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Mit Herz dabei sein

Wie wachsen Begeisterung und gesellschaftliches Engagement?

Von Nicole Zunhammer

Wie wachsen Begeisterung und gesellschaftliches Engagement? Auf diese Frage will ich mit meinem Artikel antworten. Was für eine Ansage! Zum ersten: Begeisterung. Zum zweiten: Engagement. Auf den ersten Blick eine ganz schön anspruchsvolle Anforderung, die in dieser Frage steckt. Andererseits: Ist uns die Kraft dafür, diese Geistkraft nicht schon lange, grundsätzlich, gegeben? Ist es vielleicht „nur“ eine Frage des Vertrauens, des Wieder-Entdeckens?

In diesem Beitrag möchte ich mich schrittweise mit Ihnen dieser Frage nähern: Indem wir aus verschiedenen Perspektiven betrachten, was Begeisterung bedeutet, reflektieren wir und entfalten Optionen, um schließlich eine gute Entscheidung zu treffen für das „Was“. Was wird gebraucht? Was brauchen wir?

Perspektiven: Begeisterung! Begeisterung?
Woran denken Sie, wenn Sie „Begeisterung“ hören? Bevor Sie weiterlesen: Welche Erinnerungen tauchen auf? Erlebnisse, Aktivitäten, Bilder, Gerüche … Welche Gefühle?
Wenn Sie mögen, notieren Sie sich die allerersten, unsortierten Assoziationen zur späteren Vertiefung.1
Wie wir den Begriff „Begeisterung“ erleben, hängt stark von unserer Perspektive ab.
Pur rational betrachtet ist Begeisterung der Ausdruck, der mit Hochstimmung und Tatendrang in Verbindung gebracht wird. Der Duden beschreibt Begeisterung mit „Zustand freudiger Erregung, leidenschaftlichen Eifers; von freudig erregter Zustimmung, leidenschaftlicher Anteilnahme getragener Tatendrang; Hochstimmung, Enthusiasmus“.

Emotional betrachtet gibt Begeisterung Gefühle wieder, die stark vom eigenen Zustand geprägt sind, von der aktuellen Situation, in der wir uns befinden oder befunden haben, und der Aussicht auf nächste Momente, Gefühle und Geschehnisse. Begeisterung entsteht während einer künstlerischen Aufführung, einer Musikdarbietung oder einer Theatervorstellung, die uns bewegt und mitreißt; Begeisterung entsteht beim gemeinsamen Gestalten und Erleben einer Veranstaltung, in der wir uns mittendrin und als bedeutenden Teil erfahren, organisatorisch, darstellerisch, verantwortlich: die Vorbereitung des Nikolausbesuches in der Gemeinde, ein Ausflug der Austauschschülerinnen und -schüler oder eine Demonstration.
Psychologisch bietet Begeisterung die Verbindung zu den Temperamenten und zu den Persönlichkeitsstrukturen. Ist Ihnen Begeisterung vertraut? Eher selbstverständlich? Sind Sie selbst begeisterungsfähig, ansteckend, begeistern andere? Oder sind Sie eher zurückhaltend, spüren Begeisterung mehr als innere Freude? Begeisterung wird eher den extrovertierten Menschen zugeordnet, die ihre Gefühle stärker äußern als andere. Wie äußert sich Begeisterung bei Ihnen?2

Emotionen: Gebündelt in Zielen und Aktivitäten
Wir können uns der Begeisterung auch aus den Perspektiven „Horizonte“ und „Zeitleiste“ nähern. Mit „Horizonte“ ist der Radius des Handlungsfeldes gemeint, das mit der Begeisterung ausgelöst wird: Das Handlungsfeld für mich als Individuum, für mich und andere, oder für mich in einer Gesellschaft. Plane ich voller Begeisterung eine Überraschung für meine Nachbarin? Organisiere ich voller Begeisterung ein gemeinsames Fest mit anderen, im Sportverein, im Kinderhort? Gestalte ich einen Teil einer gemeinsamen gesellschaftlichen Aktion, beispielsweise meine Präsentation für ein Projekt oder ein Plakat für die Integrationsmöglichkeiten von Flüchtlingen in unserem Viertel?
Wenn Sie Ihre eigenen Aktivitäten betrachten, zeigt sich, dass die Trennschärfe für die Horizonte verschwimmt. Auch ein individueller Antrieb hat seine Wirkung bis in die Gesellschaft hinein, und eine gemeinsame Aktion hat enorme, über das Resultat weit hinausgehende innere und äußere Folgen. Ich denke dabei an die Aktion „Kauft keine Früchte der Apartheit“, eine Boykott-Kampagne, die die evangelischen Kirchenfrauen vor 40 Jahren mit großem Durchhaltevermögen und großer Solidarität gegen Widerstände in den eigenen (Kirchen- und Familien-)Reihen durchgeführt haben. Für viele war es damals der erste Schritt aus der Familie in die Öffentlichkeit hinein, in die Politik, die erste Demonstration vor Supermärkten, in Stadthallen … und dann: diese Publizität, dieser Erfolg! Die Aktionen zeigten enorme Konsequenzen: vom schlechten Image der beteiligten Unternehmen über Argumentations­nöte von Regierungsvertretern bis hin zur Abschaffung der Apartheid-Gesetze zwi­schen 1990 und 1994.3
Die mit der Aktion einher gehenden Erfahrungen basieren auf Emotionen: Solidarität, Selbstwert-Gefühl, Aufgehoben-Sein, Gerechtigkeits- und Gemeinschaftssinn … und auf Visionen. Die Boykott-Aktionen fanden in den Jahren 1975 und folgende statt. Mittlerweile gehören Aktionen mit politischen Konsequenzen zu Themen wie Energiewende, Nahrungsmittel, Kinderbetreuung und andere durchaus zum Repertoire von Kirchenfrauen. Emotionen, gebündelt in gemeinsamen Zielen und Aktivitäten, formen eine starke Basis für das aktuelle und zukünftige Miteinander.

