Ausgabe 2 / 2014 Material von Judith Schalansky

Müde

Von Judith Schalansky


In ihrer Kammer in der Sporthalle war alles noch genauso, wie sie es vor den Ferien zurückgelassen hatte. Auf dem Tisch lagen Trillerpfeife und Stoppuhr. Die Vorhänge waren zugezogen. Angenehmes Dämmerlicht.
Wie müde sie auf einmal war. Sich hinsetzen. Nur kurz. Den Kopf an die Wand lehnen. Im Spiegel über dem Waschbecken ein Stück ihres Kopfes. Die Stirn. Die Falten. Der Haaransatz, die Haare grau, seit mehr als zwanzig Jahren. Ein paar Minuten durchatmen. Den blau-grauen Trainingsanzug auf dem Schoß. Die Beine nackt, käsig, als hätte es keinen Sommer gegeben. Auf den Oberschenkeln fühlen sich die Handflächen kühl an. Die Wärme schob sich in Wellen aufwärts. In den Kopf. Über den Augen ein Flimmern und plötzlich Schweiß. Eine Hitzewallung wie aus dem Lehrbuch. Das lernten sie nämlich nicht. Die zweite Verwandlung des Körpers wurde ihnen verschwiegen. Der schleichende Rückbau. Verkümmerung des Gebärtraktes. Einstellung der Periode. Trockene Scheide. Welkes Fleisch. Immer ging es nur ums Blühen. Herbst. Meine Güte. Ja, es war Herbst. Blätterrauschen. Wo sollte jetzt noch ein zweiter Frühling herkommen? Es war lachhaft. Die Ernte einfahren. Netze einholen. Dankfeststimmung. Rentenvorfreude. Lebensabend. Über allen Gipfeln war Ruh. Aber woher kam diese Müdigkeit? Vom Wetter oder vom ersten Schultag? (…)

Wolfgang war noch bei den Straußen. Bis er nach Hause kam, blieb noch Zeit. (…)
Der Betreff der Mail hatte zwei Wörter. Das Herz, den pulsierenden Muskel, spürte sie plötzlich bis in den Hals: Just married. Diese Worte verstand selbst Inge Lohmark, obwohl sie kein Englisch konnte. Just also. Sie klickte auf die unterstrichene Zeile. Da war das Foto. Ein grinsendes Paar, beide in Weiß. Zwei Fremde. Steven stand da. Steven and Claudia. Darunter verschlungene Ringe und zwei schnäbelnde Tauben. Glückwunschkartenvögel. Friedensverkünder unterm Regenbogen. Dabei waren die doch bekannt dafür, sich gerne zu hacken. Nur eine abartige Inzuchtzüchtung hatte ihnen diese Unschuldsmiene verpasst. (…)

Sie musste sofort gehen. Es hatte gar keinen Sinn, hier noch einen Moment länger zu sitzen und sich von diesem Zirkusdirektor demütigen zu lassen. Der nächste Bus fuhr erst um sechs. Ab morgen würde sie wieder das Auto nehmen. Warum saß sie noch hier?
Kattner schaute sie herausfordernd an. Ihr Körper, kraftlos. Der Kopf, so schwer. Das Gehirn war ein enormer Energiefresser. Die Seescheide, ein wirbelloses Knollentier, trennte sich einfach davon, sobald es erwachsen war und sesshaft wurde. Die Quallen hatten auch kein Gehirn. Die kamen mit einem Nervennetz gut durchs Leben. Dieser Kopf. Schon für die Geburt zu riesig. Leichtkalbig war der Mensch nicht gerade. Dieses viel zu große Gehirn. Ein Wissensspeicher, überdimensioniert wie das Geweih des eiszeitlichen Riesenhirsches, die Stoßzähne des Mammuts, die langen Eckzähne des Säbelzahntigers. Ein Verhängnis. Eine Sackgasse. Irgendwann. Was nützte es? Diese Anhäufung von Wissen. Das, was wir nicht wussten, und das, was wir noch nicht wussten, und all das, was wir in Zukunft wissen würden. Disziplinloses Unkraut. Da half keine Weiterbildung. Man kam nicht hinterher. (…) Ein Tier müsste man sein. Ein wirkliches Tier. Ohne ein Bewusstsein, das den Willen hemmt. Tiere wussten immer, was sie taten. Oder besser, sie brauchten es gar nicht zu wissen. Bei Gefahr warf die Eidechse ihren Schwanz ab. Überflüssigen Ballast einfach loswerden. Dass man immer darüber nachdenken musste, was als Nächstes zu tun war, wie man sich am besten zu verhalten hatte. Tiere kannten ihre Bedürfnisse, hatten einen Instinkt. Hungrig oder satt, müde oder wach, ängstlich oder paarungsbereit. Sie taten es einfach. Sie folgten der Herde, schwammen zur Quelle, legten sich gähnend in die Sonne oder in den Schatten, je nachdem. Fraßen sich eine Fettschicht an. Hielten Winterschlaf.
Kattner knipste die Schreibtischlampe an. Es war schon dunkel geworden. Das Licht fiel auf seinen Mund. Die Augen im Schatten. Wo war ihr Instinkt geblieben? Wie war sie hierhergekommen? Wo war der Schwanz, den sie jetzt abwerfen konnte?


Auszüge aus:
Der Hals der Giraffe
Bildungsroman
© Suhrkamp Verlag
Berlin 2011

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