Noch vor zehn Jahren hätten viele den Feminismus in Deutschland für erledigt, die Frauenbewegung für tot gehalten. Emanzipation abgeschlossen, Thema abgehakt. Heute sagt das wohl ernsthaft niemand mehr. Zu offensichtlich ist, dass Feminismus und Frauenbewegung nach wie vor – oder wieder? – höchst lebendig sind.
Mit ihren Diskussionen auf Twitter und in Blogs lösten Feministinnen im Januar 2013 eine gesellschaftsweite Debatte über alltäglichen Sexismus aus, die eine Woche lang zur besten Sendezeit die Fernseh-Talkshows beschäftigte. Das popkulturelle „Missy Magazin“, eine feministische Vierteljahreszeitschrift mit jungem Publikum, feiert in diesen Tagen seinen fünften Geburtstag. Regelmäßig werden landauf, landab größere oder kleinere feministische Konferenzen organisiert, wie etwa das „Gendercamp“ im Mai in Norddeutschland oder das Frauen-Barcamp im Oktober in Berlin, bei dem sich in diesem Jahr rund 170 Frauen und Männer zum Diskutieren und Netzwerken trafen. Und natürlich sind die zahlreichen feministischen Blogs oder Podcasts längst eine feste Größe im Internet.
Es ist eine neue Generation, die hier aktiv ist, die meisten Akteurinnen sind in den Zwanzigern und Dreißigern. Doch die Themen, um die es ihnen geht, sind häufig nicht neu: sexistische Werbung und Berichterstattung, die ständige Reproduktion von Rollenklischees, die (nicht vorhandene) Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sexuelle Gewalt, geringer Frauenanteil in maßgeblichen Gremien, ungleiche Bezahlung und so weiter.
Manch ältere Feministin reagiert verwundert, dass diese „alten“ Themen immer noch auf der Tagesordnung stehen. Haben wir das nicht alles schon in den Siebzigern und Achtzigern diskutiert? Andererseits: Gelöst sind diese Probleme eben noch nicht, oder jedenfalls nicht zufriedenstellend. Oder es haben sich durch bestimmte Lösungsansätze neue Probleme ergeben, wie zum Beispiel in Punkto Erwerbsarbeit. Niemand würde heute noch das Recht von Frauen, ihr eigenes Geld zu verdienen, in Frage stellen. Doch durch den Wegfall der „Versorger-Ehe“ stellt sich das Problem der unbezahlten, aber gleichzeitig notwendigen Haus- und Fürsorgearbeit für die einzelne Frau in viel größerer Schärfe als früher.
Wenn man genauer hinschaut, ist der „neue Feminismus“ auch nicht ganz genau dasselbe wie der Feminismus der vorigen Generation. Bei vielem hat sich nämlich der Fokus ein wenig verschoben. So haben sich die meisten jüngeren Feministinnen vom „Separatismus“ verabschiedet, der für die Frauenbewegung in den 1970er Jahren sehr wichtig war. Statt sich ausschließlich unter Frauen zu treffen und eigene Aktionsformen zu entwickeln, ist es ihnen wichtig, Männer einzubeziehen. Und gleichzeitig gibt es in ihrer Generation im Vergleich zu früher auch wirklich mehr Männer, die sich ernsthaft für Feminismus interessieren und sich selbst entsprechend engagieren.
Dabei spielt auch eine Rolle, dass heute die Zuordnung von Menschen zu einem von exakt zwei Geschlechtern generell problematisiert wird. Vielen Jüngeren widerstrebt es, einfach ohne weiteres von Frauen und Männern zu sprechen; es ist ihnen zum Beispiel wichtig, auch Trans- und Intersexualität immer mitzudenken. Oft ergänzen sie deshalb ein Sternchen (Frauen*), um deutlich zu machen, dass es sich beim Geschlecht nicht um eine biologische Selbstverständlichkeit, sondern um ein soziales Konstrukt handelt. Und beim geschlechterbewussten Schreiben ist der Unterstrich (Feminist_innen) dabei, das alte „Binnen-I“ zu ersetzen; er soll eine „Lücke“ für weitere Geschlechter neben männlich und weiblich sichtbar machen.
Eine andere Verschiebung hat sich rund um den Begriff der „Intersektionalität“ (Überkreuzung) ergeben. Damit ist gemeint, dass feministische Themen niemals nur das Verhältnis zwischen Frauen* und Männern* betreffen, sondern eingebettet sind in andere soziale Ungleichheiten, die sich in einer konkreten Situation meist überschneiden. So hat eine Frau, die mit rassistischer Diskriminierung konfrontiert ist oder in prekären Arbeitsverhältnissen lebt, andere Probleme und Anliegen als eine, die aus dem weißen deutschen bürgerlichen Mittelstand kommt. Hier ist die jüngere deutsche Frauenbewegung deutlich vielfältiger als es die der siebziger und achtziger Jahre war. Zwar sind weiße Frauen aus dem bürgerlichen Milieu mit deutschen Familienwurzeln unter den Aktivistinnen noch immer in der Mehrzahl, doch haben die Stimmen von Frauen mit anderen Hintergründen deutlich an Gewicht gewonnen, zum Beispiel die der muslimischen Bloggerin Kübra Gümüsay, die kürzlich unter dem Schlagwort #schauhin eine Kampagne gegen Rassismus startete und damit großen Widerhall in der feministischen Community fand.
