Alle Ausgaben / 2016 Artikel von Cornelia-Radeke-Engst

Neue Geistkraft werde ich in ihre Mitte geben (EZ 36,27)

Können sich Menschen wirklich ändern?

Von Cornelia-Radeke-Engst

Als ich vor zwei Jahren als Pfarrerin an den Ort der ehemaligen Garnisonkirche ging, um die Aufbauarbeit in der Nagelkreuzkapelle zu einem Ort von Frieden und Versöhnung fortzusetzen, war eine meiner Weggefährt_innen entsetzt: Dort gehst du doch hoffentlich nicht freiwillig hin? Andere haben mit mir gebrochen, weil sie der Meinung sind, an diesem Ort kann nichts Gutes entstehen, denn dort stand die alte Garnisonkirche, ein Symbol für den Geist von Preußen, die Allianz von Thron und Altar.

Als Militärkirche war sie ein Ort, an dem Fahnen geweiht, Kriegsstandarten gesammelt und Soldaten mit dem „Segen“ Gottes in den Krieg für Volk und Vaterland geschickt wurden. Der Missbrauch der Kirche für den Staatsakt zur Reichstagseröffnung am 21. März 1933 und die damit verbundene symbolische Auslieferung der preußischen Traditionen an die Nazis unter dem Jubel der Massen hat sich fest in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Wenn diese Kirche wieder aufgebaut wird, sagen einige, dann ist ihre Botschaft so stark, dass kein neuer Geist sich dagegen behaupten kann. Die Formensprache der barocken Militärkirche wird stärker sein als deine Arbeit. Du magst ja vielleicht guten Willens sein, aber nach dir können Menschen kommen, die diese Kirche erneut missbrauchen. Diese Reaktionen antworten auf die Frage „Können sich Menschen ändern?“ mit: „Nein, Menschen ändern sich nicht, sie werden immer wieder Untertanen des alten Geistes.“
Woher kommt diese Skepsis? Sie ist zutiefst menschlich. Vergeblich rufen die Prophetinnen und Propheten den Menschen im Volk Israel entgegen: Haltet Gottes Gebote! „Aber das tun die nicht.“1

Andere versuchen, mich zu überreden, nur Positives aus der Geschichte der Kirche zu betonen: In der Garnisonkirche wurde 1809 der erste frei gewählte Potsdamer Magistrat in sein Amt eingeführt. In der Nazizeit lag dort nicht wie in vielen anderen Kirchen „Mein Kampf“ neben der Bibel auf dem Altar. Die Militärpfarrer standen der Bekennenden Kirche nahe, über 30 Gemeindeglieder waren am Widerstand am 20. Juli 1944 beteiligt.
In herausragender Weise bildet die zwiespältige Geschichte an diesem Ort die Ambivalenz deutscher Geschichte ab und macht den Ort zu einem exponierten Lernort deutscher Geschichte.

Geschichte erinnern

Können sich Menschen ändern? Können Menschen wirklich lernen?
Veränderung geschieht durch Menschen, die sich der Geschichte stellen, erinnern, was geschehen ist. Wenn sie dabei genau hinschauen, eröffnen sich Zukunft und Versöhnung.

Deshalb ist der erste Schwerpunkt für meine Arbeit „Geschichte erinnern“.

In der Hebräischen Bibel und der jüdischen Tradition gehört Erinnern zum „Reich des Lebens“. Der Ba'al Schem Tov, der Begründers des Chassidismus, sagt: „Das Exil wird länger und länger des Vergessens wegen, aber vom Erinnern kommt die Erlösung.“2
Menschen, die sich im Angesicht Gottes erinnern, werden neue Wege zum guten Leben finden.

