.V. und Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw.


Anmerkungen:

1 Einige der Bilder sind im Materialteil S. 35-50 und S. 74, 75 zu sehen; vgl. Hinweis im Editorial.

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