Ausgabe 2 / 2004 Artikel von Hamideh Mohagheghi

Muslimische Frauen in Deutschland

Zahlen, Fakten, Hintergründe

Von Hamideh Mohagheghi

 

Die Lebensweise der in Deutschland lebenden muslimischen Frauen ist ein aktuelles Thema in der Gesellschaft und Politik. Die kontroversen Diskussionen zeichnen meistens ein schwarz-weißes Bild, das der Realität und Buntheit der Lebensweisen der muslimischen Frauen nicht entspricht.

Dieses Bild zeigt die muslimische Frau als Mensch zweiter Klasse, unterdrückt und unselbständig. Sie ist unmündig, und ihr Leben wird vom Vater, Bruder und Ehemann bestimmt. Ihre Kleidung gilt als Gefährdung der „soliden“ Erziehung der heranwachsenden Generation in Deutschland, weil dadurch ihre Unterordnung dargestellt wird. Ihr Kopftuch signalisiert eine anti-demokratische Botschaft, es ist ein Zeichen der Unfreiheit und muss durch Verbot und Zwang bekämpft werden.


Die Wirklichkeit ist bunt

Die genaue Zahl der Muslime in Deutschland ist nicht bekannt. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes über die Bevölkerung nach Religionszugehörigkeit erfassen die evangelische, katholische und jüdische Bevölkerung, aber nicht die muslimische. (1) Schätzungsweise leben 3,2 Millionen Muslime in Deutschland, davon sind ca. 1,5 Millionen Frauen. Sie stammen aus der Türkei, Kosovo, Albanien, Iran, Afghanistan, Nordafrika, Algerien und Marokko, süd- und ostasiatischen Ländern. Die muslimischen Frauen aus der Türkei bilden die größte Gruppe in Deutschland.

Es gibt eine Vielfalt von Lebensformen, die durch kulturelle, historische, soziale und individuelle Faktoren geprägt sind. Diese Aspekte beeinflussen das Verständnis von Religiositat und ermöglichen unterschiedliche Erscheinungsformen der gelebten Religion.Die empirische Beobachtung der hier lebenden muslimischen Frauen (2) erweist folgende Frauengruppen:

– Frauen aus der ersten eingewanderten Generation der Muslime in Deutschland: Sie kamen mehrheitlich aus ländlichen Gebieten, waren entweder selbst als Arbeiterinnen eingereist oder als Ehefrauen der Arbeiter. Sie stammten aus einfachen sozialen Verhältnissen, oft ohne schulische Bildung. Ihre Absicht war, durch gesichertes und verhältnismasig gutes Einkommen ihrer Familie ein besseres Leben als im Heimatland zu sichern. Ihre Religiositat basierte auf den traditionellen und patriarchalischen Lebensformen. Ihr einfaches Leben bestand aus Arbeit und Familie – und der Hoffnung, nach einigen Jahren harter Arbeit wieder in die Heimat zurückzugehen.

– Frauen, die ihre klassische Rolle als Mutter und Ehefrau bewusst leben und darauf stolz sind, verantwortungsvolle und gute Kinder zu erziehen: Sie sehen diese Aufgabe als ehrenvoll und existentiell fur den Erhalt der Menschheit und der Schöpfung an. Daher empfinden sie sich nicht als Menschen zweiter Klasse, wenn sie „nur“ zuhause sitzen und „nichts anderes“ tun. Jede Tätigkeit neben dieser Aufgabe empfinden sie als Verrat an der heranwachsenden Generation, die durch ihre Vernachlässigung in der Erziehung mit Orientierungslosigkeit und Problemen konfrontiert werden könnte.

– Es gibt Frauen, die massiv von ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern unterdrückt, missbraucht und misshandelt werden. Manche wehren sich nicht dagegen, weil sie ihre Situation als gottgegeben hinnehmen und auf Belohnung im Jenseits warten. Es gibt aber auch Frauen, die sich mutig gegen diese unmenschlichen Situationen wehren und mit grosen Anstrengungen dagegen kämpfen.

– Viele Frauen sehen sich in der Lage, neben der Familie auch anderen Tätigkeiten nachzugehen, die für die Gesellschaft von Bedeutung sind. Sie arbeiten uberwiegend im Bildungswesen und in sozialen Einrichtungen. Die ehrenamtlichen Tätigkeiten, die nicht mit großen Namen und Organisationen geschmückt sind, werden meistens von Frauen getragen.

– Frauen, die sich gegen die klassische Form der Rollenverteilung der Geschlechter wehren, sehen ihre Lebensaufgabe darin, sich stärker in die Gesellschaft einzubringen. Allerdings sind sie nicht ganz gelöst von dem Gedanken, dass die Familie vor der Karriere steht. Sie vereinbaren beides – solange sie der Familie nicht schaden. Sie setzen sich mit dieser Rolle auseinander und versuchen Wege zu finden, beide Aufgaben so gut wie möglich zu bewältigen.