Perspektivwechsel: Wofür haben Sie sich als Mädchen begeistert?
„Zukunft“ als Stichwort: Mit „Zeitleiste“ betrachten wir die Begeisterung noch einmal aus einer anderen Perspektive, nämlich aus der Perspektive unseres Alters. Wofür haben wir uns als Mädchen begeistert? Vielleicht für Pferde und Reiten, für Bücher, für Orte? Wie war das als Teenager: Begeisterung für eine bestimmte Musikgruppe, für das Jugendcamp, für Vorbilder? Wofür begeistern Sie sich jetzt, als Erwachsene: für eine Sportart, für ein Land, für verbindende Rituale? Und schließlich Begeisterung im Alter: für die Projekte, die junge Leute entwickeln und die Ältere – Sie vielleicht? – mit ihrer Erfahrung unterstützen, für die Entwicklung der eigenen (Enkel-) Kinder, für die Wunder der Natur, für individuelle Errungenschaften, Liebhabereien …
Begeisterung ist je nach Alter unterschiedlich in ihrem Erscheinungsbild. Weil der sprichwörtliche jugendliche Enthusiasmus die Möglichkeit des Scheiterns in sich trägt, ist den Älteren die innere Gemütsruhe und Balance vertrauter als den Jüngeren. Wieder lohnt es sich, innezuhalten, Zeit für einen Augenblick Reflexion: Wofür haben Sie sich begeistert, als Sie ein kleines Mädchen waren? Was hat Sie begeistert mit 15? Was mit 30? Und jetzt?
Zu den eigenen Ressourcen finden bedeutet oft innehalten, manchmal die ursprünglichen Kraftquellen ausgraben und wieder-entdecken, und sich neu anstecken lassen, von damals, von jetzt, von etwas Neuem, von anderen. Begeisterung braucht Schwung, Energie, Fokus – eine Richtung, und mit Herz dabei sein.
Welche Richtung findet unsere Begeisterung im Sinne des „Wo wird sie gebraucht?“ Darüber wird diskutiert, in den Zeitungen, in Schülerforen, im Internet. Das steckt an. Trotz vieler düsterer Nachrichten und Entwicklungen gibt es Zuversicht: „Rebellion oder Resignation“ war vor kurzem der Untertitel eines Interviews, das als Generationengespräch geführt wurde.4 Diskutiert wurde unter anderem darüber, ob man besser die Gesellschaft oder sich selbst verändern sollte.
Dass das kein Entweder-Oder ist, das wissen Frauen schon lange.

Für die Arbeit in der Gruppe

Generationenaustausch
„Begeisterungs-Fundus“

Vorbereitung:
Jede Teilnehmerin wird eingeladen, Erinnerungen mitzubringen (in Gedanken oder notiert).

Material
Ein bis drei Dokumente aus der Geschichte der Frauen in der Gemeinde illustrieren den Fundus historisch und zeigen: Dafür haben sich Frauen in unserer Gemeinde begeistert und engagiert.
Tee, Karten, Stifte, Tesa-Krepp zum Kleben der Karten an Türe oder Metawand, Musik, Liedblatt, Zitat.

Ablauf
Ziel des Begeisterungsfundus ist es, im gemeinsamen Austausch Energien zu spüren, sich gegenseitig mitzuteilen, was früher und heute Begeisterung erzeugt, und was als Aktion mit Herz in­dividuell und gemeinsam (wieder-) entdeckt wird. Dies dient der gemein­samen Stärkung und führt möglicherweise zu einer gemeinsamen Aktivität.