Richard von Weizsäcker stellt sich in seiner Rede am 8. Mai 1985 vor dem Bundestag in diese jüdisch-christliche Tradition: „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren … Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden. Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit – für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.“3

Friedensgebete zu Gedenktagen erinnern und laden zur Auseinandersetzung ein. Vorträge bspw. von Christopher Clark und Avi Primor zum Ersten Weltkrieg oder von Konrad Raiser und Fulbert Steffensky zum Thema Umkehr und Neuanfang bilden einen neuen Geist und ein verantwortungsvolles Herz.

Verantwortung lernen

Dafür müssen Menschen „Verantwortung lernen“ – das ist der zweite Schwerpunkt meiner Arbeit. Ein ähnliches Schreckensszenario wie es das Ezechielbuch beschreibt, hat in der Kriegszeit und in der sogenannten „Nacht von Potsdam“ am 14. April 1945 Menschen traumatisiert, die Kirche brannte im Feuersturm aus. Zurück blieb „schreckensstar gewordenes Land“ (Ez. 36, 34f).

Nach dem Krieg versuchten Menschen einen Neuanfang. Die FDJ4 beschwerte einen Sarg mit Steinen, versah ihn mit den Worten „Hier ruht der Geist von Potsdam“ und versenkte ihn in der Havel. Die Steine kippten aus dem Sarg, der „Geist von Potsdam“ stieg wieder an die Oberfläche. Der alte Geist lässt sich nicht einfach ersäufen.

Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Inneren wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.“5 Wir verlassen uns dabei auf Gottes Geistkraft: „Ich gebe euch ein neues Herz, und neue Geistkraft werde ich in eure Mitte geben.“
(V 26) Die kleine Zivilgemeinde der ehema­ligen Garnisonkirche gestaltete in der Bitte um einen neuen beständigen Geist nach dem Krieg einen Neuanfang in der Turmruine und baute dafür eine Kapelle ein.
Sie verlässt sich darauf: „Die Lebendige reinigt von den schuldhaften Taten. Sie macht die Städte wieder bewohnbar, ermöglicht es, dass die Trümmer wieder aufgebaut werden.“ (V 33) „Das schreckensstarr gewordene Land wird neu bebaut werden, statt allen Vorübergehenden schreckensstarr vor Augen zu liegen.“ (V 34) So begann konsequente Friedens- und Versöhnungsarbeit, später fortgesetzt unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“.

Doch 1968 lässt Walter Ulbricht zur Gottesdienstzeit den beschädigten Turm mit der Kapelle sprengen.6 Der Geist des Sozialismus hat der Kirche den Kampf erklärt.7 In der Nacht vor der Enteignung der Kirche feiert die Gemeinde einen letzten Gottesdienst in der Kapelle. Auf dem Tonbandmitschnitt8 deutet der Pfarrer in der Tradition der hebräischen Bibel und des Ezechielbuches die Katastrophe theologisch. Die kleine Gemeinde nimmt das Urteil über die Kirche aus Gottes Hand. Für sie bleibt Gott auch in der Zerstörung ihres Gotteshauses wirkmächtig. Sie übernimmt die Verantwortung für die Vergangenheit.
Im letzten Jahr haben wir am Weltfriedenstag an diesem Ort über „Katastrophen der Gegenwart“ nachgedacht und unter anderem mit dem Friedensbeauftragten der EKD, Renke Brahms, dem Militärbischof der EKD, Dr. Sigrud Rink und Dr. Paul Oestreicher, dem ehemaligen Leiter des Versöhnungszentrums an der Kathedrale in Coventry über Wege zur Prävention von Kriegen und die Militäreinsätze der Bundeswehr diskutiert.

Versöhnung leben

Heute steht an dem Ort die Nagelkreuzkapelle. Dort wird gebetet, immer wieder auch interreligiös, wie zum Beispiel am Holocaust-Gedenktag. Menschen treffen sich, die für Frieden und Versöhnung eintreten, die um die Bewältigung von Kriegstraumatisierung ringen, die sich mit Täter- und Opfergewordensein in beiden deutschen Diktaturen auseinandersetzen. Schülergruppen bearbeiten Themen wie Diktatur, Widerstand und Demokratie und stehen für einen neuen Geist.

