In der steirischen Drachenhöhle, die einst von unseren Vorfahren bewohnt wurde, fanden Archäologen sechs kleine weiße Steinmurmeln von ungeklärter Herkunft. Alles, was die Prähistoriker herausfinden konnten war, dass die Kügelchen nicht aus diesem Gebiet stammten, sondern von irgendwoher an diesen Ort transportiert worden waren. Ob die Höhlenbewohner sie tatsächlich als Murmeln benutzt oder ob sie, wie gemutmaßt wird, religiöse Zwecke zu erfüllen hatten, lässt sich nicht mehr feststellen. Schwer fällt es jedenfalls nicht, sich vorzustellen, dass die Jungen und Mädchen bereits damals, als Europa noch zum größten Teil mit Gletschern bedeckt war, vom Klickern fasziniert waren.
Im fruchtbaren Tal des Nils haben Archäologen ein Kindergrab entdeckt. Warum dieses Kind so früh starb, kann heute niemand mehr feststellen. Das einzige, was man von ihm weiß, ist, dass es zu Lebzeiten geschussert haben muss, denn man fand, zusammen mit anderen Grabbeigaben, eine Handvoll Steinmurmeln neben seinem Körper.
Murmeln und Nüsse sind den römischen Kindern genauso kostbar, wie den Erwachsenen Gold, meinte einst der römische Schriftsteller Augustinus. Und er hatte recht, denn das Murmelspiel (oder das Nüssespiel, bei dem statt mit Murmeln mit Nüssen geschussert wurde) zählte zur Zeit der alten Römer zu den beliebtesten Kinderspielen. Das Nüssespiel war im alten Rom ein so wichtiger Bestandteil des Lebens, dass sogar die Sprache davon geprägt wurde. Man redete bildlich von nucibus relictis, den zurückgelassenen Nüssen, wenn man die hinter sich liegende Kindheit meinte und ausdrücken wollte, dass ein junger Mann jetzt erwachsen war. Das Nüsse- und Murmelspiel von nun an den kleineren Kindern zu überlassen, war nicht immer leicht gewesen. Allzu groß war die Versuchung, und so mancher, der ihr nicht widerstehen konnte, machte sich zum Gespött der Leute. Auch der römische Kaiser Augustus zählte zu jenen passionierten Spielern, die das Klickern einfach nicht lassen konnten. Wann immer er eine Gruppe schussernder Knaben sah, schloss er sich ihr an, um einige Runden mitzuspielen. Auch wenn ganz Rom über ihn lachte, der Kaiser ließ sich nicht beirren: er klickerte trotzdem weiter.
Seit dem Mittelalter hatte das Spiel und vor allem das Glücksspiel, zu dem auch das Murmelspiel gezählt wurde, als anrüchig gegolten. Man hielt es für eine Erfindung des Teufels, der damit die Menschen verführen wollte, und eben das war es, wovor die Erwachsenen ihre Kinder bewahren wollten.
Luther dagegen war schon fast fortschrittlich eingestellt. Obwohl auch er überzeugt war, dass „das junge Volk viel zu viel Zeit verschläffe, vertanze und verspiele“, meinte er immerhin, dass es wichtig sei, die Energien, die die Kinder mit „Käulichen schießen“ verbrächten, sinnvoll zu nutzen. Anstatt sie zu bestrafen schlug er vor, sie zur Schule zu schicken, damit sie dort etwas Vernünftiges lernten. Vor allem aber erkannte er, dass Spielen ein wichtiger Bestandteil des Lebens sei. „Denn was ist dies alles denn eitel Kinder Spiel? Auch die Griechen haben ihre Kinder ja darin vor Zeiten erzogen und trotzdem sind darauf geschickte und tüchtige Leute geworden“.
aus: Murmeln, Schusser, Klicker
© Heinrich Hugendubel Verlag, München 1986
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024
erschienen. Der Abschluss eines Abonnements
ist aus diesem Grund nicht mehr möglich.
Leicht&Sinn - Evangelisches Zentrum Frauen und Männer gGmbH i. L. | AGBs | Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen | Kontakt
Wenn Sie noch kein Passwort haben, klicken Sie bitte hier auf Registrierung (Erstanmeldung).