Schon während der telefonischen Anfrage für diese Andacht stand das Bild vor meinem inneren Auge: mein Vater und ich, etwa 16-jährig, beim sonntäglichen Spaziergang. Wir hielten uns an den Händen – darauf hätte ich geschworen, bis mich das Foto aus dem Album eines Anderen belehrte.
Weil du mich an der Hand nahmst
wurden Spaziergänge plötzlich schön,
deine Hand war immer zuverlässig
warm.
Friere ich deshalb so, in letzter Zeit,
weil du nicht mehr mitgehst,
bei Spaziergängen und überhaupt?
Das formulierte ich kurz nach seinem frühen, plötzlichen Tod. Geborgenheit, Sicherheit, Zuverlässigkeit, Fürsorge – all das erfuhr ich durch meinen Vater, all das also, was landläufig als „mütterlich“ eingestuft wird. Unvergesslich ist für mich die Freude, morgens an den Frühstückstisch zu kommen und neben dem unvermeidlichen Kaba-Becher einen Teelöffel zu sehen, um die ekelige Haut von der warmen Milch abschöpfen zu können. Dann war klar: Mutti ist krank, Vati hat für uns gesorgt und duldet unsere Aversion – für mich eine Erfahrung von „Mutterhänden“. Dass diese Mutterhände aber auch leiten wollten, zeigen „wo's lang geht“, spürte gerade ich als Älteste besonders in Zeiten der ersten Liebe, wo Leitlinien festgeklopft wurden, die später bei den jüngeren Geschwistern längst nicht mehr so eng fixiert galten.
Meine Geschwister würden ohnehin ein anderes Bild unseres Vaters zeichnen, was mich immer wieder neu fasziniert. Das war doch derselbe Mann? Anscheinend wohl doch nicht, denn so, wie seine Beziehung zu den drei Kindern unterschiedlich war, war deren Reaktion es auch. Noch ein persönliches Beispiel: Über meine Geburt gibt es, trotz zahlloser Umzüge noch immer erhalten, einen anrührenden, detaillierten, glücklichen Bericht meines Vaters. Bei den Geburten der beiden „Kleinen“ war er nicht dabei, seine Sicht darüber ist nicht erhalten. Was uns aber eint, ist die Erinnerung an seinen hintergründigen Humor, seinen Spaß, bei Gesellschaftsspielen zu schummeln, seine Lust am Feiern, seinen Mut zu Tränen, seine Gelöstheit im Urlaub, seinen Hang zum Zynismus, seine sprachliche Brillanz, seine Courage, Unstimmigkeiten zu benennen und Kritik zu üben – und sei es „nur“ in Kabarett-Texten. „Meckern ist gut, mitmachen ist besser“ hat er uns als Motto mitgegeben. Für uns und die Nachkommen ist dieser Satz Motor für alles (meist ehrenamtliche) Engagement.
Ich, die Älteste, hing an meinem Vater, an seinen Händen ohnehin, an seinen Lippen auch. Ich versuchte darum, so viel Zeit wie möglich mit ihm zu verbringen. Ob mein jugendliches Interesse an politischen Themen aus mir selbst entstand oder, weil er es weckte und förderte, lässt sich nicht mehr festmachen. Dass ich damals so viel Fußballsendungen hörte und guckte, geht dagegen eindeutig auf das Konto „ihm zuliebe“. Besonders im Jugendkreis-Alter begleitete ich ihn oft zu seinen zahlreichen „Auftritten“ -er hatte im Laufe seines kirchlichen Berufslebens vielfältige Sonderaufgaben – und war stolz auf die Anerkennung und Bewunderung, die ihm zuteil wurde. Freimütig sonnte ich mich auch ein bisschen in dem Glanz, der dabei auf mich abfiel. „Sehr häufig war bei den Pfarrerstöchtern der anerkannte Vater das Lebens-vorbild, weniger die Mutter.“(1)
Zu den leitenden Händen gehörte aber auch, dass ich nicht nur in eine Familie, sondern auch in eine Kirche hinein geboren wurde und in unausgesprochener Selbstverständlichkeit von mir – wie von meinen Geschwistern – erwartet wurde, „die von Gott in uns angelegten Begabungen einzubringen“. O-Ton mein Vater: „Wenn du unbedingt willst, kannst du auf die Sylvesterparty gehen, aber um 9.30 Uhr ist Neujahrs-Gottesdienst, da singt der Chor und du hast da zu sein!“ Das war, wie Barbara Wiesener festgestellt hat, kein Einzelfall: „Die Abwendung von den väterlichen Geboten hätte schwerwiegende Konsequenzen gehabt. Sie wäre in frühen Jahren auch immer einer Abwendung vom christlichen Glauben gleichzusetzen gewesen.“(2)
Um eine solche Abwendung vom Glauben zu verhindern, gebrauchte mein Vater, ob bewusst oder unbewusst, wieder seine mütterlichen Hände. In meiner spätpubertären Rebellions-Phase gestand er mir zu, Chorsingen und Kindergottesdienst ruhen zu lassen, weil ich nicht mehr hinter dem stand, was ich da plangemäß singen oder erzählen sollte. Dass ich durch diese Zeit des „Aussetzens“ der Kirche nicht völlig verloren ging, war – zumindest meinem Vater – wohl von Anfang an klar. Viele Jahre später war ich auf einer Freizeit aufgefordert, das eigene Vaterbild in eine neue Gottesanrede einfließen zu lassen. Mein Ergebnis hörte sich so an:
Gott, himmlischer Vater,
wenn du so bist wie mein leiblicher Vater,
dann bist du sehr weich innen, sehr
verletzlich,
sehr mitleidend, auf der Suche nach
Gerechtigkeit,
und nach außen hin sehr kritisch, rigoros
im Urteil, oft verletzend zynisch,
verbittert, enttäuscht – und veränderbar.
