Ausgabe 1 / 2020 Andacht von Bärbel Fünfsinn

Mitgeschöpf Mensch

Andacht zu Psalm 8

Von Bärbel Fünfsinn

Psalm 8 ist ein Psalm, der zum Staunen über die Schöpfung einlädt und besonders die Gottebenbildlichkeit der Menschen feiert. Hören wir…
– Alle haben den Psalm ausgedruckt vor sich oder ihn in ihrer Bibel aufgeschlagen. Die Teilnehmenden sind eingeladen, sich zu merken, an welcher Stelle sie etwas stört oder besonders anspricht. Eine*r liest den Psalm langsam und deutlich vor. Nach einem Moment der Stille wird der Psalm reihum versweise noch einmal gelesen. Danach können alle in einer kurzen Runde ihre Gedanken mitteilen, ohne dass weiter drüber gesprochen wird.

1Für die musikalische Aufführung. Auf der Gittit. Ein Psalm. Von David.
Psalmen waren Gebets- und Liedertexte, die über Hunderte von Jahren immer wieder redaktionell bearbeitet wurden. Sie stammen sicher nicht von dem König David, wurden ihm, dem Messias-Vorvater, jedoch zugeordnet.

2Adonaj, du herrschst über uns alle. Wie machtvoll ist dein Name auf der ganzen Erde. So breite doch deine Majestät aus über den Himmel. Diese Übersetzung klingt in vielen Ohren schöner als die von Luther: „Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name.“ Da geht es bei der Bibel in gerechter Sprache deutlich weniger HERRlich zu. Dennoch bleibt der Vers irritierend. Gott ist für uns heute kein patriarchaler Herrscher mehr. Und wirklich herrschen tut er wohl auch nicht, sonst sähe die Welt anders aus. Nur die letzte Zeile – dieser Aufruf: „Breite doch deine Majestät“, deinen Glanz, deine Lieblichkeit, deine zärtliche, liebende Kraft über die Himmel, ja über die ganze Welt aus: Das ist nachvollziehbar und sicherlich auch unsere Bitte.

Wir wünschen uns sehnlichst, dass Gott regiert, dem Krieg und der Gewalt ein Ende bereitet. Ja, so sollte es sein. Gott, verstanden als die Macht in Beziehung, die Kraft der Liebe soll „herrschen“, soll uns alle leiten. Zu dieser Macht gehören wir, diese Macht ist für uns Gott, adonaj, deren Name übersetzt heißt: „Ich bin für Euch da“.

3Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht geschaffen gegen alle, die dich bedrängen, auf dass Feindschaft und Rache verstummen. Nach wie vor wird Gott in vielen Teilen der Welt und auch bei uns mit Allmacht verbunden. Wenn ER wollte, dann könnte er… – Manchmal tut er es. Das Bild des bedürftigen Kindes in der Krippe, das Gott repräsentiert, das Bild des Göttlichen, das sich in Babys und Kindern Bahn bricht – gegen alle Todesschattenmächte: Dieses Bild hat es nach wie vor schwer in unseren Köpfen, Herzen und Kirchen. Es wäre doch so schön, wenn endlich einmal eine oder einer daherkäme und alle Tränen und alles Leid einfach wegwischen würde. Doch Gott wirkt anders. Gott lockt, lädt ein.

Im Psalm wird Gottes Wirken mit dem von Kindern verglichen. Säuglinge in ihrer Bedürftigkeit weisen auf das hin, was nötig ist. Kinder verfügen oft über einen ausgeprägten Gerechtigkeits- und Wahrheitssinn. Diese Fähigkeit hat Power. Aber sie zeitigt keine schnellen Erfolge. Dafür ist sie, wenn Menschen ihr folgen, nachhaltig und andauernd. Der Psalm vertraut darauf, dass durch diese „schwache“, verletzliche Macht Feindschaft und Rache beendet werden können.

An dieser Stelle kann zu einem kurzen Austausch zu den vorgetragenen Gedanken eingeladen werden.

4Ja, ich betrachte deinen Himmel, die Werke deiner Finger: Mond und Sterne, die du befestigt hast – 5Was sind die Menschen, dass du an sie denkst, ein Menschenkind, dass du nach ihm siehst?

