Alle Ausgaben / 2001 Artikel von Lucia Zimmer

Nachtherbergen für unsere Wegwunden

Die tröstende und heilende Wirkung der Klage(-Psalmen)

Von Lucia Zimmer

(Auszug)

Die 26 jährige Frau P. ist ins Krankenhaus gekommen; ein kleiner operativer Eingriff ist erforderlich. Es ist ihr erster Krankenhausaufenthalt überhaupt; Frau P. hat Angst. Sie willigt ein, dass die Ärzte und Ärztinnen weiter operieren, sollten sie bei dem kleinen Eingriff etwas finden. Aus der geplanten „minimal-invasiven“ Operation wird tatsächlich ein komplizierter Eingriff. Drei Tage später geht es Frau P. körperlich besser, aber sie ist irgendwie traurig, deprimiert, hat Heimweh.

Eine Mitpatientin erzählt ihr, dass auch sie einige Tage nach ihrer Operation Ähnliches erlebt habe und dies wieder vorbeigehe. Dieser Hinweis entlastet Frau P. aber nicht. Bei der Arztvisite fragt Frau P., ob sie bald entlassen werde. „Nein“, lautet die Antwort. Da durch die Erkrankung auch ein anderes Organ betroffen ist und vorübergehend seine Funktion eingestellt hat, muss zuerst überprüft werden, ob dieses Organ jetzt wieder arbeitet. „Und was passiert, wenn es nicht wieder arbeitet?“ lautet die bange Frage von Frau P. „Dann müssen wir erneut operieren.“ Diese Antwort erschüttert sie. Als die Ärzte weg sind, kann sie nur noch weinen, sieht sich einer erneuten Operation ausgesetzt und wochenlang im Krankenhaus liegen. Ihre ohnehin sehr traurige Stimmung wird noch schlimmer…

Wenige Minuten später kommt eine Frau ins Zimmer. Sie ist vom Krankenhausbesuchsdienst der Kirchengemeinde. Es gelingt Frau P., ihre Tränen zurückzuhalten und höflich zu sein, obschon ihr der Besuch in diesem Augenblick gar nicht passt. Freundlich fragt die Besucherin, wie es Frau P. geht. „Im Augenblick nicht gut“, lautet die ehrliche Antwort. „Sie sehen aber so gut und gesund aus“, widerspricht die Besucherin lachend.

Vertrösten statt trösten?

Die Frau vom Besuchsdienst konnte nicht wissen, wem sie in dem Zimmer begegnen würde. Sie hatte nur den Namen der Patientin, vielleicht auch ihr Geburtsdatum, und aufgrund der Station konnte sie vermuten, um welche Art Krankheit es sich bei Frau P. vielleicht handelte. Welche Krankheit sie wirklich hatte, ob Frau P. operiert worden war – all das wusste die Besucherin nicht. Sie wusste auch nicht, ob die Patientin empfänglich sein würde für einen Besuch aus der Kirchengemeinde.

Um den Dialog zu eröffnen, stellt sie die Frage:“ „Wie geht es Ihnen?“ Aber wie geht sie mit der Antwort der Patientin um? Sie ignoriert, was die Patientin ihr mitteilt. Schlimmer noch, sie widerspricht ihr. Damit macht sie eine weitere Gestaltung der Beziehung zwischen ihr und der Patientin unmöglich. Die Patientin fühlt sich nicht ernst genommen. Sie ist offen genug gewesen, der Besucherin mitzuteilen, dass es ihr schlecht geht; doch die Besucherin hält dagegen, dass die Patientin ja gesund aussehe.

Warum verhält sich die Besucherin so? Wahrscheinlich ist sie unsicher, will vermutlich die Patientin trösten. Aber wen will sie wirklich trösten – die Patientin oder sich selbst? Kann sie es nicht aushalten, dass es der Patientin nicht gut geht? Sie „bleibt“ nicht bei der Patientin, bei deren Angst und Depression, sondern versucht die Situation schön zu reden. Das gelingt nicht, und so bleibt der Besucherin nichts anderes übrig als wieder zu gehen. Eine Begegnung kommt nicht zustande.