Dann umgibst du mich mit großer, meist
sprachloser Liebe
und dann ist es schlimm, wenn du nicht
da bist.
Mir wurde erst da richtig klar, wie intensiv meine persönlichen Vater-Erfahrungen nicht nur mein Männerbild, sondern vor allem mein Bild von Gott geprägt hatten, und wie beides ineinander verquickt war. „Der beste Anfang und Vorrede ist, dass man wohl wisse, wie man nennen, ehren, behandeln soll, den man bitten will, und wie man sich gegen ihn erzeigen soll, dass man ihn gnädig und geneigt mache zu hören. Nun ist kein Name unter allen Namen, der mehr geschickt mache uns gegen Gott als ,Vater'. Das ist eine gar freundliche, süße, tiefe und herzliche Rede. Es wäre nicht so lieblich oder tröstlich, wenn wir sprächen ,Herr' oder ,Gott' oder ,Richter'. (…) Denn wer anhebt zu bitten ,Vater unser, der du bist in den Himmeln' und tut das aus Herzens Grund, der bekennet, dass er einen Vater hat und denselben im Himmel.“(3)
Erstaunlich war für mich die Erfahrung, dass meine Gottesbeziehung durch den nahezu traumatisch erlebten plötzlichen Verlust meines Vaters nicht verloren ging, sondern im Gegenteil stabiler wurde. Und regelrecht lebens-erhaltend wurden dann meine Erlebnisse mit der Feministischen Theologie, wo sich mein Gottesbild enorm veränderte und weitete. Mir war zuvor natürlich klar: So unterschiedlich, wie wir unsere Väter erlebten, so vielfältig unsere Namen für sie sind, so sind auch unsere Erfahrungen und Anreden für Gott. „Allerdings mag es allein schon dieses Wort (Vater) sein, das uns den Zugang zum Gebet nicht leichter, sondern schwerer macht. Wenn wir heute ‚Vater' sagen, meinen wir dann noch dasselbe, was damals Jesus gemeint hat? Haben die Väter nicht ihren Rang und ihren Stellenwert verloren? Ist es nicht zutreffend, wenn man in unserer Zeit von einer ‚Welt ohne Väter (‚vaterlose Gesellschaft') spricht? Wir müssen uns wohl in aller Nüchternheit klar werden, dass sie im Bewusstsein vieler Kinder nur noch die Rolle des Erzeugers und Ernährers spielen und nicht selten sogar als Versager gelten.“(4)
Und natürlich kannte ich durchs Erzählen konträre Väter-Erlebnisse von anderen jungen Frauen: „Väterlichkeit ist im Zusammenhang von ‚Vater unser' aber nicht verstanden als Leitbild im Sinne der Pädagogik, sondern als Urbild. Es ist gewiss, dass Urbilder durch die Erfahrungen mit empirischen Vätern verdeckt oder verschüttet werden können. Das geschieht von Zeit zu Zeit sogar in katastrophalen Ausmaßen. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Vater als Urbild in der Tiefe der Person vorhanden ist, und indem wir im Gebet Gott als Vater anrufen, übt das Urbild wieder seine Macht über uns aus.“(5)
Die Frage, ob ich an eine „Mutter unser“ glauben könne, hatte ich mir – bei meiner Vorgeschichte wenig verwunderlich – lange nie gestellt. Und selbst nach Jahren des Feministische-Theologie-Treibens bringe ich das nur schwer zustande. Wohingegen mir selber an vielen Eckpunkten meines theologischen Werdens geholfen hat, durch neue Namen neue Erfahrungen mit Gott zu benennen, sie zu teilen, zu tauschen mit anderen. „Verschwebendes Schweigen, geliebte Gefährtin, überströmende Quelle, schöpferische Macht, faszinierendes Du, unendliche Hoffnung, gegenwärtiges Du, weibliche Macht, gezeigte Verwundbarkeit, sprühende Freundin, lachender Sommerwind“(6) waren Ergebnisse von derlei Übungen. Und wenn für eine Frau ihre Gottesvorstellung durch „Mutter“ am besten wiedergegeben wird, dann trage und spreche ich das mittlerweile auch mit.
