Alle Ausgaben / 2013 Material von Dorothee Sölle

Mystik ist eine Frauenangelegenheit

Von Dorothee Sölle


Mystik und organisierte Religion verhalten sich wie Geist zur Macht.

Die bei Thomas von Aquin und Bonaventura auftauchende Definition der Mystik als erfahrungsbezogene Gotteserkenntnis enthält eine hierarchieunabhängige, und das bedeutet praktisch eine frauenfreundliche Dimension. In ihr wird ein Freiraum zugestanden, es gibt neben dem ordentlichen Weg zu Gott, der durch die Institution der Kirche, die Lehrautorität des Amtes und der von ihm verwalteten Schrift geordnet ist, auch noch einen anderen nicht-kanalisierbaren, experimentellen Zugang zu Gott, der am Rande der Institution geduldet wird. Kein Zufall, dass dieser Rand der bevorzugte Ort von Frauen war, die im Zentrum der sakralen Macht nicht zugelassen waren. Hier erkennen sie Gott unmittelbar, die Grenzen rationaler Erkenntnis übersteigend, aber auch die schon bekannte Welt der Gefühle verändernd, sie in ein anderes Licht tauchend. Hier fangen sie an, nach ihrer eigenen Sprache zu suchen. Mystik ist eine Frauenangelegenheit, nicht ausschließlich, aber in der christlichen Mystik überwiegend, was am schärfsten von den Gegnern des mystischen Denkens gesehen wurde; wenn sie um große mystische Denker nicht herumkommen, betonen sie gern, wie „männlich“ diese doch gewesen seien!

Indem ich die klassische Definition von Mystik so verstehe, entferne ich mich, hermeneutisch gesprochen, von der im Feminismus grundlegenden Deutung des Christentums als einer ungebrochen patriarchalen Tradition der Unterdrückung. Ich suche einen Ort auf, an dem Widersprüche zum Geist des Androzentrismus und der Männerherrschaft sichtbar werden. Mystik, begriffen als cognitio Dei experimentalis, ist ein solcher Ort, nicht nur, weil Frauen ihn immer wieder besetzt haben, sondern auch weil die Religiosität der Mystik, ihr „Inhalt“, die Grundvoraussetzungen patriarchalen Denkens, nämlich Macht und Herrschaft über „das Andere“, sei es das andere Geschlecht, die Natur oder andere Rassen und Zivilisationen, zu überwinden sucht.


aus:
Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei
© 1997 by Hoffmann und Campe Verlag
Hamburg

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang