Ausgabe 2 / 2022 Artikel von Petra Wegner

Neu sehen lernen

Von Petra Wegner

Seit einigen Jahren bin ich Mitglied im „Begegnungen Christen und Juden Niedersachsen e.V.“. Hier habe ich die Möglichkeit, in Abendkursen biblisches Hebräisch zu lernen. Angeregt wurde ich dazu durch ein „Fernstudium feministische Theologie“ im Rahmen meiner ehrenamtlichen Arbeit mit Frauen in Hannover. Es war der erste Studiengang, der in der Landeskirche angeboten wurde.  Zwar mit Abitur und einer Ausbildung als Handwerksmeisterin, aber ohne spezielle theologische Vorbildung, hatte ich dort plötzlich die Chance mitzureden – und mir der Sicht meines eigenen Glaubens erstmals bewusst zu werden.


Geblieben ist die Lust am Erforschen


Mich hat von jeher die hebräische Schrift fasziniert: das Schreiben von rechts nach links und die vielfältigen Bedeutungen der Worte. Drei Jahre lang lernte ich Hebräisch, eine neue/alte Sprache, zu schreiben und zu lesen. In meinem Beruf als Goldschmiedemeisterin bin ich gewohnt genau hinzusehen, millimetergenau zu arbeiten und gleichzeitig die Wünsche des Gegenübers zu berücksichtigen und einzubeziehen. Durch das Fernstudium sah ich nun die Bibel aus einer völlig neuen Perspektive, lernte die verschiedenen Übersetzungen zu vergleichen und so auch mein eigenes Sichtfeld zu erweitern.


Raus aus meinem engen kleinen Umfeld, in dem ich mich all die Jahre bewegt hatte, in eine andere Welt des Denkens. Zunächst im geschützten Umfeld mit Frauen, inzwischen auch erweitert durch Teilnahme von Männern. Es gibt im Verein noch einige Dinge mehr zu erforschen. Ziel ist es, im partnerschaftlichen Gespräch mit Jüdinnen*Juden auf die jüdischen Glaubenstraditionen zu hören, Kenntnisse über das Judentum zu vermitteln, Judenfeindschaft und politischen Antisemitismus in Kirche und Gesellschaft zu überwinden und Projekte zu fördern, die der Versöhnung von Juden, Christen und Muslimen dienen. Einmal jährlich wird der Blickwechselpreis – der Granatapfel in Gold – an eine Persönlichkeit verliehen, die sich durch langjähriges oder innovatives Engagement im christlich-jüdischen Dialog auszeichnet. Der Granatapfel ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Frucht viele neue Früchte hervorbringen kann. Deshalb hat der Verein „Begegnung Christen und Juden Niedersachsen“ ihn zum Symbol des Preises gemacht.

Die Studienreisen auf den Spuren jüdischer Kulturen, etwa nach Amsterdam, Rumänien oder New York, waren echte Erlebnisse.  Durch das Kennenlernen verschiedener Menschen und Städte mit ihren eigenen Glaubenskontexten habe ich begonnen, meine eigene Einstellung zum Glauben zu hinterfragen und kritisch zu bedenken, was mir eigentlich wichtig ist im Umgang mit anderen Menschen.


Ein Schlüsselerlebnis war die Exkursion nach Sizilien. Wir folgten den Spuren sephardischer Jüdinnen*Juden im Mittelmeerraum und den griechischen und römischen Einflüssen in der Antike. In Scicli, einem Hafenort an der südsizilianischen Mittelmeerküste gegenüber der Insel Lampedusa, besuchten wir eine Kirchengemeinde der Waldenser Kirche, die in dem Projekt „Mediterranean Hope“ mitarbeitet. Der Imam der nahegelegenen Moscheegemeinde, eine Nachbargemeinde und enge Kooperationspartnerin der Waldensergemeinde, berichtete uns, wie die Arbeit mit den Geflüchteten vor Ort organisiert wird.

Dort erfuhren wir über ihre Arbeit, wie dort Glaube gelebt und konkret in die Tat umgesetzt wird. Im Leitbild der Waldenser Gemeinde heißt es: „Diakonie ist integraler Bestandteil des evangelisch-methodistischen Zeugnisses und richtet sich an Menschen, die in materieller, spiritueller und persönlichkeitsbildender Hinsicht Bedürfnisse haben – und dieses Angebot gilt ausdrücklich ohne Ansehen von religiöser Überzeugung oder ethnischer Herkunft.“

Neben Elternbeiträgen und Spenden fließen Geldmittel aus der italienischen Otto-per-mille (8 pro Tausend)-Steuer, eine Art Sozialsteuer, in diese Arbeit. In der Zusammenarbeit von italienischer Regierung, evangelischem Kirchenbund Italiens (FCEI), Tavola Valdese (Evangel.-methodistische Kirche) und der römischen Laienbewegung Sant’ Egidio gab es eine Einigung auf humanitäre Korridore für Flüchtlinge.

Die Kirchengemeinde in Scicli ist Teil davon. Sie ist zwar klein, zählt nur 68 Mitglieder, aber die Gemeinde bringt sich nach Kräften ein. „Die Arbeit der Gemeinde in Scicli verdient unseren Respekt; aber sie verdient auch unsere Unterstützung.“1

Auf einer weiteren Reise durch das jüdische Ostfriesland versuchten wir nachzuvollziehen, wie hier Jüdinnen*Juden gelebt und gearbeitet haben – und: Was ist mit ihnen in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen? Wie gehen wir heute mit der jüdischen Geschichte in Ostfriesland um?


