Ausgabe 1 / 2013 Material von Reinhold Bernhardt

Niemand kommt zum Vater, denn durch mich

Von Reinhold Bernhardt

Mit der großen Mehrzahl der Exegeten gehe ich davon aus, dass es sich bei den im Johannesevangelium überlieferten Abschiedsreden (Joh 14-16) nicht um Worte des historischen Jesus, sondern um Vergewisserungen der geistlichen Anwesenheit Jesu handelt – verfasst durch die theologische Schule der johanneischen Gemeinde in der Gattung des literarischen Testaments. Damit bildet die Situation der Gemeinde den primären Auslegungshorizont. Die Gemeinde lebte in einer Diasporasituation – vermutlich in einem relativ abgeschlossenen Gebiet südlich von Damaskus. Sie sah sich als abtrünnige Minderheit mit der sie umgebenden synagogal organisierten jüdischen Bevölkerungsmehrheit konfrontiert. Es kam zu massiven Auseinandersetzungen, die zum Ausschluss der johanneischen Gemeinde aus dem Synagogenverband geführt haben (9,22; 12,42; 16,2). … Es vollzog sich eine Wechselwirkung gegenseitiger Ausgrenzungen: Je mehr die Juden der Synagoge die Messianität Jesu bestritten, um so steiler wurde sie von den Wortführern der johanneischen Schule behauptet – bis hin zu der Exklusivbehauptung, dass nur der, der an den von Gott gesandten messianischen Erlöser glaube, in Wahrheit den Vater ehrt (5,23). Durch seine Kreuzigung aber hätten sich die Juden als Gottlose erwiesen (8,37ff); 10,30; 15,23; 16,32). Das bedeutete die theologische Exkommunikation der rabbinischen Orthodoxie.

Zum Kampf um die Selbstverteidigung der Gemeinde nach außen kam das Ringen um die Vergewisserung der Glaubensgrundlagen und damit um die Orientierung und Integration im Innern. „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ – Diese Exklusivaussage in Joh. 14,6b ist jedoch nicht isoliert zu deuten …
(1) Joh 14,6 ist als Bekenntnis- und Erfahrungsschatz der johanneischen Christen zu verstehen, nicht als theologischer Bedingungssatz, nicht als allgemeingültige lehrhafte (dogmatische) Beziehungsbestimmung des Christenglaubens zu anderen „Wegen“ in die Gottesgemeinschaft.
Wo aus dem personalen Bekenntnis, in Christus die unmittelbare Nähe Gottes geistlich erfahren zu haben und alle Hoffnung auf seine Wegbereitung zum Vater zu setzen, das allgemeine Urteil wird, niemand komme zum Vater, der nicht an Christus glaube, hat sich eine Bedeutungsverlagerung vollzogen.

(2) Joh 14,6 ist aus dem Erfahrungszusammenhang der bedrängten Gemeinde zu verstehen.
Wo diese Bedrängnis durch die rabbinischen Autoritäten nicht mehr besteht, muss mit den antijüdischen Aussagen auch die exklusive Spitze von V. 6b zurückgenommen werden. Die Problematik der Rezeptionsgeschichte von V. 6b hat ihren Grund darin, dass der Situationshintergrund nicht in die Deutung mit einbezogen, das Christus zugeschriebene Wort als Wort des historischen Jesus aufgefasst und zur zeitlos gültigen und universal anwendbaren Exklusivbehauptung erhoben wurde. Auf diese Weise konnte es als geistige Waffe im Abwehrkampf gegen Andersgläubige fungieren.

(3) Die Aussage in Joh 14,6 wendet sich an die Anhänger Jesu, nicht an Außenstehende. Schon von daher verbietet sich ihre Anwendung als Drohungs- oder Verwerfungsurteil über alle, die nicht an Christus glauben. Joh 14,6 gilt nicht zuerst den Nicht-Christen, sondern den Christen und ist als Kirchenkritik zu entfalten. Der Vers ist als Zuspruch der Befreiung von klerikaler Reglementierung der Gottesbeziehung zu verstehen. Als solcher kann er kritisch allen Versuchen entgegengehalten werden, hinter die Einsicht des Paulus, der johanneischen Schule und der Reformatoren zurückzufallen, dass der Glaube als existentielle Hinwendung zu Gott nicht eine vom Menschen zu erbringende Leistung, sondern ein unverfügbares Geschenk Gottes und damit Ausdruck seiner Gnade ist (vgl. 6,44). „Der Zeigefinger solcher Worte richtet sich nicht auf andere, sondern, recht gehört, auf uns selbst.“ Joh 14,6 erinnert an die Unbedingtheit der Gnade Gottes, formuliert ein kritisches Prinzip gegen alle religiöse Selbstgerechtigkeit – gerade auch im Umgang mit Menschen anderen Glaubens – und setzt einen radikalen Befreiungsimpuls von allem religiös motivierten Zwang frei, vor allem bei der Verkündigung des Christusweges, auch und gerade gegenüber Juden.

aus:
Grenzen erkunden –
zwischen Kulturen,
Kirchen, Religionen
hgg. v. Katrin Kusmierz u.a.
© Verlag Otto Lembeck
Frankfurt am Main 2007
 

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