Die biblischen (Klage-)Psalmen als Modell seelsorglicher Begleitung

„Lerne leiden ohne zu klagen!“ Diesen Appell haben viele Menschen als Schlüsselbotschaft mit auf ihren Lebensweg bekommen, besonders die Generation der heute über 40-Jährigen. Und die Botschaft zeigt bis heute Wirkung. In der Begleitung von Menschen – sei es im Krankenhaus oder in anderen Begleitungssituationen – erlebe ich, wie Menschen sich mit der Klage als Gebetsform und überhaupt mit der Klage in Verbindung mit dem Glauben schwer tun. Das Klagen hat in der Geschichte des Christentums nur sehr wenig Platz, trotz der jüdischen Tradition des Klagens. Es gibt das Bitten, das Danken, die Selbstanklage, aber nicht die Klage selbst. Das liegt wohl auch in der Abgrenzung der frühen Kirche vom heidnischen Brauchtum begründet. So warnen die Kirchenväter vor Übertreibungen in Trauerbräuchen: „Verhaltensweisen wie starkes Schreien, längeres Weinen, Auf-die-Brust-schlagen, Kratzen des Gesichts, so dass es blutet, sowie das Entkleiden von Armen und Brüsten sind zu unterlassen.“ Die kritische Einstellung der Kirche gegen den leidenschaftlichen Ausdruck der Trauer hatte Folgen, die bis heute zu spüren sind. Das dunkelste Klagegebet der jüdisch-christlichen Tradition, der Psalm 88 – von einigen Exegeten wegen seiner Dunkelheit auch Hiobspsalm genannt – ist in den Gesang- und Gebetbüchern der Kirchen nicht zu finden. Zwar kommen dort Klagepsalmen vor, aber dieser, der kein „happy-end“ formuliert, fehlt.

In Griechenland gibt es bis heute in manchen Gebieten die Form der Totenklage, bei der Klagegesänge von sogenannten Klagefrauen vorgetragen werden. Dabei handelt es sich um eine spezielle Volksliedkunst: lange Grabeshymnen mit einem feststehenden Versmaß, die aus dem Stegreif gesungen werden. Melodie und Text werden jeweils während des Trauerrituals neu erfunden. Die Klagefrauen bringen ihre Gefühle in selten schönen Gedichten und Gesängen zum Ausdruck. Wenn sie ihre Dichtung komponieren, bleibt kein Auge trocken. Alle Anwesenden können, wenn sie wollen, damit zu ihrer Trauer finden. Die Klage wird durch rhythmische Bewegung der Hände, des Kopfes, des ganzen Körpers begleitet. Wenn das Gefühl und die Betroffenheit in den Vordergrund treten, ändert sich die Lautstärke. Rhythmus und Melodie vermitteln dann den Eindruck eines tranceartigen oder ekstatischen Zustandes. Die Knie werden im Sitzen zurückgezogen und angespannt, der Kopf wird entblößt, die Haare bedecken das ganze Gesicht. Wenn der Trauerschmerz stark wird, schlagen sich die Trauernden auf die Brust, ziehen sich an den Haaren, reißen sich sogar manchmal die Haare aus. Sie steigern sich in laute, unartikulierte, herzzerreißende Klagerufe. Die übrigen Trauernden beteiligen sich an der Klage durch Mitsingen, durch Wehklagen und Wehrufe, die wie ein weiches Stöhnen klingen. Die Klagelieder erweisen sich somit als natürliches therapeutisches Ausdrucksmittel, die im Fall der Trauer vorhandene Stimmung zu treffen, anzusprechen, zuzulassen und zum Ausdruck zu bringen. Es bleibt nicht beim Aussprechen der ganz unterschiedlichen Gefühle von Trauer über Wut bis hin zur Dankbarkeit, sondern die Gefühle werden zum Teil auch durch körperliche Bewegungen ausgelebt. Entscheidend aber ist, dass die Trauergesänge die Trauerenden einladen, sich von ihnen mitnehmen zu lassen, in die Trauer einzutreten, sie zuzulassen, sich mit Leib und Seele davon treffen zu lassen.

In der kirchlichen Tradition kommen die Abgründe des Lebens, die Verzweiflung und auch die Abwesenheit Gottes meist in der Form der Bitte vor. Aber warum dürfen sie nicht auch als erfahrungsgetränktes Klagen und Jammern vor und zu Gott kommen? Schließlich gibt die Bibel diesen Erfahrungen und den ungeschminkten Reaktionen der Menschen breiten Raum. Zur Lebendigkeit des Betens gehört auch das Klagen. Der Mensch nimmt sich ernst, gibt seinen Lebenskrisen und Verwundungen eine Sprache – und richtet sich damit an Gott.