– Wieder andere Frauen entscheiden sich für eine Individualität, sehen Bindung und Familie als Einschränkung der persönlichen Freiheiten und Unterordnung und befreien sich davon. Diese Befreiung hat in unterschiedlichen Familien unterschiedliche Konsequenzen, die von Akzeptanz bis zu Bedrohung und auch Ausschluss aus der Familie reichen. Dennoch gehen sie diesen Weg, um in Freiheit nach ihrem Verständnis leben zu konnen.

– Es gibt überzeugte religiöse Frauen, die ihren eigenen individuellen Weg suchen, um das Leben in der hiesigen Gesellschaft mit der religiösen Lebensform zu vereinbaren. Daher müssen sie sich von den traditionellen Tendenzen lösen und die Essenz der islamischen Lehre erlernen. Dafür gibt es mittlerweile Frauenorganisationen und Netzwerke, die auch Bildungsarbeit leisten. Dies ist ein schwieriges Vorhaben, das eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Religion und der hiesigen Gesellschaft erfordert. Eine optimale Verbindung kann dann entstehen, wenn Kenntnisse über die eigene Religion und die hiesige Gesellschaft vorhanden sind und die Bereitschaft besteht, sich mit beiden kritisch auseinander zu setzen. Dies führt nicht selten zu Konflikten mit den bestehenden Werten und Normen in der Familie, die teilweise noch stark von den mitgebrachten Traditionen und Kulturen geprägt ist.

Es liegen keine genauen Zahlen darüber vor, welche der genannten Gruppen in Deutschland die Mehrheit bildet. Die Beobachtungen zeigen, dass ein Teil der jungen Generation sich verstärkt für eine säkulare Lebensform entscheidet, in der die Religion keine große Rolle spielt. Es gibt aber auch junge muslimische Frauen, die ihre Religiosität bewusst leben und sich an den islamischen Werten orientieren.


Mitmachen ist nicht leicht

Für die praktizierenden muslimischen Frauen gibt es in Deutschland einige Probleme, die ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben behindern. Die aktuellen Diskussionen zeigen das Ausmaß der Schwierigkeiten.

Die ominöse Realität in manchen muslimisch geprägten Staaten, die herrschenden totalitären Systeme, in denen das Volk und besonders die Frauen unter menschenunwürdigen Situationen leben, werden derzeit als Islam schlechthin dargestellt. Demzufolge wird „dem Islam“ ein Potenzial der Gefährdung von Demokratie und Freiheit zugeschrieben. Zugehörigkeit zu dieser Religion, besonders wenn sie äußerlich gezeigt wird, kann als Grund für Verdächtigungen gelten. Muslimische Frauen, die sich für eine islamische Kleidung entscheiden, haben einen schweren Stand in der Gesellschaft.

Das Leben mancher muslimischer Frauen, die aus patriarchalischen Gesellschaften stammen, ist mit Werten und Maßstäben belastet, die ihnen ein Leben außerhalb der Traditionen erschweren. Für diese Frauen ist das Leben in anderen Ländern eine Chance, sich von den verbohrten Traditionen zu befreien. Dies bedeutet aber nicht, dass sie alle ihre Werte und Lebenseinstellungen ändern oder aufgeben müssten. Für gläubige Muslime gibt es Grundprinzipien, an die sie sich halten können, ohne dadurch unfähig zu sein, in einer modernen und demokratischen Welt zu leben. Die Verantwortlichkeit gegenüber Gott und der Schöpfung drückt sich oft in täglichen Ritualen und Handlungen aus, die auch von der Öffentlichkeit wahrnehmbar sind.

Das Beharren darauf, dass die Kleidung der muslimischen Frauen als Zeichen der politischen Einflussnahme oder der Unterdrückung abzulehnen sei, führt dazu, dass die Beweggründe und Argumentationen der muslimischen Frauen völlig ignoriert werden. Muslimische Frauen, die sich für islamische Kleidung entscheiden, sehen darin ein Zeichen ihrer Religiosität, die ein Ausdruck ihrer Gottesehrfurcht und der Schutz ihrer Würde ist. Sie wollen sich damit weder aus der Gesellschaft ausschließen noch wollen sie extremistisches Gedankengut verbreiten. Die persönliche Entscheidung und das eigene Verständnis der Religiosität ist das Motiv – und nicht die Unterordnung unter den Willen der anderen. Daher ist für sie nicht tragbar, wenn sie nicht nach ihrer Kompetenz, sondern nach ihrem Aussehen beurteilt werden oder wenn ihre Lebensform immer wieder mit extremen Strömungen in Verbindung gebracht wird. Sie sehen darin eine Diffamierung ihrer Lebenseinstellung und die Verwehrung ihrer beruflichen Entfaltung. Von einer Frau, die  us eigener Überzeugung eine bestimmte Lebensform wählt, zu erwarten, dass sie diese aufgibt, um in der Gesellschaft mitzuwirken zu können, bedeutet, die Aufgabe eigener Identität und Überzeugung zu erwarten.