Wir kennen das Staunen über die Schönheit der Schöpfung. Der Mond, die Sterne, die Bäume, die Vögel, die Blumen – da gibt es so vieles, was uns beeindruckt: Wenn wir gezielt suchen nach den unzähligen Dingen in unserer Mitwelt, die unser Leben ohne unser Zutun bereichern, empfinden wir Dankbarkeit. Manchmal fühlen wir uns dann auch klein, besonders, wenn wir uns das Weltall mit seinen zahllosen Galaxien vorstellen.

Wir Menschen leben auf einem kleinen blauen Planeten. Trotz unserer Winzigkeit vertrauen wir darauf, dass Gott, zu der wir gehören, jede einzelne und jeden einzelnen von uns geschaffen hat, dass in jedem Menschen Gottes Geist wohnt. Unglaublich ist das. Und schön!

6Wenig geringer als Gott lässt du sie sein, mit Würde und Glanz krönst du sie. 7Du lässt sie walten über die Werke deiner Hände. Alles hast du unter ihre Füße gelegt: 8Schafe, Rinder, sie alle, und auch die wilden Tiere, 9Vögel des Himmels und Fische des Meeres, alles, was die Pfade der Meere durchzieht.

Diese Psalmverse sprechen wir vielleicht mit Zweifeln nach. Sind wir Menschen wirklich wenig geringer als Gott? Technisch und wissenschaftlich sind wir fast schon „Gott“. Wir klonen Tiere und menschliche Embryonen. In nicht allzu großer Ferne übernimmt die von Menschen gemachte Künstliche Intelligenz viele Bereiche im Alltag. Computer bestimmen dann unser Miteinander.

Längst haben wir uns alles „untertan“ gemacht, auch Wasser, Luft und Erde. So hat es der Psalm nicht gemeint, so wurde er jedoch häufig ausgelegt. Die Idee, dass die Menschen etwas Besonders, ja, die „Krone der Schöpfung“ seien, trug mit dazu bei, dass viele Christ*innen bis heute Flora und Fauna als zu benutzende Wesen beziehungsweise Dinge betrachten. Damals, zur Entstehungszeit der Psalmen, war es eine große Errungenschaft, so von den Menschen zu sprechen – und das ist es auch heute noch. Doch inzwischen können wir die schädlichen Folgen der Zentrierung auf die Menschen in unserer Kultur nicht mehr übersehen. Uns fehlt der Respekt vor der „mehr-als-nur-menschlichen-Welt“1, vor unseren Mitgeschöpfen. Die Agrarwissenschaftlerin und jüdische Theologin Deborah Williger sagt, dass unsere Kultur von Jugularismus geprägt ist; das Wort kommt vom lateinischen jugulare, abschlachten, und beschreibt das Herrschaftsverhältnis zwischen Menschen und Tieren. Es kann wörtlich als „Ideologie des Tiere Mordens“2  übersetzt werden. Das sieht bei uns so aus, dass massenhaft „industriell erzeugte Tier-Opfer“ sich hinter Schlachthofmauern verbergen oder offen in Fleischtheken ausliegen. Allein in Deutschland werden pro Jahr mehrere Millionen Tiere – Hühner, Puten, Schweine – „ermordet“. All das in einer angeblich „zivilisierten Kultur“.3

Kinder fühlen sich der Natur und den Tieren oft enger verbunden als viele Erwachsene. Diese „kindliche“ Verbundenheit gilt es wieder einzuüben. Wir müssen lernen und lehren, dass wir nur ein Teil dieser guten Schöpfung sind. Gottes Glanz spiegelt sich nicht nur in uns, sondern ebenso in den Tieren und Pflanzen. Wer mit Tieren zusammenlebt, weiß, dass sie fühlen können, Anteil nehmen, gewisse Bewusstseinsstufen erreichen. Tiere und sogar Pflanzen kommunizieren untereinander. Aber auch ohne solche Fähigkeiten sind sie einfach da und haben ein Recht zu sein, ohne für irgendetwas oder irgendjemand nützlich zu sein.

