Alle Ausgaben / 2015 Artikel von Christel Schürmann und Anke Steger

Mythos Mutter-Gott

Mütterlicher Trost hat kein Geschlecht

Von Christel Schürmann und Anke Steger

Um es gleich vorweg zu nehmen: die Mutter gibt es nicht. Nicht bei Raben, nicht bei Katzen, nicht für Puppen und erst recht nicht bei Menschen.

Eine Rabenmutter kümmert sich durchaus um ihre gerade geschlüpften Vogelbabys. Eine Katzenmutter findet ihre Jungen nicht süßer als andere Tiermütter. Eine Puppenmutti kann recht rabiat mit ihren Plastikbabys umgehen. Menschen verstehen die Mutterrolle sehr unterschiedlich. Nicht jede ist Mutter, aber jeder_r hat eine Mutter und trägt in sich Mutterbilder, die es zu entdecken gilt.

Gott sagt im Jesajabuch: Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten. Welche Bilder ruft dieses Gottesbild in uns wach? Meint der Autor: Gott kann weich, behütend sein, Geborgenheit schenken? Wir sind von anderen Bildern geprägt: Heiligabend hören wir vom Herrn der Heerscharen (Zebaot), bevor Krippe mit Mutter und in Windeln gewickeltem Gotteskind eine verletzliche und zutiefst menschliche Seite Gottes betonen. Gott hat mütterliche und viele andere Facetten. Gott und Mensch sind vielfältig in ihren Rollen und in ihrem Erscheinungsbild. Gott und Mensch können Mütterliches ausstrahlen, aber eben nicht ausschließlich. Sie auf eine Rolle zu reduzieren, wird ihnen nicht gerecht.

Zwischenruf: „Bei Trauergesprächen möchte ich eine Ahnung davon be­­kommen, was der Verstorbenen wichtig war und woran sie Freude hatte. Ältere ­Frauen werden oft in ihrer mütterlichen Sorge-Rolle beschrieben: ‚Sie war immer für alle da'. Und darüber hinaus? Was mochte sie? Welche Hobbys hatte sie? Oft folgt dann Schweigen. Und Sätze wie: ‚Die Kinder waren ihr Hobby. Sie hat sich immer um alle gekümmert. Alle waren gern bei ihr.' Ich frage mich, ob das dem Selbstverständnis der Verstorbenen entsprach. War sie 24-Stunden-Sorge-Frau? Oder ist sie ausschließlich in dieser Rolle wahrgenommen worden?“

Menschen werden in ihren Rollen wahrgenommen. Den Verkäufer nehme ich in seiner beruflich bedingten Rolle wahr; er hat noch viele andere Facetten, die aber für meinen Einkauf „keine Rolle spielen“. Doch Menschen leiden darunter, wenn sie auf bestimmte Rollen festgelegt werden. Die Mutterrolle ist mit besonders vielen familiären, gesellschaftlichen, politischen Zuschreibungen belegt. Diese sind im Laufe der Jahrhunderte gewachsen.

