Alle Ausgaben / 2016 Artikel von Kathrin Oxen

Mit Mut und innerer Freiheit

Luthers und Katharinas Hochzeit als Reformationstag feiern

Von Kathrin Oxen

Ich feiere Reformation jedes Jahr im Juni. Natürlich entfaltet sich in der Lutherstadt Wittenberg auch rund um den Reformationstag am 31. Oktober ein beachtlicher Festbetrieb mit Renaissance-Musikfestival, Konfirmandentreffen, viel Kirchenmusik und großen und feierlichen Gottesdiensten in den mittlerweile wunderbar restaurierten Kirchenräumen von Stadtkirche und Schlosskirche. Ein bisschen mittelalterliches Markttreiben gehört auch dazu. Meistens spielt sogar das Wetter mit, obwohl man ja Ende Oktober nun wirklich nicht allzu viel erwarten kann.
Aber viel ausgiebiger und bei schönerem Wetter feiern die Wittenbergerinnen und Wittenberger mit ihren zahlreichen Gästen im Juni. Seit über zwanzig Jahren findet am zweiten Wochenende im Juni „Luthers Hochzeit“ statt. An drei Tagen wird dann die Hochzeit Martin Luthers mit Katharina von Bora gefeiert. Von der Ankunft der geflohenen Nonnen aus dem Kloster Nimbschen über Luthers Junggesellenabschied bis zum großen Festumzug mit dem Hochzeitspaar und dem Anschneiden der Hochzeitstorte kann man an den drei Tagen die berühmte Hochzeit miterleben – und natürlich ein großes und buntes Stadtfest feiern. Viele Besucherinnen und Besucher kommen in Verkleidung, in allen Höfen gibt es mittelalterlich anmutendes Treiben, gutes Essen, „Wittenbergisch Bier“ und reichlich andere Getränke, Gaukler, Musik und fröhliche Menschen in der historischen Altstadt.

Am 13. Juni 1525 sind Martin Luther und Katharina von Bora in der Stadtkirche von Johannes Bugenhagen getraut worden. Damals sicher nicht ausgelassen fröhlich, sondern mit großen Ängsten und Zweifeln. Unmittelbar nach der Trauung wurde die Ehe vollzogen, unter Zeugen. So ist es damals üblich. Kein schöner Anblick sei das gewesen, wird ein Freund Luthers später erzählen, wohl mehr Peinlichkeit als Leidenschaft.
Katharina und Martin haben „in aller Stille“ geheiratet und dennoch hat ihre Hochzeit solchen Anstoß erregt wie ­selten eine. Auch engste Freunde Martin Luthers, wie Philipp Melanchthon, waren sich nicht sicher, ob es nicht doch besser sei, ehelos zu leben, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, auf diese Weise die neue Lehre so öffentlich zur Schau zu stellen. Eine Ehe als Zeichen, „Papst und Teufel zum Trotz“, wie Luther gesagt haben soll. Von Liebe zwischen den Eheleuten ist erst viel später die Rede gewesen. Es hat lange gedauert, bis „Luthers Hochzeit“ so groß und fröhlich gefeiert wird wie heute.

Für mich ist dieses Fest im Juni das eigentliche Reformationsfest. Natürlich weiß ich, dass der eigentliche Feiertag für die Reformation der 31. Oktober ist, der Tag, an dem Martin Luther die 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen haben soll. Die Wissenschaftler sind sich nicht sicher, ob es wirklich so gewesen ist. Aber das ist längst gar nicht mehr wichtig. Wichtig ist, dass es dieses symbolische Datum gibt. 2017 wird es sogar in ganz Deutschland ein Feiertag sein.

Die 95 Thesen Martin Luthers richteten sich damals gegen einen zentralen Missstand in der Kirche, den Ablasshandel. Seit ich am historischen Ursprungsort der Reformation lebe, sonntags in die Kirche gehe, in der Martin Luther gepredigt hat, die Straßen und Plätze kenne, an denen er gelebt hat, wundere ich mich noch viel mehr über seinen Mut. Er hat diese damals völlig unhinterfragte kirchliche Praxis in Frage gestellt. Und mit dieser Frage auch die gesamte damals geltende Ordnung in der Kirche, von einem eigentlich völlig unbedeutenden Ort mitten in der Provinz aus bis zum Kaiser und zum Papst in Rom.
Damit fängt jede Veränderung an: Mit dem Mut und der inneren Freiheit, die Dinge in Frage zu stellen. „Reformation heißt, die Welt hinterfragen“ formuliert es deswegen auch einer der vielen Slogans zum Reformationsjubiläum 2017.

Martin Luther hat irgendwann diese innere Freiheit gewonnen, mit der man solche Fragen stellen kann. An die Stelle von Angst und Zweifel darüber, wie es zwischen Gott und ihm steht, ist etwas anderes gerückt: Die Gewissheit, dass seine Beziehung zu Gott nicht davon abhängt, was er dafür tun kann. Gottes Liebe zu uns geht allem, was wir als Menschen tun, voraus. Diese Einsicht hat Martin Luthers Leben für immer verändert. Sie hat ihn ganz und gar erfüllt.
Im Nachhinein wird eine solche lebensverändernde Einsicht gerne als einmaliges, einschneidendes Ereignis dargestellt. Deswegen ist der Thesenanschlag in Wittenberg zu einem symbolischen Datum geworden. Aber diesem Datum sind viele Jahre des Studiums, des Lesens, Nachdenkens und Schreibens vorausgegangen. Die Gewissheit, bedingungslos von Gott geliebt zu sein, ist bei Martin Luther nach und nach, über viele Jahre, gewachsen. Sie hat sich bei ihm nicht schlagartig eingestellt.

