Ausgabe 1 / 2017 Andacht von Carmen Khan

Mit Offenheit lernen und sich verändern

Andacht zu Mt 22,3

Von Carmen Khan

„Kannst du mir Gesangsunterricht geben?“ Mein Freund schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an: „Ja, würd ich schon gern machen, aber ich glaub, ich bin ein schlechter Lehrer.“ „Oh, das macht nichts“, sage ich, „ich bin auch eine schlechte Schülerin.“ Ab da treffen wir uns regelmäßig und machen zusammen Musik.

Eigentlich kann man Musik nicht konservieren. Selbst wenn man sie aufnimmt, muss man sie abspielen, damit sie geschieht. Von einem Lied zu behaupten, es sei auf der CD oder im Handy, ist eine dreiste Unterstellung. Für mich IST das Lied nur, wenn es gehört wird.

Musik ist darum vergleichbar mit dem, was es braucht, um etwas zu lernen. Es braucht die gleichzeitige Präsenz von Kopf, Herz und Körper. Wer zu schnell im Kopf ein abschließendes Urteil fällt, hat schon verloren. Wer im Herzen keine heitere Gelassenheit beherbergt, macht zu wenig Fehler, als dass sie etwas dazu lernen könnte und wer seinen Körper nicht bewusst wahrnimmt, hat kaum eine Chance, gemachte Erfahrungen einzuordnen.

Sind Kopf, Herz und Körper aufgeschlossen für das Neue, das es zu lernen gilt, dann ist da auch Musik drin. Ob ich eine gute Schülerin werde, liegt in erster Linie an mir, beziehungsweise in mir. Ich habe die Wahl: Hinterfrage ich regelmäßig meine eigenen Gedanken? Übernimmt mein Herz oft genug die Regie, so dass ich tanzen, spielen, Kunst genießen, Beziehung leben und erfüllenden Sex haben kann? Höre ich meinem Körper zu? Weiß ich, dass er immer Recht hat und gar nicht in der Lage ist, mir irgendetwas vorzumachen? Und schließlich ist es meine eigene Aufgabe, die drei in Balance zu halten. Keinen Teil von mir über meine anderen Dimensionen zu stellen. Die Fülle des Lebens in meinem Leben entdecken, akzeptieren und zulassen.

Genau das setzt Jesus voraus, wenn er sagt: „Alles, was sie euch lehren, das tut und daran haltet euch.“ Mit den Lehrern sind Schriftgelehrte gemeint. Leute, die das Wort Gottes gut kennen – das kann also nicht schaden. Im Wort Gottes steht viel von der Präsenz, die ich gerade beschrieben habe. Die pure Präsenz, das ist Gott. Das Sein an sich. Das was ist. Nicht Mann, nicht Frau, nicht Vater, Sohn und auch nicht Mutter.

Am ehesten vielleicht wie Musik. Gott ist.

Um das mit Kopf, Herz und Körper zu erkennen, reicht so manches irdische Leben nicht aus. Darum beschreibt es uns das Wort Gottes in Geschichten, Gedichten, Gleichnissen und Gesetzen. Jesus sagt nicht: „Lernt das auswendig.“ Er sagt auch nicht: „Ihr solltet wissen, wo das steht“, sondern er sagt: „Tut.“

Gemeint ist nicht, mal ausprobieren. Es geht ums Gewohnheiten schaffen. Ums wieder und wieder tun. Wir sollen uns daran halten und Veränderung bewirken. Das wird beim Dazu-lernen gerne vergessen: Lernen ist nicht Anhäufen von irgendwas. Nicht von Wissen, nicht von Erfahrungen, nicht von Gefühlen, Credit-Points, Tagebucheinträgen oder was auch immer. Warum nur hört frau viel mehr davon, dass sie sich optimieren kann, soll oder will und so wenig darüber, wie gottgewollt Veränderung ist? Ich empfinde es als Glücksfall, dass wir das Umkehren, das Sünde-Bekennen und neu Anfangen zumindest in unserer liturgischen Sprache pflegen.

Sympathisch ist mir daran auch, dass dieses Denken und Formulieren unserer Chancengleichheit vor Gott Ausdruck verleiht. Die eine bringt nicht mehr mit als die andere. Niemand ist schon so weit, dass sie nicht mehr umkehren muss. Wir sind alle Lernende. Da ist keine von uns, die sich nicht verändern dürfte.

Wie alles Wichtige im Leben ist das paradox. Wer ein brennendes Verlangen nach Wissen hat und wer Inhalte sammeln will, die wird nicht lernen, weil ihr die Offenheit fehlt sich zu verändern.

Es ist nicht lange her, dass ich das Wort Verlangen gelernt habe. Doch ich bin darin großartig! Ziemlich stolz auf meinen starken Willen, selbstbewusst als Frau und gerne stark in meinem Auftreten. Dass es reif und besonnen ist, nicht jedem Verlangen sofort nachzugeben, dass mich meine Freiheit, mir so viele Wünsche erfüllen zu können, oft zu ­einer Sklavin meines eigenen Wollens macht, ist wieder eines dieser Para­doxa, die ich höchstens in der Theorie verstehe.

Nur manchmal scheint auch bei mir im Alltag die Erkenntnis durch, dass ich weniger Stress haben müsste, wenn ich weniger tun würde und dass in meinem Kopf mehr Platz für Dinge wäre, die ich noch nicht weiß, wenn er sich nicht mit dem, was ich bereits zu wissen glaube, schon so voll anfühlen würde.
Meinem Herzen geht es da kaum besser. Es ist angefüllt mit unsortierten Gefühlen.

