Alle Ausgaben / 2013 Artikel von Birgit Mattausch

Mit Leib und Seel`

Erfahrungen mit der Nähe des Göttlichen machen

Von Birgit Mattausch


„Der Gottesdienst steht und fällt mit der Predigt.“ Das ist ein Satz, den eine tatsächlich immer noch in Facebook-Diskussionen und andernorts lesen und hören kann. Und beim Shake-Hands am Ausgang wird zumindest in Württemberg der Pfarrerin gern gesagt: „Danke für die schöne Predigt!“ Sogar dann, wenn's gar keine Predigt gab.

Die Fokussierung allein aufs Hören aber, womöglich noch aufs Hören eines auf kognitive Fähigkeiten ausgerichteten Textes, entspricht längst nicht mehr den Gewohnheiten und Bedürfnissen von Menschen. Hat sie vielleicht sogar nie? Denn auch die biblischen Texte kennen viel mehr als das Hören. Das Volk sieht die Wolkensäule über der weiten Wüste. Gott riecht den Weihrauch. Die blutflüssige Frau fühlt die dynamis, die von Jesus ausgeht, durch ihren Körper fahren. Und selbst der auferstandene Jesus brät noch Fisch und schmeckt ihn auf der Zunge.

Worum geht es im Gottesdienst? Am Sonntagmorgen? Zur Feier des ersten Schultages? Bei einer Trauung? Bei einer Beerdigung? Wozu gibt es das alles? Thomas Hirsch-Hüffell, der in der Nordkirche mit seinem kleinen Institut für Gottesdienste zuständig ist, hat darauf dem Online-Magazin evangelisch.de Folgendes geantwortet: „Man sollte heller und gehobener [aus dem Gottesdienst] herauskommen als man hineingegangen ist. Der Mensch hat neben Supermarkteinkäufen, Kinderbetreuung, Stromrechnung zahlen und der üblichen Freizeitgestaltung auch noch eine größere Dimension, eine andere Würde, nämlich sich in einem Weltall zu befinden, in einem größeren Zusammenhang, den er nie ganz überschauen wird. Im Gottesdienst werden diese Proportionen wieder zurechtgerückt: Wir werden daran erinnert, dass wir eine Krone auf dem Kopf tragen, dass wir zu etwas ganz Großem gehören, das wir auch staunend anbeten können. Und das tut Menschen gut. Es kann sie erheben und entlasten.“1

Die größere Dimension, der höhere Zusammenhang, das Weltall, der dreieinige Gott, die Nähe Gottes. Kann das im Kirchenraum, im Gottesdienst erfahrbar gemacht werden? Theolog_innen2 aller Generationen haben diese Frage ausdrücklich verneint. Zu recht. Gott kann nicht „erfahrbar gemacht werden“. ER_SIE_ES ist nicht verfügbar, nicht herbei zu zwingen, nicht aus der Talartasche zu ziehen. Und dennoch hat gerade die christliche Religion Grund zur Annahme, dass das Göttliche anwesend ist in der Welt, in unseren Räumen und in unserem Tun. Wie könnte es anders sein, wo ER sich doch inkarniert hat in Jesus von Nazareth? Wo SIE doch IHR Mit-uns-Sein versprochen hat im Heiligen Geist?

Ich meine: Wir können Gott nicht herbei zwingen – aber wir können womöglich dafür sorgen, IHM nicht allzu sehr im Wege herum zu stehen. Und wir können dafür sorgen, dass Menschen Erfahrungen in Gottesdiensten und in Kirchenräumen machen können – Erfahrungen, die dann hoffentlich zu tun haben mit Gott. In der Stuttgarter Jugendkirche wird dazu Außerordentliches versucht;  ich empfehle Ihnen sehr, einmal auf der Homepage vorbeizuschauen: http://www.jugendkirche-stuttgart.de/ – Im Folgenden werde ich mich allerdings auf weniger Aufwändiges und Avantgardistisches beschränken und einfach von Beispielen aus meiner Praxis als Gemeindepfarrerin in der schwäbischen Provinz berichten.