„Ich schenke euch ein neues Herz und will einen neuen Geist in euch geben“. Auch die Jahreslosung für das Jubiläumsjahr 2017 kann man so hören, als ginge es hier um eine sehr plötzliche Veränderung. Altes Herz raus, neues Herz rein, alter Geist raus, neuer Geist rein. Eine Operation Gottes an seinen Menschen, vor der man beinahe Angst bekommen kann. Liest man im Buch des Propheten Ezechiel nur ein wenig weiter, wird aber deutlich, dass es hier um einen sehr langen Prozess der Veränderung und Verwand­lung geht. Menschen, die sich einmal von Gott abgewandt haben, sollen wieder zu Gott zurückfinden. Und das geschieht nicht von jetzt auf gleich, sondern nach und nach. Zuerst handelt Gott an seinen Menschen. Dann begreifen sie – hoffentlich – dass sie Gutes von ihm erfahren haben: „Sie werden erkennen, dass ich die Lebendige bin“, dieser Satz durchzieht wie ein Refrain die ganze prophetische Weissagung bei Ezechiel. Gottes Versprechen gilt. Aber wann und wie genau es sich erfüllt, ist noch nicht gesagt.
Nicht von jetzt auf gleich, sondern nach und nach ist Martin Luthers Herz und Geist von der Gewissheit des Glaubens und vom Vertrauen in Gottes Liebe erfüllt worden. Und da war dann kein Platz mehr für Angst und Zweifel. Seine innere Freiheit wollte auch nach außen. Sie ist zu Worten auf Papier geworden, zu den Ablassthesen, zu den großen Schriften aus der Anfangszeit der Reformation wie „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Das habe ich damals im Studium gelernt und kann es jetzt noch einmal in den vielen Büchern lesen, die anlässlich des Reformationsjubiläums erscheinen.

Doch was es wirklich bedeutet, innerlich frei zu sein, ein neues Herz und einen neuen Geist bekommen zu haben, das zeigt sich für mich in besonderer Weise an der Hochzeit von Martin Luther und Katharina von Bora. Deswegen feiere ich Reformation lieber im Juni als im Oktober. Durch ihre Heirat und später in ihrem Leben als Familie haben die beiden allen gezeigt, dass ein Leben als Mönch oder Nonne Gott nicht besser gefällt als ein „ganz normales“ Leben. Worte allein haben Martin Luther nicht gereicht, um seine Entdeckung der Freiheit weiter zu sagen, trotz seines grenzenlosen Vertrauens in die Kraft des Wortes. Ganz ähnlich wie es bei den Propheten des Alten Testament immer wieder beschrieben wird, hat er sich von ganzem Herzen, mit Seele und Leib für seine Botschaft in Dienst nehmen lassen. Seine Hochzeit mit Katharina kann man auch als eine Art Zeichenhandlung verstehen.
Wir brauchen nichts dafür zu tun, dass Gott uns liebt. Das gibt einem Menschen innere Freiheit und ein Selbstbewusstsein, das nicht aus einem selbst kommt. Diese Erfahrung Martin Luthers und gerade auch seine Entscheidung, zu heiraten, hat, wenn man so will, die Theorie der inneren Freiheit in die Praxis des äußeren Lebens überführt. Jeder konnte an Luthers Hochzeit sehen, dass sich wirklich etwas verändert hatte. Seitdem leben evangelische Christen in besonderer Weise mit dem Anspruch, sich nicht aus der Welt zurückziehen, sondern in innerer Freiheit und mit großer Verantwortung in ihr zu leben und sie zu gestalten, in der Familie, im Beruf, an allen Orten, an die sie in ihrem Alltag gestellt werden.

Bis Martin Luther zu einem so öffentlichen Bekenntnis seiner inneren Freiheit bereit war, hat es Jahre gedauert. Erst acht Jahre nach dem Thesenanschlag haben Katharina und Martin geheiratet. Ich lerne daraus: Veränderungen, besonders große Veränderungen, brauchen Zeiten der Vorbereitung. Und es kann lange dauern, bis sie nicht mehr ständig hinterfragt werden. So war es mit der Reformation. Aber so ist es auch heute noch, wenn Veränderungen sich ankündigen und wenn Selbstverständlichkeiten plötzlich hinterfragt werden. Ein neues Herz und ein neuer Geist entstehen nicht von jetzt auf gleich in den Menschen, sondern nach und nach. Gerade angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir gegenwärtig stehen, angesichts der großen Aufgabe die wir mit der Integration der Flüchtlinge und der Bewahrung des Zusammenhalts unserer Gesellschaft vor uns haben, ist das ein guter Gedanke. Bei Ezechiel ist auch von den steinernen Herzen die Rede, die Gott in Herzen aus Fleisch verwandeln wird. Ein Bild dafür, wie schwierig und mühsam es sein kann, Erstarrung und Hartherzigkeit wieder in Bewegung und Mitgefühl zu verwandeln. Aber das niemand gut mit einem Herz wie ein Stein in der Brust leben kann, ist eigentlich selbstverständlich.
Ich feiere Reformation lieber im Juni. Martin und Katharina haben uns mit ihrer Hochzeit gezeigt, was es heißt, als innerlich freie Menschen zu leben. Eine Trennung von dem, was sie als Wahrheit erkannt hatten und der Art, wie sie lebten, gab es für die beiden nicht. Mit Verstand, Herz und Seele, fröhlich und tatkräftig haben sie ihr gemeinsames Leben gestaltet. Ein neues Herz, ein neuer Geist, von Gott geschenkt.

Kathrin Oxen, geb. 1972, Pfarrerin und seit 2012 Leiterin des Zentrums für evangelische Predigtkultur in Wittenberg.

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