Ausgabe 1 / 2022 Artikel von Ulrike Haase

Nationaler #Geburtshilfegipfel

für einen Kulturwandel in der Geburtshilfe – und der Teilhabe?

Von Ulrike Haase

2015 gründete sich beim Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF) der Runde Tisch „Lebensphase Eltern werden“, dieser veröffentlichte 2021 mit anderen Akteur*innen das Strategiepapier mit der Forderung nach einem Nationalen #Geburtshilfegipfel. Geburten sind die häufigste Ursache für einen Krankenhausaufenthalt und der diesbezügliche medizinische Leistungskatalog umfasst sehr vieles – trotzdem bleibt die Versorgungsrealität hinter den Bedürfnissen und auch dem neunten nationalen Gesundheitsziel von 2017 zurück. Strukturell zeigt sich dies darin, dass gerade im ländlichen Bereich wohnortnahe Geburtshilfe weiter zurückgeht und dass medizinisches Fachpersonal überall so überarbeitet wie unterbezahlt ist.

Strategiepapier
1. Das Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt” mit seiner Orientierung an der
Salutogenese und den individuellen Bedarfen von Frau, Kind und Familie wird Handlungsgrundlage
in der geburtshilflichen Versorgung.
2. Die Frau und über sie auch das Kind werden als rechtliche Souveräne in der Geburtshilfe anerkannt.
3. Die sich häufenden Beschwerden von Müttern über traumatisierende Behandlungen und deren
Langzeitfolgen werden systematisch erfasst. Ihnen wird mit strukturellen Maßnahmen begegnet.
4. Geburtshilfe wird bedarfsgerecht und leistungsgerecht vergütet. Die Fallpauschalen des DRG-Systems
(Diagnosis Related Groups) werden für Geburtshilfe abgeschafft oder modifiziert.
5. Die Kooperation aller Berufsgruppen rund um die Geburt wird verbessert. Die Schwangerenvorsorge
durch Frauenärzt*innen und durch Hebammen wird gesichert und rechtliche Unschärfen werden
geklärt.
6. Die praktische Aus- und Weiterbildung aller an der geburtshilflichen Versorgung beteiligten Berufsgruppen, insbesondere aber die Facharztausbildung, wird gezielt auf die physiologische Geburt ausgerichtet. Eine in weiten Teilen berufsübergreifende Aus- und Weiterbildung wird auf den Weg gebracht.
7. Die Haftpflichtsituation in der Geburtshilfe wird für alle Berufsgruppen neu geregelt.
8. Qualitätszirkel werden mit allen Beteiligten (Fachpersonal und Eltern) auf Augenhöhe etabliert.

Das Papier adressiert bestehende Missstände in der Geburtshilfe, von der teilweise schlechten gynäkologischen Versorgung hin zu Gewalterfahrungen unter der Geburt, von der jede dritte gebärende Person erzählt. Das unterstützenswerte Ziel eines Nationalen Geburtshilfegipfels ist es, „die Rahmenbedingungen der Geburtshilfe in Kliniken und außerklinisch so zu gestalten, dass sie die gesellschaftliche und politische Wertschätzung erfährt, die ihrer Bedeutung im Leben der Menschen entspricht.“ Ulrike Haase, die im ZSIMT Berlin und im Netzwerk behinderter Frauen Berlin e.V. arbeitet, war von 2014 bis 2017 Vorstandsmitglied des AKF und setzte sich dort intensiv für die gesundheitlichen Belange von Frauen mit Behinderungen ein. Ich habe Ulrike Haase gefragt, was sie dem Strategiepapier noch hinzufügen würde?

– Der neunte Punkt müsste heißen: „Eine zeitgemäße Geburtshilfe muss konsequent diversitätsorientiert sein, frei von Diskriminierungen, stereotypen Zuschreibungen und Vorurteilen. Sie muss die Belange von Frauen mit und ohne Behinderungen, Frauen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen und aller Personen, die gebären können, ernstnehmen.“

In einem Interview des AKF 2017 haben Sie angedeutet, dass Frauen mit Behinderung nicht so häufig Vorsorgeuntersuchungen des gynäkologischen Angebots wahrnähmen. Das sagt aber nichts über den Bedarf, sondern vor allem über die mangelnde Datenlage. Hat sich in diesem Punkt in den letzten Jahren etwas getan?