Es ist eine Realität, dass zahlreiche Frauen im Namen des Islam Ungerechtigkeiten erfahren und ein menschenunwürdiges Leben führen. Diese Realität ist auch ein Anliegen der gläubigen muslimischen Frauen, die nach Wegen suchen, dem entgegen zu treten. Sie sehen in der islamischen Lehre Ressourcen zur Bekämpfung solcher Missstände. Für ihre Arbeit suchen sie Hilfe und Unterstützung von verantwortungsbewussten Menschen, die sie so akzeptieren und respektieren wie sie sind. Die Reduzierung dieser Frauen auf ihre Kleidung, die ihre Disqualifikation von der aktiven Teilnahme in der Gesellschaft zufolge hat, beeinträchtigt massiv die konstruktive Zusammenarbeit und die Hilfe für die betroffenen Frauen.

Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen: Es gibt keine homogenen Gesellschaften mehr, und es ist unvermeidbar, dass unterschiedliche Kulturen und Religionen mit ihren Besonderheiten dicht neben einander leben. Die jeweils anderen in ihrem Selbstverständnis wahrzunehmen ist daher der einzige Weg, sie zu verstehen und als gleichberechtigte Menschen zu akzeptieren – wenn auch ihre Lebensweisen von den vertrauten Lebensformen abweichen.


Vermitteln ist angesagt

Mittlerweile gibt es einige muslimische Frauenorganisationen in Deutschland, die sich als Vermittlerinnen verstehen und schwerpunktmäßig in diesem Bereich arbeiten. Das Fundament ihrer Einstellung und Arbeit liegt in ihrem Verständnis vom Islam. Sie sehen zwischen den islamischen Werten einerseits und Modernität und Freiheit andererseits keinen Widerspruch und können beides miteinander vereinbaren. Für sie bedeutet Integration, die Vielfalt der individuellen Persönlichkeiten zu einer Einheit zu verbinden, in der es gemeinsame Werte gibt und jeder einzelne das Recht auf eine individuelle Lebenseinstellung und Lebensform hat. Die einzelnen Personen sind verpflichtet, die gemeinsamen Werte und Gesetze zu akzeptieren und zu verteidigen. Die Mehrheit der muslimischen Frauen sind in diesem Sinne in Deutschland integriert und möchten im Rahmen der Gesetze dieses Landes aktiv in der Gesellschaft mitwirken.

Frauen, die sich in muslimischen Frauenorganisationen engagieren, suchen die Quellen ihrer Emanzipation und ihres selbständigen Lebens in einer Bereinigung der Interpretation qur'anischer Normen und Werte von patriarchalischen Beeinträchtigungen. Sie suchen unter Wahrung ihrer islamischen Identität Wege zur Wiedergewinnung ihrer verlorenen und verleugneten Rechte. Sie versuchen, die fundamentalen Prinzipien des Qur'an – wie die Gleichwertigkeit der Geschlechter, ihre Erschaffung aus einem einzigen Wesen und die Förderung der partnerschaftlichen Beziehung zwischen Mann und Frau – stärker in den Vordergrund zu stellen. Sie bemühen sich, den Frauen Mut zu machen, ihre Rechte einzufordern. Für derartige Aktivitäten bietet diese Gesellschaft viele Möglichkeiten.

Diese Frauen aus der hiesigen Gesellschaft auszuschließen, hätte verheerende Folgen für die Befreiungsbewegungen sowohl in Deutschland als auch in der gesamten muslimisch geprägten Welt. Differenzen in Lebenseinstellungen und Lebensformen, solange sie mit dem Grundgesetz und den demokratischen Werten konform sind, sind eher als Bereicherung zu sehen. Die Uniformierung der Denkweisen und Lebensformen kann nicht das Ziel der Modernität und Demokratie sein.

Anmerkungen:
(1) Vgl. die Veröffentlichung der Zahlen des Statistischen Bundesamtes im Internet unter: www.destatis.de / Bevölkerung / Bevölkerung nach Altersgruppen, Familienstand, Religionszugehörigkeit
(2) Diese Kategorisierung wurde durch die eigene Arbeit mit muslimischen Frauen aufgestellt.

Literatur:
Angelika Vauti/Margot Sulzbacher (Hgg.), Frauen in islamischen Welten – Eine Debatte zur Rolle der Frau in Gesellschaft, Politik und Religion, Frankfurt 1999
Lise J. Abid, Journalistinnen im Tschador – Frauen und gesellschaftlicher Aufbruch im Iran, Frankfurt 2001
Fatima Mernissi, Der politische Harem – Mohammed und die Frauen, Frankfurt 1989
Ulrike Bechmann, Sevda Demir, Gisela Egler, Frauenkulturen, Düsseldorf 2000

Hamideh Mohagheghi, geboren 1954 in Teheran/Iran, absolvierte ein Jurastudium an der schahid Beheschti Universität (Teheran) und eine Islamische Theologieausbildung in Hamburg /Initiative für Islamstudien. Sie arbeitet als freiberufliche Referentin fur interreligiösen und interkulturellen Dialog und ist Stellvertretin der Vorsitzenden des HUDA-Netzwerks für muslimische Frauen e.V. sowie Mitarbeiterin der Redaktion der Zeitschrift HUDA. Sie plant und führt Seminare durch zur Weiterbildung von Religionslehrkräften, Pastorinnen und Pastoren zum Thema Islam.

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