Austausch: Frauen stehen im Doppel-Kreis: ein Innenkreis und ein Außenkreis, einander zugewandt (Kugellager). Eine Minute lang sprechen jeweils eine innere mit einer äußeren Teilnehmerin.

Erste Runde: „Als junges Mädchen hat mich … begeistert, gerne erinnere ich mich an [“ Auf ein Zeichen hin rouliert der Außenkreis um eine Teilnehmerin wei­ter; nächstes Gespräch. Der Austausch geht über in „Als Teenager begeisterte ich mich für …, das hat mir die Energie gegeben, … zu tun“. Der roulierende Kreis findet solange statt, bis entweder die Ausgangsposition wieder erreicht ist oder die Energie abebbt.
(5–10 Minuten, je nach Anzahl der Teilnehmerinnen.)

Erste spontane Sammlung:
„Gemeinsamkeiten und Unterschiede“ in der Steh-Runde (2–3 Min.)

Persönliche Inspiration:
Was hat mich persönlich begeistert? ­Individuell Karten schreiben
(im Sitzen; Anzahl der Karten abhängig von Teilnehmerinnenzahl, 5 Min.)

Sammlung: Karten werden auf einer Metaplan-Wand (Tür) gesammelt / gelesen. (5 Min.)

Kleingruppen-Austausch:
1. Welche Emotionen stecken in den Inspirationen?
2. Was bewirken sie?
(15 Min.)

Plenum: Die Gruppen berichten kurz über die Emotionen und deren Wirkung (15 Min.)

Pause für Tee und Kekse, 15 Min.

Brainstorming: Wo ist diese Wirkung hilfreich, wer profitiert von dieser Wirkung? (10 Min.)

Einteilung in „Horizonte“:
individuell/ gesellschaftlich.
Optionen: Wo sind wir bereits aktiv, wo möchte ich, möchten wir aktiv werden? Wie? (20 Min.)

Abschlussrunde:
kurzes Statement, jede äußert sich „Meine Mitgift heute … (Erlebnis) und was ich mir vorstellen könnte … (Vision)“.

Gemeinsames Lied, zum Beispiel „Wenn eine alleine träumt …“ oder Zitat von Christian Morgenstern: „… glaube mir, daß eine Stunde der Begeisterung mehr gilt, als ein Jahr gleichmäßig und einförmig dahinziehenden Lebens. Die Ruhe ist Dein Feind, sie ist mein Feind, ist der aller Menschen – ich meine die Ruhe der untätigen Behaglichkeit: Ohne Streben kein Erfolg, ohne Feuer kein Brand!“ – Christian Morgenstern in ­einem Brief an Friedrich Kayssler vom 16.12.1889

Nicole Zunhammer, Theologin und Psychologin, arbeitet als freiberufliche Seminarleiterin, Trainerin und Coach für Unternehmen, Organisationen und Frauengruppen. www.Nicole-Zunhammer.de

Anmerkungen
1) Mir persönlich fallen die Apfelkücherl meiner Oma ein, eine Demonstration gegen die Stationierung von Pershing II Raketen, mein erster Besuch in Taizé … Bilder, Erinnerungen und Gefühle tauchen auf.
2) Zu Temperamenten und Persönlichkeitstypen ­finden sich viele Informationen im Internet; zur Übersicht z.B. David Keirsey, „Versteh mich bitte“. Keirseys Typologie-Entwurf ist auf die Temperamenten-Lehre von Hippokrates und Carl Gustav Jung zurückzuführen und greift viele Weiterentwicklungen und Tests auf, wie z.B. DISG, MBTI, Reiss u.a.
3) https://www.publik-forum.de/Publik-Forum-18-2008/keine-fruechte-aus-suedafrika# sowie https://www.evangelisch.de/inhalte/125862/15-10-2015/auf-plantagen-suedafrika-lebt-die-apartheid-fort
4) „Wir bewegen uns auf einen Abgrund zu“ Rebellion oder Resignation? Rainer Langhans und Laura Meschede diskutieren über die Gesellschaft – und darüber, ob man besser sie oder sich verändern sollte, SZ Nr.179 vom 4.8.2016, R 4

Zum Weiterlesen und -hören:
„Begeisterung ist Doping für Geist und Hirn“
Vortrag des Hirnforschers Gerald Hüther, ca. 13 Minuten – https://www.youtube.com/watch?v=Gw_YDDsjCPs
http://wiki.yoga-vidya.de/Begeisterung sowie „Lebe begeistert!“ von Gerrit Kirstein im YOGA Journal Ausgabe Juli/August 201

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