Schuldübernahme lässt ins Handeln zurückfinden. „Ich gebe euch ein neues Herz, und neue Geistkraft werde ich in eure Mitte geben. Ich entferne das steinerne Herz aus eurem Fleisch und gebe euch ein fleischernes Herz. Was in der Katastrophe erstarrt ist, kann wieder lebendig werden.“ (V 26) Das Herzstück des Projekts zum Wiederaufbau des Turmes der alten Kirche als Friedens- und Versöhnungszentrum ist eine kleine Profilgemeinde.9 In unseren regelmäßigen Friedensgebeten mit dem Versöhnungsgebet von Coventry bitten wir „Father forgive/Vater vergib“. Wir beten nicht „Vater vergib ihnen“, denn wir stellen uns, wenn wir um den Frieden in der Welt beten, in eine Schuldgemeinschaft aller Menschen. In Friedensgebeten an Gedenktagen, Lesungen, Vorträgen und dem „Potsdamer Friedensdiskurs“ wird Geschichte erinnert und Ver­antwortung übernommen und – das ist der dritte Schwerpunkt unserer Arbeit: „Versöhnung gelebt“. Menschen, die das tun, verändern sich immer wieder neu.10

Eine Veranstaltung ist mir besonders wichtig geworden: „Mein Potsdam“.
An diesen Abenden erzählen Menschen mit unterschiedlichen biografischen Hintergründen, aus dem Osten oder dem Westen, Menschen, die gegen den Wiederaufbau der Kirche sind und Menschen, die sich die Kirche im Stadtbild zurückwünschen, Friedensbewegte oder Barockliebhaber*innen was sie sich für ihre Stadt wünschen und was ihnen wichtig ist für das Zusammenleben der Menschen in unserer Stadt.

Ich glaube daran, dass wir, erfrischt von Gottes Geistkraft, immer wieder neu aufstehen ins Leben.

Cornelia Radeke-Engst, geb. 1956 arbeitet in einer landeskirchlichen Pfarrstelle in der Nagelkreuzkapelle am Ort der ehemaligen Garnisonkirche Potsdam. Zuvor war sie Dompfarrerin in Brandenburg/Havel und Landespfarrerin für Frauen- und Familienarbeit der EKBO. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn, vier Stiefkinder und 7 Enkelkinder.

Anmerkungen
1) Johannes Bobrowski, „Der Mahner“, Union Verlag Berlin, 1980, S. 26
2) Sefer Ba'al Schem Tov, II, 190 § 8; zitiert nach ­Grözinger, K. E. (o. J.), Gedenken, Erinnern und Fest als Wege zur Erlösung des Menschen und zur Transzendenzerfahrung im Judentum. In: B. Casper und W. Sparn (Hrsg.), Alltag und Transzendenz. Studien zur religiösen Erfahrung in der gegenwärtigen Gesellschaft. Freiburg/München: Karl Alber, Sonderdruck, S. 32)
3) www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html
4) DDR-Jungendorganisation „Freie Deutsche Jugend“
5) Weizsäcker, ebd.
6) So wie 60 weitere Kirchen in der DDR gesprengt werden.
7) Walter Ulbricht, „Turmrede“, 7. Mai 1953, Stalinstadt (Eisenhüttenstadt) „Ja! Wir werden Türme haben, zum Beispiel einen Turm fürs Rathaus, einen Turm fürs Kulturhaus. Andere Türme können wir in der sozialistischen Stadt nicht gebrauchen.“
8) www.garnisonkirche-wissen.de/wissensspeicher/o-toene/
9) Siehe „Kirche der Freiheit“
10) Veranstaltungsprogramme unter: garnisonkirche-potsdam.de/mediathek/videos-audios-dokumente/Nagelkreuzkapelle am Ort der ehemaligen Garnisonkirche Potsdam

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