Aus diesem Grund sehen die meisten jüngeren Feministinnen in Deutschland auch die Aktionen von „Femen“ äußerst kritisch. Diese aus der Ukraine stammende Gruppierung, die mit nackten Busen für feministische Anliegen eintritt, hat zwar große Aufmerksamkeit in den Medien erregt (Nackte Busen!!!), ist aber in der jüngeren Frauenbewegung hierzulande kaum vernetzt. Vor allem ihre islamfeindlichen Auftritte, aber auch die Aktionsformen mit der sexualisierten Präsentation des eigenen Körpers und die dünnen inhaltlichen Positionen stoßen überwiegend auf Ablehnung – zumal Femen ausschließlich aus Frauen zu bestehen scheint, die dem gängigen Schönheitsideal entsprechen. Gerade die Kritik an Körpernormen ist jedoch ein wichtiges Thema in der heutigen Frauenbewegung. Unter dem Stichwort „Fat acceptance“ geht es dabei nicht mehr nur darum, den Zwang zu übertriebenem Dünnsein zu kritisieren, sondern – wie bei den anderen Themen auch – um die positive Akzeptanz von Vielfalt, die Ablehnung jeglicher Norm und die Achtung von individuellen Positionen, Vorlieben, Gegebenheiten.
Das Bekenntnis zur Pluralität des Frau*-Seins generell ist im heutigen Feminismus deutlich stärker ausgeprägt als vor dreißig, vierzig Jahren. Jeder Bezug auf ein gemeinsames „Wir“ der Frauen wird äußerst skeptisch gesehen. Das schlägt sich dann auch in einer gewissen Abneigung dagegen nieder, sich in festen Frauenorganisationen oder ähnlichen Institutionen zusammenzuschließen. Letztlich ist das aber nur die konsequente Weiterentwicklung feministischer Traditionen, denn die Frauenbewegung ist ja noch nie vorwiegend institutionell vorgegangen. Sie hat sich zum Beispiel nie – wie andere soziale Bewegungen – in einer Partei konstituiert, und Frauenverbände hatten immer eher die Funktion, ein organisatorisches Dach zu bilden, während die eigentliche Basis die Beziehungen zwischen Frauen in ihrer Vielfalt waren.
Das Internet und die dort entstandenen sozialen Plattformen ermöglichen es nun eben noch besser, feministische Aktionen auch ohne „Zentrale“ effektiv zu bündeln. So müssen zum Beispiel Unternehmen, die frauenfeindliche Werbung schalten, heute mit Protesten rechnen, die viel wirksamer sind als es die Beschwerde einer Frauenorganisation beim Deutschen Werberat jemals sein konnte. Die Lufthansa etwa musste voriges Jahr nach wenigen Tagen eine Kampagne abblasen, in der sie mit billigem Weibchen-Klischee für eine Miles-and-More-Partnerkarte warb. Auch der Energiekonzern Eon geriet unter Beschuss, weil er in einem Werbevideo häusliche Gewalt verharmloste – nach nur zwei Tagen Protest wurde das Video nicht weiter gesendet.
Damit eine Idee oder Kampagne sich durchsetzt, ist es nicht mehr notwendig, dass eine Organisation sie lanciert, es genügt, dass eine Handvoll Frauen eine Idee hat, die dann „zündet“, so wie es zum Beispiel beim „Aufschrei“ der Fall war. Da gab es auch kein gemeinsames Positionspapier, ganz im Gegenteil: Gerade dass in der feministischen Blogosphäre kontrovers darüber diskutiert wurde, was genau Alltagssexismus ist und was dagegen unternommen werden könnte, hat dem Thema Aufmerksamkeit gebracht. Es war also nicht der gemeinsame feministische Standpunkt, sondern die vielen persönlichen und teilweise sogar gegensätzlichen Geschichten und Einzelbeiträge, die die Debatte vorangebracht haben.
Nicht immer schaffen solche Initiativen es in die Primetime-Talkshows, aber auch kleinere Aktionen können langfristig Wirkung entfalten. Wie zum Beispiel das Schlagwort #609060, das die Bloggerin Journelle vor über einem Jahr eher zufällig – aufgrund eines Vertippers, denn sie wollte eigentlich über die Körpernorm 90-60-90 schreiben – ins Leben gerufen hat. Bis heute posten Frauen und Männer unter diesem Stichwort Fotos von sich selbst, um das Netz mit Bildern zu füllen, die die Vielfalt und Schönheit menschlicher Körper und individueller Alltagsmode wiedergeben.