Sehen

Den Abendmahlskreis bilden wir grundsätzlich rund um den Altar. Zum sogenannten „Entlasswort“ nehmen sich alle an die Hand – das ist vielerorts -üblich. Ich habe mir angewöhnt, dann zu sagen: „Wir schauen noch einmal herum, wer alles da ist. Vielleicht mag ich jemandem zunicken oder zulächeln.“ Das ist ganz einfach, kostet nichts, braucht keinen Mut und tut niemandem weh. Dafür vielen gut. Ab und an sage ich dann noch: „Ihr seid der Leib Christi.“ Oder: „Wir gehören zusammen.“ Manchmal auch nur ein Psalmwort oder ein Jesuswort.3


Hören

Feinde – Hirte – zum frischen Wasser – nichts mangeln – führet mich – einen Tisch – Aue – wanderte …

Verschiedene Stimmen sind im Kirchenraum zu hören. Dazwischen immer wieder Stille. Von draußen ein Motorengeräusch. Die Vögel. Dann wieder ein Stück Psalm. So hört es sich an, wenn meine Gemeinde über dem Psalm „brütet“.

Als Anweisung habe ich gesagt: „Wir beten mit Worten aus Psalm 23 – und wir tun das heute ein bisschen anders als sonst. Wir brüten über dem Psalm. Das heißt: Wir lesen still für uns über den Text. Und wenn uns ein Wort oder ein Satzstück ins Auge und ins Herz fällt – dann sprechen wir es laut aus. Wir warten nicht auf andere. Es können auch mehrere von uns gleichzeitig sprechen, das macht nichts. Am Ende beten wir den Psalm gemeinsam in unserer gewohnten Weise – ich werde es ansagen.“ Beim „Brüten“ sitzen alle, auch ich. Zwei, drei Menschen habe ich vorher gebeten, sich auf jeden Fall zu beteiligen. Wenn ich den Eindruck habe, dass es nun genug ist, stehe ich auf, sage „Wir beten im Wechsel“. Und dann tun wir das in der für unsere Landeskirche üblichen Form.

Danach ist der Raum ein anderer. Das Heilige mit seinen heiligen Worten hat nicht nur vorn am Altar stattgefunden und nicht nur nach den Regeln der Pfarrerin oder der Agende – es ist vielmehr in den Kirchenraum hineingewandert.4


Riechen

Es ist Pfingstsonntag. Die Gemeinde zieht nach dem Schluss-Segen singend hinaus. Unser Gemeindezentrum mit dem Gottesdienstraum hat ein flaches Dach. Oben haben sich zwei Konfirmandinnen postiert, ein Kirchengemeinderat hat ihnen mit der Leiter geholfen. Und nun werfen sie duftende Rosen- und andere feuerfarbene Blütenblätter auf die aus der Tür heraustretenden Menschen.

Einen ganzen Kofferraum voll mit Blumen bekomme ich für diese Aktion jedes Jahr von einer ortsansässigen Gärtnerei geschenkt. Wenn Sie es selbst einmal probieren wollen: am besten bei einer nachfragen, die sonntags und montags geschlossen hat; die Blumen müssten weggeworfen werden. Am Samstag abholen, am Sonntagmorgen abzupfen. Und falls jemand Angst vor den anschließenden Aufräumarbeiten hat: keine Sorge! Kehrwoche ist nicht nötig. Die duftenden Blütenblätter sind so schön, dass sie gleich aufgesammelt und mit nach Hause genommen werden.5


Schmecken

Zum Schmecken gehört natürlich das Abendmahl. Aber die Hostie und der Schluck Traubensaft sind eine höchst sublimierte Form des Essens und Trinkens – ganz im Gegensatz sicher zu den Mahlgemeinschaften der Menschen um Jesus! Vielleicht lässt sich das Abendmahl wieder besser verstehen, wenn es einmal oder ab und an unter dem Fokus des Schmeckens und Essens gestaltet wird. In der Stuttgarter Jugendkirche kocht die Künstlerin Gabi Erne regelmäßig auf dem Altar. In Marburg war diese Idee Grundlage eines ganzen Gottesdienstes, den sie mit ihrem Mann Thomas Erne gestaltete.6
Vergleichbares ist sicher nicht in jeder Gemeinde und in jedem Kirchenraum machbar, aber vielleicht das, was Pfarrerin Annegret Zander aka Liesel Stick7 in der Facebook-Gruppe „Jahr des Gottesdienstes“ berichtet: „Ich habe letztes Jahr an Gründonnerstag von meinem Onkel, einem Landwirt, erzählt, der immer das Brot segnete, bevor er es vor dem Bauch anschnitt. Und dann nahm ich ein riesiges Holzofenbrot in den Arm, und schnitt es mit einem großen Messer, ganz gemächlich, in viele Scheiben. Plus Einsetzungsworte. Tränen flossen, und für viele duftete und schmeckte es unglaublich nach Heimat.“


Fühlen

Als Ergänzung zur Einzelsegnung – mit Handauflegung auf dem Kopf – an Silvester und Invokavit, da in Zusammenhang mit Sündenvergebung, biete ich in der Osternacht und mittlerweile auch am Ewigkeitssonntag eine Tauferinnerung an.