Wie die griechischen Klagelieder können auch die Psalmen eine Form sein, um seelische Prozesse der Angst und des Trauerns zu begleiten, zu vertiefen und zu beenden. Die Psalmen sprechen die einzelnen Phasen des Trauerprozesses immer wieder an und das nicht systematisch hintereinander, sondern – wie es auch der Wirklichkeit eher entspricht – durcheinander. Sie laden ein, vom Denken „über“ wegzukommen. Sie wollen nicht begründen und erklären, sondern ermöglichen Begegnung mit sich selbst, mit Gott.
Die Psalmen kennen eine auffallend rohe, ungeschliffene Sprache. So können sie helfen, mit den eignen Leidenschaften, mit der Heftigkeit der Gefühle in Berührung zu kommen. Die therapeutische Wirkung der Psalmen kommt dann zum Durchbruch, wenn ich ihnen das Rohe, Skrupellose, Kompromisslose und Harte lasse, aber auch das unbändig Frohe, überschwänglich Dankbare, das Direkte und Unmittelbare. Gerade auch jene Psalmen, in denen vom Niederschmettern der Feinde die Rede ist, haben beim Psalmenbeten eine wichtige Funktion. Sie erlauben es mir, mit meinen wirklichen Gefühlen des Hasses, der Wut, der Entrüstung in Berührung zu kommen und diese Gefühle – gerade auch vor Gott – zuzulassen. Sie haben hier freie Bahn, müssen nicht abgebogen und verfeinert werden. Sie dürfen voll ausgesprochen, dürfen herausgepresst und herausgeschrieen werden. Die zornige, hasserfüllte, aggressive und kriegslüsterne Seite in mir darf und soll heraus. So können die Psalmen glaubenden Menschen helfen, ihnen zeigen, dass Ärger und Zorn offen und ehrlich gegenüber Gott und anderen geäußert werden dürfen. Dem Ausdruck von Ärger und Zorn, dem Schrei der Verzweiflung und dem Schluchzen aus Schmerz und Traurigkeit kann so mit der Zeit das Gefühl von Dankbarkeit und Freude folgen, die Erfahrung innerer Wärme und Angenommenseins.

Mag dem Beter, der Beterin alles genommen sein, dies eine hat er, hat sie noch: einen Adressaten für seine, für ihre Verzweiflung. Er schreit nicht ins Nichts, sie schreit zu jemandem um Hilfe aus tiefster Not. Wie ein Ertrinkender im Zugrundegehen wider alle Hoffnung und ganz unten Grund unter sich verspüren, sich von dort abstoßen und die rettende Wasseroberfläche erreichen kann, so mag es der Beterin, dem Beter der Psalmen ergehen. Nelly Sachs schreibt über David, den Dichter vieler Psalmen: „Aber im Mannesjahr maß er, ein Vater der Dichter, in Verzweiflung die Entfernung zu Gott aus, und baute der Psalmen Nachtherbergen für die Wegwunden.“

Seelsorgerinnen und Seelsorger, Hauptamtliche und Ehrenamtliche könnten aus der Beschäftigung mit den Psalmen für den Umgang mit kranken und leidenden Menschen lernen. Trost entsteht nicht durch Schönreden oder durch Gegenrede, und schon gar nicht durch Forderungen, wie denn der leidende Mensch mit seinem Schicksal umzugehen habe. All diese Reaktionen helfen nicht weiter, sondern behindern Heilung.

Was seelsorgliche Begleitung ist, wurde mir in einer kleinen Begebenheit deutlich. Ein kleines Mädchen lässt sich beim ersten selbständigen Einkaufen von einer älteren Spielfreundin begleiten. Als das kleine Mädchen an der Kasse zahlt, fragt die Kassiererin das größere Mädchen: „Und was bekommst du?“ Die ältere antwortet: „Ich will nichts, ich bin bloß mit!“ Ich bin bloß mit – damit ist nicht alles, aber doch viel über seelsorgliches Begleiten gesagt. Entscheidende Hilfestellung ist das bloße, absichtslose dabei sein. Mitgehen, aber nicht die Richtung bestimmen. Aushalten, wenn die andere schweigt, nicht die Stille zerreden wollen. Dem/der Begleiteten nicht Gefühle ausreden wollen, sondern ihn/sie ermutigen, die eigenen Gefühle zuzulassen. So können die SeelsorgerInnen „Nachtherbergen für die Wegwunden“ anbieten.

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