– Ja, die Datenlage hat sich minimal verbessert. An der medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld hat es unter Leitung von Frau Prof. Claudia Hornberg eine Auswertung von fünf Spezialambulanzen bzw. Sprechstundenangeboten deutschlandweit für Frauen mit Behinderung gegeben.

– Im Rahmen dieser Studie (Kurztitel E-Gyn) gab es u.a. Befragungen von Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen. Ein Fokus innerhalb der Studie lag auf den Portalen der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). Die Studie kommt zum Schluss, dass die Spezialambulanzen nicht ausreichend seien, ebenso wenig wie die Anzahl der niedergelassenen Gynäkolog*innen der Regelversorgung, die nach Selbstauskunftsangeben barrierefrei seien.

– Durch die zum 1. Januar 2019 in Kraft getretene Reform des SGB V mit einer verpflichtenden Auskunft der KVen im TVSG nach §20, wonach sie Kriterien zur Barrierefreiheit aufführen müssen, ist keine wirkliche Verbesserung der Datenlage erreicht worden. Im Gegenteil, hiermit wird die Datenlage nur verwässert: Die Kriterien, die von den KVen abgefragt werden, vernachlässigen ganz wesentliche Anforderungen an eine Arztpraxis, nämlich Untersuchungsmobiliar und Kommunikation. Damit erfährt eine Rollstuhlnutzerin nichts über die für sie wichtige Zugänglichkeit des Untersuchungsstuhls; die Frau mit Lernschwierigkeit erfährt nicht, ob Informationen in leichter Sprache angeboten werden; ob sich gehörlose und sehbehinderte Personen in der Praxis orientieren können. Eine große Hürde, aufgrund derer Frauen mit Behinderung sich scheuen, überhaupt zur*m „Gyn“ zu gehen ist – gleichgültig welche Behinderung vorliegt – die des „sich nicht ernst genommen-Fühlens“.

– Frauen berichten, dass sie vor als barrierefrei ausgewiesenen Praxen standen und nicht reinkamen, wegen einer Stufe, die der Rollstuhl nicht passieren kann; oder die Frau zwar in die Praxis gelangt, aber nicht auf den Untersuchungsstuhl kommt, weshalb sie unverrichteter Dinge wieder geht. Auch die Toilettenfrage wird für die rollende Frau in der gynäkologischen Praxis oft zum Verhängnis. Wenn eine Praxis optimal ist, wird dies per Mund-zu-Mund-Propaganda weitergegeben – Folge ist häufig: Die Praxis gerät schnell an ihre Kapazitätsgrenze, was zu einem Aufnahmestop führt. Die Studie belegt diese Missstände. Jetzt ist es an der Zeit, die menschenrechtswidrigen Verhältnisse zu verändern.

In der Pressemitteilung des AKF zum Strategiepapier ist das Ziel formuliert, mit dem Nationalen Geburtshilfegipfel eine „Geburtshilfe, die in ihrer Grundstruktur eine qualitativ hochwertige, nicht traumatisierende Versorgung durchgehend gewährleistet“ auf den Weg zu bringen. Können Sie konkrete Beispiele nennen, damit dies für Frauen mit Behinderung ebenfalls gilt?

– Frauen mit Behinderung müssen gesellschaftlich genauso wie Frauen ohne Behinderung als Mütter anerkannt und ernst genommen werden. Die eingangs erwähnten Barrieren, auf die Frauen mit Behinderung stoßen, müssen natürlich auch in der Geburtshilfe beseitigt werden. Und noch ein Punkt: Mütter mit Behinderungen berichten oft, dass sie zu medizinisch nicht indizierten Kaiserschnitten gedrängt wurden. Das vermittelt den Eindruck, als hätte medizinisches Fachpersonal die Sichtweise: „die Behinderte, das unbekannte und unberechenbare Wesen – da planen wir mal die Geburt.“ Um hier Veränderung herbeizuführen bedarf es einer konsequenten Bewusstseinsbildung durch verpflichtende Lehrinhalte in der Aus-, Fort- und Weiterbildung aller medizinischen Fachkräfte. Nach dem Motto „Nicht über uns – ohne uns“ sind hier Frauen mit Behinderung partizipativ zu beteiligen.

