Alle Ausgaben / 2015 Material von Sylvia Wetzel

Muße und Politik

Von Sylvia Wetzel

Muße ist für mich in Anlehnung an Hannah Arendt zweckfreie Zeit, frei von äußeren und inneren Zwängen. Und diesen Raum brauchen wir, damit wir selber denken lernen, aber auch die Grenzen des Denkens erkennen und sie vielleicht transzendieren. Ich halte die Bereitschaft zur Muße in unserer Zeit, die von Unernst und Langeweile, Überforderung und besinnungsloser und nutzloser Hektik geprägt ist, für einen revolutionären Akt. Aber nur dann, wenn wir in Verbindung bleiben mit unseren Mitmenschen, und zwar nicht nur gefühlsmäßig und privat, sondern als Bürgerinnen und Bürger eines aufgeklärten, demokratischen und säkularen Verfassungsstaates.

Eine so verstandene Muße ist für mich der Schlüssel zu einem guten Leben und die Grundlage für eine wertschätzende und zugleich kritische Haltung zu Kultur, Gesellschaft und Politik. Ohne Muße sind wir nicht in der Lage, unser Leben zu schätzen und zugleich zu hinterfragen und einen Gegenentwurf zum Bestehenden zu entwerfen, und das gilt ganz besonders für Umbruchzeiten wie der unseren. Ohne Muße bleiben wir in schwierigen Zeiten in Empörung und bloßer Kritik stecken oder resignieren und ziehen uns zurück in ein scheinbar belastungsarmes Leben, ganz privat und familiär oder in einer freien Single-Existenz ohne viele Verpflichtungen. Doch selbst ein gutes privates Leben bleibt ohne Bezug zur gemeinsamen Welt flach und arm.

SELBSTVERTRAUEN UND WOHLBEFINDEN
Freiräume und Muße sind kein Luxus, auf den aktive Menschen auch verzichten können. Sehr bedenkenswert finde ich einen Hinweis des buddhistischen Psychotherapeuten John Welwood in seinem Buch Psychotherapie und Buddhismus. Er stellt folgende These auf: Kleine Kinder entwickeln gesundes Selbstvertrauen und Wohlbefinden durch die Erfahrung von Kontakt und Raum. Kleine Kinder brauchen regelmäßig und kontinuierlich Kontakt mit Menschen, denen sie vertrauen, und Freiräume, in denen sie zwanglos und zweckfrei spielen können. Ich glaube, dass auch Erwachsene von dieser Kombination von Kontakt und Raum ihr ganzes Leben lang enorm profitieren.

Wir brauchen beides, Raum oder Phasen der Muße und Kontakt mit anderen Menschen. Regelmäßige Mußestunden im Alltag helfen uns, das für die jeweilige Lebensphase und den Kontext rechte Maß von Bewegung und Ruhe, Tun und Lassen, Input und Verarbeiten, von Alleinsein und Zusammensein zu finden. Um Selbstvertrauen und Wohlbefinden bei uns und anderen zu fördern, brauchen wir beides, Raum und Kontakt: Freiräume, in denen wir unsere Impulse, unsere Anliegen, unseren roten Faden spüren und zum Ausdruck bringen können, und Begegnungen mit anderen. Wir brauchen Unterschiedliches: Spiel und Zerstreuung, Gespräche und Herausforderungen, Alleinsein und Stille und Aktivitäten mit vertrauten Menschen. Kontakt und Raum, denn Freiräume allein reichen nicht, Kontakt allein aber auch nicht.

Übungen

MEIN AKTIVES LEBEN
Warum arbeite ich? Wie viel Zeit verbringe ich als animal laborans damit, Geld zu verdienen und das Leben zu erhalten? Wie viel Zeit verbringe ich mit dem Genuss oder der „Herstellung“ von Kultur und Kunst? Auf welchem Tun beruht meine Identität als Person? Was ist der Sinn meines Lebens bzw. was darin finde ich sinnvoll? Worin besteht meine berufliche Identität? Im Geld verdienen, in einer beruflichen Rolle? In einem bestimmten Tun? Wie viel Zeit verbringe ich mit der Pflege von Beziehungen im öffentlichen Raum? Was tue ich für Angehörige und Nahestehende? Wie viele Stunden entfielen in den letzten Monaten auf die drei Bereiche des aktiven Lebens: Lebensunterhalt, Kultur, Politik?

MUßESTUNDEN
Wir schauen uns die letzte Woche an: Wie viel Mußestunden gab es? Wie sehen meine Mußestunden aus? Was tue ich, wenn ich „nichts“ tue? Wie sehen die Mußestunden meiner nächsten Angehörigen aus? Meiner Freundinnen, Nachbarn, meiner Arbeitskollegen und Meditationsgeschwister? Was tun diese Menschen, wenn sie nicht arbeiten, sich nicht von der Arbeit erholen müssen, wenn sie „nichts“ tun?
Wie viel Zeit verbringe ich mit Selberdenken und zweckfreiem Nachdenken? Mit „religiösen“ oder „spirituellen“ Übungen, Themen und Anliegen? Mit existenziellen Fragen und dem Erforschen der Grenzen meines Denkens?

aus:
Achtsamkeit und Mitgefühl. Mut zur Muße statt Hektik und Burnout
Mit einem Vorwort von Luise Reddemann
© Klett-Cotta (Leben lernen 267),
Stuttgart 2014

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