Nach Genesis 1 schuf Gott am sechsten Schöpfungstag die Tiere und (!) die Menschen. Und „siehe, alles, was Gott gemacht hatte, war sehr gut“ (V 31). Dieses „sehr gut“ der Schöpfung kann dort erst gesprochen werden, „nachdem die biblische ‚Ur-Demokratie‘ des gemeinsamen Essens in Gen 1,29-30 begründet ist, in der Nahrung allen gleich und frei zugänglich ist.“4 Die Essordnung ist für Menschen und Tiere vegan; idealerweise töten sie sich weder gegenseitig noch untereinander. Dies ist die Vision in Gen 1, die Brigitte Kahl als „Ur-Demokratie“ versteht. Der siebte Tag, der Sabbat, stellt „diese urzeitliche Solidarität und Interdependenz aller Lebenswesen im Verband mit den Pflanzen und der Erde“ wieder her.5 Die Menschen wissen mit Kopf und Herz, dass sie mit den Tieren und der Erde verbunden sind, dass sie zusammengehören und einander achten sollen. Dies verspricht ein gutes, heilvolles Zusammenleben. Das wird am Sabbat gefeiert, an dem alle, auch die Tiere und die Erde, ruhen dürfen.

Die Aufgabe der Menschen ist nicht, zu herrschen oder über „Gottes Werke [zu] walten“ (V 7). Die Würde und der Glanz der Menschen bestehen darin, den Mit-Geschöpfen so wenig wie möglich zu schaden. Gott beauftragt uns und traut uns zu, auf der Erde verantwortlich und respektvoll mit den anderen Mit-Geschöpfen zu leben. Natürlich soll es auch uns Menschen wohl ergehen, aber wir sind aufgerufen, das rechte Maß zu finden und zu leben.

Weniger – langsamer – besser! Dieses Motto ist auf unsere verschiedensten Lebensbereiche übertragbar, auch auf unsere Ernährungsweise. Was würde sein, wenn wir uns von der Vorstellung leiten lassen, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind, eng verbunden mit der mehr-als-nur-menschlichen-Welt? Dass wir alle Geschaffene und Geschaffenes sind?

– An dieser Stelle kann wieder ein kurzer Austausch folgen. Wenn ausreichend Zeit zur Verfügung steht, können die Teilnehmenden eingeladen werden, jede*r für sich oder in kleinen Gruppen selbst einen Psalm aus ihrer heutigen Sicht zu formulieren.
[ circa 10 Minuten ]

Anschließend werden die eigenen Texte freiwillig vorgetragen. Nach jedem Text sprechen alle zusammen: „Gott, dein Glanz leuchtet in der gesamten Schöpfung. Leuchte du durch uns.“

10Adonaj, du herrschst über uns alle. Wie machtvoll ist dein Name auf der ganzen Erde.

Wir beten:
Gott, die Du für uns da bist, zu Dir gehören auch wir Menschen.
Du hast uns mit Schönheit,
Verstand und Bewusstsein begabt.
Wir haben diese Gaben nicht gut genutzt. Die Tiere, ja unsere ganze Erde nutzen wir aus und zerstören sie.
Wir wollen, dass Deine Gegenwart in der gesamten Schöpfung wieder zum Glänzen kommt und heilen kann,
was jetzt unheilbar scheint.
Leite unsere Sinne
und unsere Entscheidungen,
damit wir dich immer und überall loben.

Wir singen:

Jeder Teil (Jeder Mensch / Jedes Tier) dieser Erde ist unserm Gott heilig.
Anmerkungen
1 Begriff von David M. Seidenberg, zitiert bei Deborah Williger, Jenseits der Grenzen, in: Journal of the European Society of Women in Theological Research 27, Leuven 2019, S.116, Anm. 30
2 Deborah Williger, ebd., S. 109
3 Deborah Williger, ebd., S. 111
4
Brigitte Kahl, Herrschaftsmandat als Herrschaftskritik: Grüne Hermeneutik im ersten Schöpfungsbericht der Genesis, in: Michael Biehl/Bernd Kappes/Bärbel Wartenberg-Potter, Grüne Reformation. kologische Theologie, Hamburg (Missionshilfe Verlag) 2017, S. 76
5
ebd. S. 24

Bärbel Fünfsinn ist Theologin und Musikerin. Sie war lange Zeit Lateinamerikareferentin in der Nordkirche, jetzt arbeitet sie als Lehrerin in Hamburg. – www.baerbelfuenfsinn.com

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