Die zweite Forderung des AKF heißt: „Die Frau und über sie auch das Kind werden als rechtliche Souveräne in der Geburtshilfe anerkannt.“ Aus anderen Bereichen der Medizin wissen wir, dass bspw. Schmerzäußerungen von Frauen weniger ernstgenommen werden als von Männern und dass Schmerzäußerungen von PoCs weniger ernstgenommen werden als von weißen Menschen. Es steht zu vermuten, dass sich diese Ungleichbehandlung, die auf sexistischen und rassistischen Vorannahmen gründet, in der Geburtshilfe ebenfalls wiederfindet. Wie müsste die oben zitierte Forderung konkretisiert werden, damit diesem Problem unter Gesichtspunkten der Intersektionalität angemessen beikommen ist?

– Auch im AKF muss mehr zur Bewusstseinsbildung in den eigenen Reihen, bezogen auf Menschenrechtsorientierung und Diversität, nachvollzogen und erreicht werden. Die Forderung muss natürlich alle Merkmale benennen, wegen der Frauen diskriminiert werden. Wenn alle gemeint sind, müssen auch alle angesprochen werden: „Die Frau und über sie auch das Kind werden als rechtliche Souveräne in der Geburtshilfe anerkannt – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe religiöser Zugehörigkeit, von Behinderung, geschlechtlicher oder sexueller Identität und – Orientierung und der sozialen Stellung“. M.E. genügt es aber nicht, die Worte nur gebetsmühlenartig herzusagen oder den passenden Textbaustein einzufügen. Vielmehr muss an der eigenen Haltung gearbeitet werden. Sich die eigenen weißen Privilegien bewusstzumachen bietet die Möglichkeit, diese Privilegien zu nutzen, um Diskriminierungen zu bekämpfen. Dazu gehören Selbstreflexion und vorurteilssensibles Arbeiten.

In der leicht & SINN 2/2021 beschreibt Sami Omar kurz, was es mit dem sog. Mittelmeersyndrom auf sich hat.


Zum Weiterlesen:
Claudia Hornberg u.a., Evaluation von Spezialambulanzen und gynäkologischen Sprech-stundenangeboten zur gynäkologischen und geburtshilflichen Versorgung von Frauen mit Behinderung, Bielefeld, 2019.
Hier können Sie das Strategiepapier unterzeichnen: arbeitskreis-frauengesundheit.de/2021/ 02/18/strategiepapier-des-runden-tisches-elternwerden-beim-akf-e-v-zum-nationalen-geburtshilfegipfel/
Wheelymum, Von Vorsorgeterminen zu Frauen mit Behinderungen und gynäkolischen Praxen (http://wheelymum.com/von-vorsorgeterminen-zu-frauen-mit-behinderungen-und-gynaekolischen-praxen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=von-vorsorgeterminen-zu-frauen-mit-behinderungen-und-gynaekolischen-praxen&mc_cid=42a1cc793b&mc_eid=e1f2ec616a).

Ulrike Haase, Diplom-Kauffrau (FH), ist im Netzwerk behinderter Frauen Berlin e.V. für das Projekt „Geschlecht, Behinderung, Gesundheit und Migration“ verantwortlich. Sie vertritt die Belange behinderter Frauen u.a. im Arbeitskreis Frauengesundheit, in dessen Vorstand sie bis 2017 war, und bietet Sozial- und Fachberatung an. An der FHW-Berlin baute sie ein Studienprojekt „Rassismus/Antisemitismus“ mit auf und entwickelte den Studiengang Frauenstudien mit.

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang