Ausgabe 1 / 2005 Editorial von Margot Papenheim

Mobilität

Von Lust und Last der Beweglichkeit

Von Margot Papenheim


Unter Mobilität sei „geistige Beweglichkeit“ zu verstehen und die „Häufigkeit des Wohnungswechsels“, sagt der Duden. Klingt gefühlsneutral. Meine Oma mochte das Wort nicht: Ihr Mann war mobil gemacht worden für den Frankreichfeldzug im Ersten Weltkrieg, und es hatte ihn den rechten Arm gekostet. Zum Glück wurden ihre beiden Söhne so spät geboren, dass sie der Mobilmachung im nächsten Krieg entgingen. Meine andere Oma musste den Fluch der frühen Geburt ertragen, sie verlor zwei ihrer Söhne in Stalingrad. Es ist also noch nicht so lange her, dass es Menschen lebensgefährlich erschien, wenn sie mobil gemacht werden sollten. Vielleicht berührt es mich deswegen immer so merkwürdig, wenn die Deutsche Bahn AG mich werben will mit dem Versprechen, mobil zu machen?

Und doch stimmt es ja: Wir leben in einer Zeit, in der „Mobilität“ zunächst positiv besetzt ist. Wer wollte nicht beweglich bleiben bis ins erwartet hohe Alter – geistig, aber vor allem auch in der Gestaltung des Alltags? Wer träumte nicht davon, wenigstens einmal um die ganze Welt zu reisen, den Geruch des Kongos zu atmen, mit eigenen Füßen den Sinai zu besteigen, sich im warmen Sand der Küsten Hawaiis zu sonnen, ein vorbeihüpfendes Känguru kurz hinter dem Stadtrand von Sydney zu fotografieren? Wer nutzte es nicht gerne, für das neue Sofa die Angebote acht riesiger Möbelhäuser „in der Nähe“ vergleichen zu können? Wer fände es nicht beruhigend, für die anstehende Herzoperation in die spezialisierte Klinik der übernächsten Großstadt zu gehen?

Und doch stimmt auch: Wer hätte sich nicht schon besorgt gefragt, wo der ständige Ausbau unseres Straßennetzes – mit immer mehr Autoverkehr und zubetonierten Wäldern als Folge – eigentlich enden soll? Wie die Umwelt den rasant anwachsenden Flugverkehr verkraften soll? Wer fände es nicht erschreckend, mit welcher Selbstverständlichkeit von Menschen erwartet wird, dass sie dorthin ziehen sollen, wo sie Arbeit finden? Dass, unter anderem demzufolge, immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft im Alter nicht mehr von ihren Kindern versorgt werden können? Dass es in manchen Gegenden Deutschlands aussieht, wie in verlassenen sizilianischen Dörfern in der Zeit des Wirtschaftswachstums vor einigen Jahrzehnten, als „die Jungen“ auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat verließen?

Jedenfalls stimmt: Das Thema hält auf Anhieb mehr offene Fragen als eindeutige Antworten bereit. Heutige Mobilitätserwartungen, -bedürfnisse und –verhalten zu verteufeln wäre ebenso naiv wie kritik- und fraglose Begeisterung. Diese Arbeitshilfe will Sie dazu anregen, sich in Gruppen mit zentralen Aspekten des Themas auseinander zu setzen. Und, hier und da vielleicht, Antworten zu entdecken, auf die Sie vorher so noch nicht gekommen sind.

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