Ich habe einmal ein Kind verhungern sehen. Das war in Bangladesch in einem Krankenhaus. Das Kleinkind wurde völlig unterernährt und kraftlos gebracht. Es bekam sofort einen kalorienreichen Brei eingeflößt, doch es konnte die Nahrung nicht bei sich behalten und fiel in Ohnmacht. Eine Krankenschwester drückte mir das Bündel aus bunten ­Tüchern und dem sterbenden Kind in die Arme und schrie mich auf Englisch an, dass ich so schnell wie möglich mit ihm in den Reanimationsraum laufen sollte. Dort nahm man mir den kleinen Menschen sofort ab, schloss ihn an Schläuche und Kabel umringte ihn mit Ärztinnen und Helfern, die sich nach unendlich scheinenden Minuten zu mir umdrehten: „Es hat es nicht geschafft – du kannst gehen.“

Rumms – die Tür fällt hinter mir zu, ich stehe alleine auf dem Krankenhausflur und bin sofort tränenüberströmt. Dieses Kind ist verhungert! Ich schleppe 30 Kilo Übergewicht mit mir herum und da liegt jetzt ein ­totes, kleines Kind, das sie von den Schläuchen wieder befreien. Mir fällt niemand ein, auf den ich sauer sein kann.

Einerseits ist es so schwierig aus solchen Erlebnissen Kraft und Motivation zu ziehen, um sich für die bessere Verteilung von gesunder Nahrung in unserer Welt einzusetzen, andererseits ist genau diese Betroffenheit meine einzige Chance herauszufinden, worauf es wirklich ankommt.

Am besten im Lernen ist vermutlich unser Körper. Er formt sich entsprechend unserer Erfahrungen und wir lesen in­tuitiv die Körper unserer Mitmenschen. Wie aufrecht gehen sie durchs Leben? Wie leicht sind ihre Schritte und wie freundlich erscheint ihr Gesicht?

Unser Körper geht mit der Zeit. Dass seine stetige Veränderung einen solch schlechten Ruf hat, spricht leider nicht für eine Gesellschaft, in welcher wirk­liches Lernen und Veränderung gut angesehen ist. Das Leerwerden, sich von Vergangenem befreien, Vergebung im besten Sinne, hat höchstens in einem Wohnungsaufräumtrend Niederschlag gefunden. Zu entrümpeln, um nicht in nutzlosen Anhäufungen von Dingen seine Zeit und sich selbst zu verlieren, ist vielleicht die erste Erkenntnis, die zu einer Empfangsbereitschaft führt, um wirklich Neues an mich heran und in mich hinein zu lassen. Beachtet werden muss dabei nur, dass frau es nicht schon vorher gewusst hat, wie es kommt, wie es ist und was überhaupt von all dem zu halten ist, was kommt, was wir erfahren, fühlen, erleben und denken.

Das ist so mit dem Wort Gottes, dessen Kenntnis nicht automatisch zu seiner Umsetzung führt und das ist so mit neuen Migranten in unserer Nachbarschaft. Die müssen nicht in erster Linie möglichst schnell so werden, wie wir sind. Sie sind unsere Chance, neue Ideen, Perspektiven und Motive zu erleben, aufzunehmen, zu wachsen, zu reifen, uns selbst zu verändern. Nur wer seine eigene Prägung relativiert, kann geprägt werden.

Dieses Paradox gipfelt in der Beobachtung, dass Lehrerinnen oft selbst nicht gut sind, in dem, was sie unterrichten. Das lässt sich ganz praktisch dadurch erklären, dass Lehren oft ein Kompromiss ist, wenn die erhoffte Karriere ausbleibt. Von Georg Bernard Shaw stammt der berühmt gewordene Ausspruch: „Those who can, do. Those who can't, teach.“ Diesen Satz ausschließlich als Beleidigung aller Lehrenden zu verstehen ist symptomatisch für das Fehlen der heiteren Gelassenheit. Auch Jesus war davon überzeugt, dass frau von Schriftgelehrten lernen kann, selbst wenn diese in ihrem Tun das Schriftgelehrtesein nicht durchscheinen lassen. Jesus sagt: „Alles, was sie euch lehren, das tut und daran haltet euch. Aber haltet euch nicht an das, was sie tun, wenn ihre Worte nicht mit ihren Taten übereinstimmen.“ Hier ist keine Rede davon, dass sie schlechte Lehrer wären! Nur wenn ich die Chance zur Umkehr verpasse, weil eine Lehrerin in meinen Augen etwas Vorbildhaftes tun müsste, damit ich von ihr lernen könnte – dann bin ich eine schlechte Schülerin.

Anregungen zur Arbeit in der Gruppe:

Welche Situationen fallen Ihnen ein, in denen Sie durch Offenheit etwas dazu lernen konnten?

Schreiben Sie diese auf und tauschen Sie sich anschließend in Ihrer Gruppe darüber aus.

Carmen Khan, geb. 1983, arbeitet als Pfarrerin im Kirchenkreis Berlin-Tempelhof.
(Was Carmen Khan als Vikarin, die einen Muslim heiratete, erlebte, das lesen Sie in dem Artikel „Work-Love-Balance“ auf den Seiten 64ff.)

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