„Noch wird Gott meistens als Mann angesprochen, die Überzahl der Attribute Gottes mit männlichem Genius ist erschreckend. (…) Papst Johannes Paul I. erklärte 1978, Gott sei auch Mutter, zumindest so sehr, wie er Vater sei. (…) Das Patriarchat verfehlt in seiner Gottesanrede die Transzendenz Gottes. Wenn Gott nur ‚er' genannt wird, so ist Gott zu klein gedacht. (…) Gott übersteigt Gott, wie die Prozesstheologen sagen. Wie jeder gute theologische Satz, so hat auch dieser einen ausschließenden Sinn und lautet dann: ein Gott, der Gott nicht übersteigt, ist nicht Gott. Gott, gefangen in einer bestimmten Sprache, definiert durch bestimmte Definitionen, bekannt unter Namen, die bestimmte sozio-kulturelle Herrschaftsformen etabliert haben, ist nicht Gott. (…) Namen können zu Gefängnissen Gottes werden. (…) Vor kurzem war ich in einer Gruppe, die über Frömmigkeit und Feminismus arbeitete. Wir waren an einem bestimmten Tiefpunkt angekommen. (…) Eine Frau schlug vor, dass wir aufstehen, einen Kreis bilden und einander anfassen sollten. Jede sollte einen Namen für Gott sagen. Indem wir uns bei diesem Ritual sagten, wie wir den Grund unseres Lebens benennen wollten, kamen wir einander wieder näher. (…) Dieses Ritual hat uns geholfen. Ich denke, dass die Namen Gottes geteilt werden müssen, um Namen zu sein.“(7)
Bei aller Lust am Formulieren und an der Vielfältigkeit, auch der von Gott: dieses Teilen-können wird mir durch das Verbindende, Ökumenische, Weltumspannende des traditionellen „Vater unser“ mit zunehmendem Alter immer wichtiger und wertvoller. „Zum letzten ist zu merken, wie ganz ordentlich Christus dies Gebet gesetzt hat. Denn er lässt nicht zu, dass ein jeglicher für sich allein bitte, sondern für die Menge aller Menschen. Denn er lehret uns nicht sagen ,Mein Vater' sondern ,Vater unser'. Das Gebet ist ein geistliches, allgemeines Gut, darum soll man niemanden dessen berauben.“(8)
Egal, in welcher Kirche ich den Gottesdienst mitfeiere und wie fremd mir einzelne Elemente sein mögen: darin kann ich mich „einklinken“ und wieder finden. Und als ich neulich auf einem Friedhof bei der Beerdigung einer Freundin vor lauter Menschenmassen nichts hören konnte von dem, was die Pastorin an Liturgietexten sprach, dann aber plötzlich alle das „Vater unser“ zu sprechen anfingen, da konnte ich mit einstimmen, war mit getragen in der Verbundenheit.
Ob etwas vom obigen Text eingebaut wird, entscheidet die Leiterin je nach Bedarf der Gruppe und Zeit.
Material:
– zwei große farbige Tücher, eines hell, eines dunkel, und eine dicke Kerze für die Mitte
– 2-3 Postkarten oder Papierbogen und 1 Stift für jede Teilnehmerin
– mitzubringen von den TN: ein Foto des Vaters oder (im Sommer) eine Blume als Sinnbild für ihn bzw. (im Herbst) ein Blatt eines für ihn typischen Baumes
Ablauf:
Die Leiterin begrüßt die Frauen, entzündet die Kerze und lädt dann zur Andacht ein:
Jetzt alles ablegen, hinter mir lassen,
nichts mehr müssen, nur sein.
Es geschieht mit mir.
Du, Gott, geschiehst in mir durch Deine
Geistkraft.
Ich öffne mich Deinem Geheimnis, das
sich leise erschließt.
nach Julia Strecker
Die Frauen werden gebeten, das Foto oder Blume/Blatt in die Mitte zu legen.