Konflikte zwischen feministischen Strömungen und Positionen gab es immer, aber im Internet können sie leichter voneinander wissen und sich bei Bedarf punktuell verbünden. Da gibt es radikale Queerfeministinnen ebenso wie Aktivistinnen für Frauenquoten, popkulturelle oder Do-it-yourself-Blogs ebenso wie genuin politische Foren, kleine Gemeinschaftsprojekte ebenso wie Einzelakteurinnen. Jede kann sich für die Themen engagieren, die ihr am Herzen liegen, von Parteipolitik über Handarbeit bis Computertechnik. Die Feministin von heute muss nirgendwo eintreten oder Mitglied werden, sondern kann einfach den Computer einschalten und loslegen. Feminist_innen können an der einen Stelle streiten, an einer anderen Stelle gemeinsam agieren, ohne sich langfristig festlegen zu müssen. Sie wissen voneinander, auch wenn sie nicht immer einer Meinung sind, und sehr häufig kommt es bei der einen oder anderen Gelegenheit dann auch dazu, dass sie sich persönlich treffen und kennenlernen. Was die Beziehungen untereinander dann wiederum stärkt. Auf diese Weise braucht die Frauenbewegung heute erst recht kein einheitliches Programm und auch keine medienwirksamen Anführerinnen mehr.
Leider funktioniert diese Vernetzung noch nicht so gut zwischen den Generationen. Während es den traditionellen Frauenverbänden oft an Nachwuchs mangelt, fehlen gleichzeitig die Stimmen, das Wissen und die Erfahrungen älterer Feministinnen in den neuen Bewegungen und Diskursen. Das hängt zum großen Teil auch damit zusammen, dass das Internet von älteren Menschen und speziell älteren Frauen vergleichsweise noch wenig genutzt wird.
Dabei war es noch nie so leicht, jüngere Feministinnen kennen zu lernen –
sie sind ja nur einen Klick entfernt. Es kommt dabei gar nicht so sehr darauf an, sofort selbst einen Blog oder eine Facebookseite einzurichten, auch wenn das nicht schaden kann. Viel wichtiger wäre es aber, sich selbst einen Überblick über die Akteurinnen zu verschaffen, ihre Blogs zu lesen, Interesse zu zeigen, Beziehungen aufzubauen. Nur so lässt sich ja erkennen, wo die eigenen Erfahrungen, Vorarbeiten, das eigene Wissen und die eigenen Ideen hilfreich sein könnten für die Themen, die jüngere Feministinnen heute interessieren, und wo sich daher eine engere Zusammenarbeit anbieten würde.
Für die Arbeit in der Gruppe
Material:
tabellarische gegenüberstellung – ausführliche Tabelle für Abonnentinnen unter www.ahzw-online.de / Service zuum Herunterladen vorbereitet; Liste der themen; Klebepunkte
Neues aus der Frauenbewegung
Zwei Frauen tragen abwechselnd die „Nachrichten aus der Frauenbewegung“ vor: die eine die aus der Frauenverbandsarbeit, die andere die aus der nicht-institutionalisierten Frauenbewegung.
Impuls: Wir hörten eben Beispiele für Aktionen der verbandlichen Frauenarbeit und der nicht-institutionalisierten Frauenbewegung in Deutschland im Laufe des letzten Jahres. Was fällt Ihnen auf? Was erstaunt oder irritiert?
– spontane Reaktionen sammeln
„Neuer“ Feminismus
Einführung anhand „Nichts Neues unter der Sonne“ bis „… nicht ganz genau dasselbe wie der Feminismus der vorigen Generation.“
Impuls: Wodurch unterscheiden sich die Formate und Inhalte? Schauen wir einmal genauer hin. – Tabelle verteilen; in Kleingruppen besprechen:
– Welche Formate und Inhalte der beiden Formen von Frauenarbeit sind eher gleich, wo sind Unterschiede?
– Wer wird durch welche Formate erreicht, wer nicht?
– Wie schätzen Sie die Wirkmächtigkeit der Maßnahmen ein (kurzfristig / langfristig)?
– Welche Vor- und Nachteile sehen Sie in der jeweiligen Form der Lobbyarbeit?
Ergebnisse zusammentragen – evtl. ergänzen aus dem Beitrag oben
Eigene Anliegen effektiv vertreten
Welche Themen liegen Ihnen besonders am Herzen? – folgende Themen auf je eine Karte schreiben, erläutern und in die Mitte legen; evtl. ergänzen; jede hat
3 Punkte
sexistische Werbung und Berichterstattung / Reproduktion von Rollenklischees / Normierung von Schönheitsidealen / (nicht vorhandene) Vereinbarkeit von Beruf und Familie / sexuelle Gewalt / geringer Frauenanteil in Leitungsgremien / ungleiche Bezahlung / Trans- und Intersexualität, Pluralität des Frau*-Seins / Intersektionalität / …
Impuls: Welche Möglichkeiten sehen Sie, sich für Ihre Anliegen einzusetzen?
– Diskussion in Gruppen, Ergebnisse zusammentragen
Impuls: Was halten Sie davon, das einmal mit einer Vertreterin eines Frauenverbandes, einer Gleichstellungsbeauftragten oder einem Mitglied des Landesfrauenrates und einer Internetaktivistin zu diskutieren?
– Verabredung für die Weiterarbeit
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024
erschienen. Der Abschluss eines Abonnements
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