Ich habe angefangen, in jeder Stadt, in die ich reise, die Stolpersteine zu suchen und die Geschichte der Personen zu erkunden, die sich dahinter verbirgt. Für einen jüdischen Freund, der in Amerika lebt, suchte ich in Berlin die ehemalige Wohnstätte seiner Vorfahren, die von dort vertrieben worden waren und alles zurücklassen mussten – ein Haus in der Friedbergstraße in Charlottenburg. Ich fotografierte die Stolpersteine vor der Haustür sowie den frisch renovierten Hausflur. Ich betrachtete die Jugendstilfenster, die Stuckverzierung und die eichene Haustür, die noch ihre alte Form behalten hatte. Was ist hier in diesem Haus für ein Leben gewesen, in dem offensichtlich einst wohlhabende, gebildete Menschen gelebt haben? Ich kann und will mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, von einer Stunde auf die andere alles, was lieb ist, zu verlassen, weg zu müssen, weil die Nachbarn meine Vernichtung wollen.

Wie lebten die jüdischen Menschen vor der Schoa? Wo waren die literarischen Salons, die vor allem auch von Jüdinnen ins Leben gerufen wurden? Wer waren diese Künstler*innen, Poet*innen, Wissenschaftler*innen? Was ist von ihnen geblieben? Wie haben sie die Sichtweisen ihres Umfeldes und ihrer Zeit beeinflusst?


Wie ist das Leben nach dem Krieg weitergegangen, und was hat sich neu gebildet? Bleiben wir stehen bei Erinnerung, oder versuchen wir, die Vergangenheit mit der Gegenwart in Beziehung zu bringen?

Wie sieht die jüdische Gegenwart aus? Wo sind die Stimmen der jüdischen Gegenwart?

Im Norddeutschen Synagogalchor in Hannover singen wir Werke von jüdischen Komponisten in hebräischer Sprache. Hier zu singen, bringt mir nicht nur viel Freude – es verbindet auch Menschen, wie im „Europäischen Zentrum für Synagogale Musik“ in der Villa Seligmann Hannover.

Auch hier diskutieren wir das Alte und Neue. Bleiben wir bei der alten traditionellen Musik der jüdischen Synagogen? Beschäftigen wir uns mit zeitgenössischen jüdischen Komponist*innen und Arrangements? Wie wecken wir das Interesse der nachfolgenden Generation?


Petra Wegner, 65 Jahre, ist Goldschmiedemeisterin und ehrenamtliche Sprengelbeauftragte für die Arbeit mit Frauen in der Landeskirche Hannovers. Außerdem ist sie Mitglied im Redaktionsbeirat leicht & SINN.

Anmerkungen
1)
1 Rundbrief http://www.waldenser-freundeskreis.de/rundbrief.html


Zum Weiterlesen:
www.begegnung-christen-juden.de
www.ostfriesischelandschaft.de/Juden
www.villa-seligmann.de
de.wikipedia.org/wiki/Stolpersteine

_________

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / ca. 75 Minuten

Biografiearbeit in Kleingruppen [ca. 45 Minuten]
In Biografiearbeiten in Gruppen geht es darum, Erinnerungen und Ressourcen aufzuzeigen, eventuell umzulenken und gestärkt zu benutzen. Es kann sehr intensiv sein, und nicht alle TN sind gleichermaßen bereit, sich zu öffnen. Daher sollte eine Alternative, bspw. eine Zeitleistenarbeit angeboten werden (s. leicht&SINN 1/2022, Regina Wahl: Revolution für Anfänger*innen).
Hinweis für die Gruppenleitung: Im Gespräch auf ein ausgewogenes Redeverhältnis achten; Ressourcen für Hilfestellungen bereithalten; außerdem kann entsprechend der Gruppengröße mehr Zeit eingeplant werden.


Erinnerungsimpuls:
Vieles in unserem Leben verbinden wir mit sinnlichen Erfahrungen. Alle TN sind daher aufgefordert, etwas mitzubringen (Gewürze, Lieder, Bilder usw.), das Erinnerungen in ihnen weckt. In der Gruppe teilen die TN ihre Assoziationen miteinander. Wichtig dabei ist, dass die TN die Entwicklung sehen, die geschieht (bspw. weckt ein bestimmter Song Erinnerungen an die Großeltern, aber man selbst hört inzwischen andere Musikarten).

Gespräch im Plenum  [ca. 30 Minuten]
Im vorangegangen Teil haben die TN sich erinnert, jetzt sollen sie eine Bilanzierung vornehmen. Daraus wird deutlich, wo perspektivische Leerstellen sind und wo die Chance besteht, über sich hinauszuwachsen.
Hinweis für die Gruppenleitung: Es ist darauf zu achten, dass die Fragen nacheinander und in je einer Minute beantwortet werden.

– Bin ich zufrieden/unzufrieden mit meinen Erinnerungen?
– Was möchte ich neu sehen?
– Was hält mich fest, was hindert mich?
– Gab es einen Perspektivwechsel in meinem Leben?
– Kann ich daran anknüpfen?
– Was macht mir Freude?

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