Lied: Du bist meine Zuflucht. Du bist meine Hoffnung. Du bist meine Stärke.(9)
Die Frauen werden eingeladen, Erfahrungen mit dem eigenen Vater aufzuschreiben („Mein Vater war für mich …“) – das können durchaus mehrere, unterschiedliche Erfahrungen sein. (Pro Erfahrung eine Karte / ein Blatt! Je nach Gruppe kann die Leiterin das Erinnern durch Vorlesen einiger Beispiele aus den persönlichen Erfahrungen oben anregen.)
Die Karten oder Blätter werden um die Kerze im Kreis gelegt: je nach Art der Erfahrung auf die dunkle oder die helle Tuch-Hälfte. Anschließend werden die Frauen eingeladen, sich über ihre Erfahrungen auszutauschen. (Die Leiterin achtet strikt darauf, dass der Austausch freiwillig ist und keiner ihre persönlichen Erfahrungen „ausgeredet“ werden. Dabei muss die Leiterin innerlich darauf vorbereitet sein, dass „Ausbrüche“ möglich sind!)
Lied: Meine engen Grenzen (10)
Im nächsten Schritt tragen die Frauen verschiedene Anreden für Väter (Papa, Papi, Väterchen, Vati, sein Vorname …) und danach diverse Gottesanreden zusammen; evtl. auf einem Plakat (in zwei Farben) aufschreiben.
Lied: Höre uns, wir rufen dich (11)
Die Leiterin bittet die Frauen, nun ein eigenes, am „Vater unser“ angelehntes Gebet zu verfassen. Als Ermutigung und Ermächtigung spricht die Leiterin:
Mach unser Beten lebendig Gott
die müden Wörter bring sie zum Tanzen
in Deinem Rhythmus
in Deinem feurig pulsierenden Rhythmus
sollen sie tanzen.
Beschenke uns nähre uns rühre uns an
mit Deiner Nähe Gott
mit deiner kostbaren zärtlichen Nähe
rühre uns an.(12)
Wenn die Frauen zustimmen, werden die Ergebnisse vorgelesen – auf jeden Fall aber werden die Gebete in der Mitte so abgelegt, dass sie die Vatererfahrungen zudecken.
Lied: Segne uns, du Licht des Lebens(13)
Anmerkungen:
1 Barbara Wiesener, in: Töchter der Opposition, Potsdam (arke Verlag) 2007
2 ebd.
3 Martin Luther, Auslegung deutsch des Vater unser für die einfältigen Laien, Kaiser, 1929
4 Eberhard Stammler: Unser Vater – in einer „Welt ohne Väter“, in: vaterunser, Quell, 1973
5 Hans Schomerus: Fülle der Welt, München (Claudius Verlag) 1969
6 aus: Werkstatt Femin. Theologie, 1990, Jugendwerk der ev.-method. Kirche
7 Dorothee Sölle, aus: Gott, Mutter von uns allen, in: Das Lesebuch, Stuttgart (Kreuz Verlag) 2004
8 wie Anm. 3
9 Ristoff/Barth/Bücken, in: Singen von deiner Gerechtigkeit, Nr. 107
10 Eugen Eckert, in: Singen von deiner Gerechtigkeit, Nr. 54
11 Eugen Eckert, in: Singen von deiner Gerechtigkeit, Nr. 58
12 Carola Moosbach, in: Lobet die Eine, Grünewald-Verlag
13 Carola Moosbach, in: Lobet die Eine, Grünewald-Verlag
Zum Weiterlesen
Art. „Vater“, in: Wörterbuch der FeministischenTheologie, Gütersloh 22002, S. 567-570 Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 21999, S. 484-486
Studieneinheit „Gott“, in: Feministische Theologie, Ein Fernkurs, Ev. Arbeitsstelle Fernstudium der EKD, o.J., S. 49-62
Anke Kuckuck / Heide Wohlers (Hgg.): Vaters Tochter – Von der Notwendigkeit, den Frosch an die Wand zu werfen, Reinbek (Rowohlt) 1988
Verena Kast: Vater-Töchter, Mutter-Söhne, Stuttgart (Kreuz Verlag) 1998
Jo Pestum: Der Mondbaum – Geschichten von Töchtern und Vätern, Stuttgart (Thienemann Verlag) 1992
Hildegunde Wöller: Vom Vater verwundet – Töchter der Bibel, Stuttgart (Kreuz Verlag) 1992
Eine letzte Ausgabe der leicht&SINN zum Thema „Bauen“ wird Mitte April 2024 erscheinen.
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