Im Taufbecken ist Wasser. Damit zeichne ich ein Wasser-Kreuz in das Innere der Hand derer, die das wollen. Dazu sage ich etwas wie: „Christus lebt. Und du sollst auch leben. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ (Ostern) Oder: „So spricht Gott: Wenn du durchs Feuer gehst, so will ich bei dir sein.“ (Ewigkeitssonntag)

Das Handinnere ist besonders empfindsam. Gleichzeitig ist so auch keine Verwechslung mit einer Taufe möglich. An Ostern mache ich einen expliziten Bezug zur Taufe. An Ewigkeitssonntag nenne ich das Ritual „An den Taufstein kommen und sich dort ein Kraftwort zusprechen lassen“.

Vor allem die russlanddeutsche Mehrheit meiner Gemeinde hat einen sehr starken, affektiven Bezug zum Thema Taufe / Taufwasser. Aber sowohl bei der Möglichkeit zur Einzelsegnung als auch zur Tauferinnerung erlebe ich, dass fast alle Anwesenden das Angebot annehmen. Der Vorgang ist äußerst emotional. Viele weinen. Auch ich selber bin sehr bewegt und hinterher durchaus auch erschöpft und plane den Rest meines Tages entsprechend.8


Sich bewegen

Die Mehrheit der Gottesdienste ohne Abendmahl, die in Württemberg die Regel sind, verläuft für die Gemeindeglieder sehr statisch. In Bewegung durch den Raum ist eigentlich nur die Pfarrerin. Thomas Hirsch-Hüffell hat einmal von „Glaubensboxen“ gesprochen, in denen die oder der einzelne sich befindet, um dort öffentlich fromm zu sein – aber ohne dabei nach links und rechts zu schauen.

Alles, was dieses Arrangement behutsam punktuell auflöst, ist meines Erachtens hilfreich. Dazu gehört etwa der vielerorts längst eingeführte Friedensgruß. Eine andere Möglichkeit ist das Anzünden von Teelichtern in bereitgestellten Sandschalen mit einer angezündeten Kerze in der Mitte – an Rogate, Ewigkeitssonntag, Konfirmationsvorabendgottesdienst – anstelle der Fürbitten. Dazu spielt eine Musik. Und ich sage hierzu an: „Hier vorn sind Schalen mit Teelichtern. Wer mag, kommt vor und zündet eins an – für sich selber, für andere, für jemanden, der's grad braucht.“ In der Regel habe ich auch dabei eine Verbündete, die sich als erste traut. Danach kommen viele.9

Bei Hochzeiten bitte ich zum Trau-Segen das Paar in die Mitte der Kirche. Und die Gäste bitte ich, aus den Reihen heraus zu treten und eine Art „Knäuel“ um das Paar zu bilden – für einen Kreis sind es ja meist zu viele. Dann gibt es eine kleine Stille, in der alle ihre Wünsche zum Paar hin „schicken“. Danach der Segen mit Handauflegung für das Paar durch mich. Geübte Hochzeitsgemeinden können dann noch einen Liedvers singen. Oder ich lasse vor dem Trau-Segen von den Gästen vorbereitete Wünsche sprechen. Die Atmosphäre im „Knäuel“ ist sehr dicht und liebevoll.

Derartige Knäuel mit Möglichkeit zum stillen Wünschen und / oder Erinnern lassen sich auch um Särge bilden – sofern man sich gegen die Menge des Grünzeugs in den diversen Friedhofskapellen durchgesetzt hat.10

Und jetzt doch noch etwas -zugegebenermaßen Gewagtes …


An Pfingstsonntag stehen 60 Menschen in einem Kreis rund um den Kirchenraum. Am Eingang hat jede_r eine Butterbrottüte aus Papier bekommen. Die haben sie nun in der Hand. In der Predigt zuvor ging es um den burnout-gefährdeten Mose und die 70 Ältesten, die Gott mit IHREM Geist beschenkt, um Mose zu entlasten.

Ich sage: „Auf Hebräisch heißt der Heilige Geist ruach. Auf Lateinisch spiritus. Auf Griechisch pneuma. Alle diese Worte heißen auch ‚Atem'. Gottes Geist ist Atem, der belebt. Deshalb achten wir jetzt einmal einen Moment auf unseren Atem. Wir atmen ein. Wir atmen aus. Wir lassen unseren Atem kommen und gehen.“

– Alle machen das –

„Gottes Geist ist Atem, der belebt. Gottes Geist schenkt uns Individualität. Gottes Geist begabt uns.
Denk jetzt an das, was du gut kannst, deine Begabungen, deine Geistesgaben. Denke daran.“

– Stille –

„Und jetzt denke an das, was dir manchmal zu viel wird, was dich überfordert.
Höchstwahrscheinlich hat das etwas mit deinen Begabungen zu tun.“

– Stille –

„Jetzt nimm deine Butterbrot-Tüte.
Und blase hinein.
Gottes Geist ist Atem. In dir ist Gottes Geist.
Blase die Tüte auf. Und wenn du soweit bist, dann lass sie platzen!“

– allgemeines Tüten-Aufblasen und Knallen lassen –

„Im ganzen Raum ist nun Euer Atem. Hier fliegt er herum. Und so mögen eure Begabungen und eure Herausforderungen herumfliegen und übergehen auf andere. Wir sind die 70 Ältesten!“

Vielleicht, liebe Leserin, lieber Leser, fragen Sie sich jetzt, was das für eine Gemeinde ist, die Tüten aufbläst und platzen lässt. Ich kann Sie beruhigen: es ist eine ganz normale Sonntagmorgen-Gemeinde. 70+ ist die Mehrheit. Viele sind, wie schon erwähnt, Deutsche aus Russland. Es sind Professoren dabei und Analphabetinnen. Sie alle haben ihre Tüte aufgeblasen und sie platzen lassen. Und sie hatten sichtbares Vergnügen daran! Auch meine Befürchtung, der Knall könnte zu laut sein, war unbegründet – er verliert sich in unserem mittelgroßen Kirchenraum so, dass kein Trommelfell zu Schaden kommen konnte.11


Birgit Mattausch (*1975) ist Pfarrerin in Nürtingen-Roßdorf in der Nähe von Stuttgart.


Anmerkungen
1) Vgl. http://aktuell.evangelisch.de/artikel/87739/sonntagsgottesdienst-erbsensuppe-fuer-die-eingefleischten
2) Anm. der Redaktion: Die Arbeitshilfe zum Weitergeben verwendet grundsätzlich soweit möglich eine geschlechtergerechte, inklusive (d.h. Frauen ausdrücklich benennende) Sprache – meistens in der Schreibweise mit dem großen „Binnen-I“, z.B. „TeilnehmerInnen“. Um deutlich zu machen, dass es nicht nur zwei, sondern eine Vielfalt von Geschlechtern gibt, wird in diesem Beitrag zwischen der männlichen und der weiblichen Form ein Unterstrich gesetzt; dies gibt allen, die sich nicht eindeutig als Frau oder Mann verstehen können oder wollen, Raum.
3) Idee: Gottesdienstinstitut der Nordkirche
4) Idee: Gottesdienstinstitut der Nordkirche
5) Idee: Pantheon / Rom und Birgit Mattausch
6) Ein Video dieser Aktion gibt es hier: http://www.youtube.com/watch?v=VUJ08HQzo08 (oder einfach auf Youtube „Marburg“ und „Erne“ eingeben).
7) aka steht für engl. also known as („ebenfalls bekannt als“) und wird in der Sprache des Internets entsprechend dem lat. alias verwendet.
8) Idee: Gottesdienstinstitut der Nordkirche und Birgit Mattausch
9) Idee: Gottesdienstinstitut der Nordkirche
10) Idee: Nadine und Oliver Rump und Birgit Mattausch
11) Idee: Robby Höschele (Playing Arts / Jugendkirche Stuttgart) und Birgit Mattausch


Linktipps
http://gottesdienstinstitut-nordkirche.de/
http://www.jugendkirche-stuttgart.de/


zum Weiterlesen
Zu den Aktionen in den Pfingstnächten in der Stuttgarter Jugendkirche ist auch ein Buch erschienen: Tomas Erne, Petra Dais, Florian Schirrmacher: Spirit Now: Performance zu Pfingsten, Jonas-Verlag 2013

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