Geschichte der Mutterrolle. Ein plakativer Schnelldurchlauf
Mütter1 in der griechischen Antike waren Gebärmaschinen. Ob ein Kind überhaupt leben durfte, war Entscheidung des Patriarchen. Frauen der Antike wollten möglichst wenig mit Mutterschaft zu tun haben. „Lieber dreimal stehen im Schildgedräng', als einmal niederkommen“, lässt Euripdes Medea sagen. Im Mittelalter sahen Menschen an öffentlichen Orten und in Kirchen Bilder von Madonna mit Jesuskind. Maria prägte das Ideal der hingebungsvollen Mutter. Für die Frauen war das Maria-mit-einem-Kind-Bild ein unerreichbares Traumbild: die Kindersterblichkeit lag über 50 Prozent, und nur ein Kind auf dem Schoss zu haben war realitätsfern. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts gehörte es keineswegs zum guten Ton für Frauen, sich um ihre Kinder zu kümmern: Arme Frauen mussten hart arbeiten, reiche Frauen gingen ihrem Vergnügen nach. 95 Prozent aller Mütter weigerten sich, ihre Säuglinge selbst zu stillen. Ausgerechnet ein Mann – Jean Jacques Rousseau – beschwor eine neue Weltanschauung herauf. Ab 1762 war die enge Mutter-Kind-Bindung das Gebot. Mütter sollten die Erziehung zu ihrer ­Lebensaufgabe machen. Während der Nazizeit wurde das Mutterdasein als eigentlicher Lebenssinn für Frauen pro­pagiert. Frauen ohne Kinder waren zu verachten; Frauen mit mehr als vier Kindern bekamen das Mutterkreuz.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Mutter-Kind-Beziehung wissenschaftlich erforscht. Gefeiert wird Anna Freud (1895–1982), die Begründerin der Kinderpsychologie. Sie findet heraus, wie sehr das Verhalten der Mutter die lebenslange Entwicklung des Kindes beeinflusst. So richtig viele Erkenntnisse von Anna Freud sind, so falsch werden sie, wenn aus Verantwortung Schuldzuschreibungen werden. Psychoana­lyse macht Mütter zu den Hauptverantwortlichen für das Glück ihrer Kinder. Elisabeth Badinter formuliert: „Früher standen die Frauen unter dem Druck, unbedingt Mutter werden zu müssen; heute unter dem Druck, eine ‚gute Mutter' sein zu müssen. Ängste und Schuldgefühle der Mütter sind noch nie so groß gewesen, wie heute.“2

Der heu­tige Mutterbegriff ist ein Allroundbegriff: die 24-Stunden-Supernanny mit pädagogisch-psychologischem Know-how. Ja, die Mutterbindung ist prägend für Kinder – aber die ausschließliche Verengung darauf ist fatal.3 Die in Deutschland so emotional geführte ­Debatte über die Regretting-Motherhood-Studie der israelischen Soziologin Orna Donath signalisiert, dass es Gesprächsbedarf in Sachen Mutterrolle gibt. Theologisch ausgedrückt: Müttern wird eine Omnipräsenz zugeschrieben, die allein Gott möglich ist – für Menschen eine Überforderung. Wenn Jesaja Gott mütterliche Attribute zuspricht, adelt es alle Mütter dieser Welt. Im Bibeltext steht jedoch nicht: Gott ist wie eine Mutter, sondern: Gott tröstet wie eine Mutter.

Mütterlicher Trost hat (k)ein Geschlecht

Begriffsgeschichtlich hängt Trost mit treu, trauen zusammen. Ursprünglich ein juristischer Begriff, wurde er von christlichen Missionaren ethisch geprägt, so dass wir heute trösten als Zuspruch, jemanden stärken, festigen beschreiben. Trost ist eine situative ­Reaktion auf erlebtes Unglück und erfahrenen Schmerz. Trösten meint einen intimen Moment, den Menschen mit­einander erleben. Dabei müssen sich Trauernde und Trösterin nicht kennen; auch ein völlig fremder Mensch kann unter Umständen trösten.

Zwischenruf: „Wenn ich darüber nachdenke, was es bedeutet, wie eine Mutter zu trösten, gibt es die Bilder von ­enger körperlicher und emotionaler ­Zuwendung zu meinem Sohn, als er klein war. Aber es ändert sich. Für ein Kind, das getröstet wird, ist die Welt nachher wieder gut. Bei einem Erwachsenen ist Trost eine Solidaritätsbekundung – aber die Welt ist nicht wieder gut. Trost ist wie die Veränderung des menschlichen Aggregatzustandes: die Welt ist geblieben wie sie ist, aber ich werde befähigt, darin zu leben. Wer tröstet hat Zeit. Wer vertröstet hat keine Zeit für mich. Beim Trösten bleibt die Zeit stehen; eine Art Auszeit. Als Getröstete habe ich neue Standfestigkeit gewonnen und kann dann selbständig gehen – so wie Bonhoeffer geschrieben hat: ‚behütet und getröstet wunderbar, so will ich … gehen …'“

Mütterlich trösten können Frauen, Männer, Mädchen, Jungen, Omas mit grauem Haar, Baggerführer mit Sonnen­brille, pubertierende Vierzehnjährige und um die Welt fliegende Anzugträger. Oder etwa nicht? Ist „Mütterliches“ gebunden an ein Geschlecht? Laut Jesaja verspricht Gott, dass sie trösten kann wie eine Mutter. Nichts ist exklusiver als das Verhältnis Mutter-Kind. Mütter handeln intuitiv. Sie überlegen nicht, wie. Sie tun es einfach. Trost braucht spontane Empathie. Jesaja will die größtmög­liche emotionale Bindung zwischen Gott und Mensch ausdrücken, indem er formuliert: „wie eine Mutter“.

Wie verändern sich unsere inneren Bilder, wenn im Bibeltext stünde: Gott tröstet wie ein Vater, wie eine Schwester, wie ein Freund, wie die Nachbarin, wie ein Engel, wie ein Hund, wie Opa, wie ein Polizist? Die Farben der Trostbilder variieren. Der einen schreiben wir eher in den Arm nehmenden Trost zu, einer anderen, dass sie Tränen trocknet. Der nächste bringt zum Trost ein Eis, und ein weiterer schreibt einen Trostbrief. Welchen Trost wir annehmen können, hängt davon ab, welche Beziehung wir zur Trösterin haben. „Trostpreise“ machen Misserfolge sichtbar und werden entsorgt; es gibt keinen 08/15-Trost. Wer trösten will, muss sich auf das Gegenüber einstellen und alters- und geschlechtsgerechte Worte oder Gesten finden.

Fragen Sie sich selbst: Welchen Trost können Menschen / kann Gott mir geben? Welche Art von Trost tut mir gut? Welchen Trost kann ich annehmen und welchen nicht?

Impulse für eine Gruppenarbeit

Unsere Bilder von „Müttern“ versperren zuweilen den Blick darauf, worum es beim Trösten geht: die Bedürfnisse meines Gegenübers in diesem Augenblick zu erkennen. Dies gilt erst recht, wenn die Teilnehmerinnen und/oder Teilnehmer (TN) ein ambivalentes Mutterverhältnis haben. Die Gesprächsimpulse wollen anregen, sich eigener Bilder von Mütterlichkeit bewusst zu werden. Die TN sollen dafür sensibilisiert werden, wie sehr unser Mutterbild zeitgeschichtlich geprägt ist. Wenn Sie merken, dass der Geschlechtsbezug „wie eine Mutter“ für TN ein Stolperstein ist, verwenden Sie die Formulierung „Gott tröstet mütterlich“.

Mütterlicher Trost ist weder geschlechts- noch personengebunden. Wir brauchen keine persönlichen Erfahrungen einer tröstenden Mutter, um mütterlich zu trösten oder mütterlichen Trost anzunehmen. Das Bild von einem mütterlich tröstenden Gott ist (nur) eine Facette von Gott, die manche erleben und andere nicht.

Die folgenden Anregungen bieten alternative Gesprächszugänge. Wählen Sie höchstens drei Impulse aus.

Wir rufen uns unsere Bilder von „Müttern“ ins Bewusstsein

Die TN gehen durch den Raum (Gehen erleichtert die Konzentration auf Eigenes). Leiten Sie die Bewusstseinsbildung ein: „Mütter gibt es viele. Wie sehen sie aus? Haarfarbe, Körperhaltung? Welche Kleidung trägt sie? Hat sie etwas in der Hand? Gibt es eine typische Mutter? Oder eine untypische? Welches Bild von einer Mutter habe ich in diesem Augenblick?“

Jede erzählt, am besten im Stehen.

Sprachliche Merkwürdigkeiten

– Die deutsche Bundeskanzlerin wird oft als „Mutti Merkel“ tituliert, bei Margot Kässmann kommt das nie vor. Angela Merkel ist kinderlos, Margot Kässmann hat Kinder und Enkelkinder.

– Pressezitate zu Hannelore Kraft (NRW): „Ministerpräsidentin besucht IT-
Unternehmen“; „Landesmutter schreibt Kondolenzbrief an Familie von Missfelder“.

– Mit „Mutterwitz“ bezeichnen wir die Fähigkeit, Sachverhalte zu begreifen und schnell zu reagieren. „Deine-Mutter“-Witze provozieren durch Herabsetzung der Mutter, treffen meistens unterhalb der Gürtellinie.

Foto-Sprache

Legen Sie „Mutter-Bilder“ aus (Zeitschriften, Bildsuchfunktion im Internet, Postkarten). Jede TN nimmt sich das das Foto, das für sie im Augenblick Mütterlichkeit ausdrückt. Bevor jede ihre Bild mitteilt, bitten Sie zwei TN, die genannten Attribute auf Moderationskarten zu schreiben (z.B. „Das Bild strahlt Wärme aus“: Wärme wird notiert).

Unter der Überschrift „Mütterlichkeit bedeutet …“ werden die gesammelten Attribute an eine Moderationswand geheftet. – nicht ordnen; große Abstände lassen

Ein historischer Teil zum Thema „Mutterrolle“ schließt sich an. Methodisch gibt es mehrere Möglichkeiten: Entweder lesen Sie gemeinsam den Sternartikel (siehe Fußnote 1) oder halten ein Kurzreferat. Sie können das aber auch gemeinsam mit den TN anhand eines Zeitstrahls erarbeiten. Der Zeitstrahl liegt im Raum, vorbereitete Blätter mit Kernsätzen, Zitaten, Bildern, Begriffen der jeweiligen Epoche liegen ungeordnet in die Mitte (Lieber dreimal in der Schlacht, als einmal niederkommen – Gebärmaschine – unbedingte Liebe der Mutter zu ihrem Kind garantiert dem erwachsenen Menschen ein Leben lang emotionale Sicherheit – Madonna mit Kind – von der Mutter zur guten Mutter – Schuldgefühle – Vollzeitmutter – Kindersterblichkeit – Mütter wollen nicht stillen – Mutterkreuz)

Die TN ordnen die Begriffe in einem moderierten Gespräch historisch ein, die Leiterin ergänzt Hintergründe. Einige Begriffe passen in verschiedene Epochen.

Reflexion des Zeitstrahls bzw. Vortrags: Der historische Blick relativiert das moderne Bild einer Supernanny. Wie wirkt das auf die TN? Entspricht es den eigenen gesellschaftlichen Erfahrungen? Verärgert oder entlastet es? Der Blick auf die Moderationswand mit der Überschrift: „Mütterlichkeit bedeutet…“ kann dem Gespräch Impulse geben.

Wer tröstet wie?

Siehe Abschnitt „Mütterlicher Trost hat (k)ein Geschlecht“: Was verändert sich, wenn wir sagen: trösten wie ein Vater, eine Oma, eine Nachbarin …?

Schreibwerkstatt zu Jes 66,13

„Gott tröstet mütterlich“ wird auf drei große Zettel geschrieben, die zwischen die „Attribute“ auf die Moderationswand gehängt werden. Bilder aus der Fotosprache liegen noch auf dem Boden. Die TN schreiben 3 Minuten, was ihnen in den Sinn kommt. Nicht überlegen, einfach schreiben. Vor dieser Übung wird angesagt, dass niemand den Text anschließend vorlesen muss!

Abschluss

Vermutlich mögen einige ihren Text lesen. Außerdem passt die „getröstet und geborgen wunderbar“-Strophe von Dietrich Bonhoeffer.

Christel Schürmann, geb. 1967, ist Pfarrerin. Sie arbeitet im Evangelischen Bildungswerk Dortmund und ist Geschäftsführerin im Synodalverband Dortmund der Ev. Frauenhilfe e.V.

Anke Steger, geb. 1967, ist Diplomsozialarbeiterin und arbeitet als Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte im Evangelischen Kirchenkreis Dortmund.

Anmerkungen
1) siehe hierzu Stern, 13.05.2007 online: http://www.stern.de/panorama/gesellschaft/wertewandel-mutter—ein-mythos-3359968.html
2)
Vgl Elisabeth Badinter: Die Frau und die Mutter; Herrad Schenk: Wie viel Mutter braucht der Mensch?
3) Lesenswert provokant dazu: www.emma.de/artikel/elternzeit-mutterliebe-oder-mutti-ist-die-duemmste-263603

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