Ausgabe 1 / 2009 Andacht von Waltraud Liekefett

Nimm Abschied und gesunde

Andacht für ein Leben nach der Arbeit

Von Waltraud Liekefett


Das Gefühl kennen wohl die meisten von uns. Wie manches Mal schon haben wir uns gesehnt nach weniger Arbeit, weniger Zeitdruck, weniger Aufgaben. Nach dem wohl verdienten „Ruhestand“.

Ganz gleich, ob frau bezahlt oder unbezahlt arbeitet – je länger desto öfter überkommt uns diese Sehnsucht nach einer Zeit, in der wir endlich selbst bestimmen können, wie wir unsere Zeit gestalten. Nicht, dass wir gar nicht mehr arbeiten wollten. Aber selbstbestimmt arbeiten: Wer kann dies schon in der Berufstätigkeit, wo die Arbeitsabläufe vorgegeben sind von den Terminen anderer? Oder als Hausfrau, wo die Bedürfnisse von Kindern, Ehemann und anderer im Haushalt lebender Personen die Zeit und die Arbeitsabläufe bestimmen?

Dass es dann auch eine Zeit geben wird, wo wir nicht mehr arbeiten können, weil die Kräfte nachgelassen haben, die Hände nicht mehr zugreifen können, der Rücken schmerzt – wir mögen es uns kaum vorstellen. In unseren Gruppen, unserer Nachbarschaft, unserer Kirchengemeinde begegnen wir Menschen, die diesen Punkt in ihrem Leben erreicht haben. Oft ist damit viel Traurigkeit, Hadern, Schmerz verbunden. Und auch die Frage: „Was bin ich denn noch wert?“ Können wir diesen Menschen Trost geben, was können wir sagen, tun?

Als mich die Anfrage für diese Andacht erreichte, fiel mir sofort meine Mutter ein. Was hat sie in ihrem Leben viel und schwer gearbeitet! Auf dem Feld beim Bauern Steine gelesen, Rüben gerodet, Kartoffeln gesammelt hat sie. Und dann die große Jugendherberge allein als Herbergsmutter geleitet. Sie tat es selbstverständlich. Vor uns Kindern jedenfalls hat sie selten gestöhnt. Als sie dann in den Ruhestand ging, hatte sie ganz schnell viele Ehrenämter, übernahm Aufgaben in der Kirchengemeinde, beim Roten Kreuz, in der Frauenhilfe. Tag für Tag war sie unterwegs, und abends bei der Tagesschau hatte sie das Strickzeug in der Hand, die Socken für den Adventsbasar mussten doch fertig werden – und natürlich wurden auch wir Kinder und die Enkel regelmäßig mit „Muttersocken“ versorgt. Als dann die Kräfte nachließen, hat meine Mutter darunter sehr gelitten. Jeder Abschied von einem Stück Arbeit war ein tiefer Schmerz für sie.


Vorbereitung:

– Tuch in gedeckten Farben, eine Kerze und eine Vase mit dürren Zweigen und einer schönen Blüte für die Mitte
– eine Kopie des Bildes der alten Frau für jede Teilnehmerin, Liederzettel (siehe S. 31) Kopiervorlagen sind für Abonnentinnen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet.
– Kopien des Gedichtes „Stufen“ von Hermann Hesse für jede Frau zum Mitnehmen
– Instrumentalmusik
– großer Papierbogen und dicker Stift

1 Sie können die Andacht mit diesen kurzen einführenden Gedanken beginnen oder ähnlich mit eigenen Erfahrungen. Dann eröffnen Sie die erste Gesprächsrunde, etwa mit der Frage: „Welche Bilder kommen mir in den Sinn, wenn ich an meine Mutter oder Großmutter bei der Arbeit denke? Und wie war es, als sie dann älter wurden, als sie „nicht mehr so konnten“?
Geben Sie den Frauen einige Minuten Zeit, Ihren Erinnerungen nachzuhängen. Im Hintergrund können Sie eine leise, ruhige Musik spielen lassen. Dann bitten Sie die Frauen, ihre Erinnerungen auszutauschen – dabei aber nicht zu diskutieren, sondern nur nachzufragen.
Mit dem Lied: „Meine Zeit steht in deinen Händen“ schließt die Runde.

2 Verteilen Sie jetzt das Bild der alten Frau im Sessel. Lassen Sie den Frauen Zeit, das Bild in Ruhe anzuschauen; geben Sie als Impuls nur die Frage in den Raum: „Was mag in der alten Frau vorgehen? Was mag sie denken?“

Auch diese Gesprächsrunde schließt mit dem Lied: „Meine Zeit steht in deinen Händen“.

3 Leiten Sie die dritte Runde ein mit der Frage: „Welchen Satz möchte ich dieser Frau sagen?“
Die Antworten sollten gut sichtbar aufgeschrieben werden. Nutzen Sie dazu entweder ein Flipchart, an dem eine die Antworten festhält, oder legen Sie ein großes Plakat in die Mitte, auf dem jede Frau selbst ihren Satz festhält.

Nun kann die Leiterin noch folgende Punkte einbringen und damit das Gespräch eröffnen:
– Es ist richtig und wichtig, dass du haderst, dass du traurig bist, dass der Verlust der Arbeitskraft schmerzt.
– Du hast das Recht im Sessel zu sitzen, die Hände in den Schoß zu legen, zu trauern, zu träumen, aus dem Fenster zu schauen.
– Dein Wert als Mensch vergeht nicht, Gottes Liebe gilt allen Menschen, in jeder Lebensstufe.

Auch diese Runde schließt mit dem Lied: „Meine Zeit steht in deinen Händen“.
Anschließend lesen Sie den folgenden Text vor.


Stufen des Lebens

Ich erinnere mich an den Tag, als ich meinen Schreibtisch aufräumte. Noch einmal ging ich durch alle Räume und dann zum Ausgang. Ich hörte noch, wie die Tür hinter mir leise schloss. Ich spürte einen tiefen Schmerz – und ich hatte ein Gefühl von großer Freiheit.

Der letzte Tag meiner Berufstätigkeit: Wie lange hatte ich mir diesen Ruhestand gewünscht! Was hatte ich schon alles geplant! Aber da ging auch etwas zu Ende. Unwiederbringlich. Ein Abschied ohne Wiederkehr war es, der Schritt auf eine neue Lebensstufe.

In seinem Gedicht „Stufen“ sagt Hermann Hesse: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ Mit diesen Worten appelliert Hesse an die Heiterkeit. Er benennt aber auch die Schwere, die in jedem Abschied liegt. Und diese Schwere kann ich überwinden, wenn der Abschied in einen Neuanfang mündet. Als ich in den Ruhestand ging, hatte ich das Gefühl, die Welt liegt offen vor mir. Ich hatte viele Pläne, ich war gesund, ich hatte Freundinnen, meine Rente reichte. Ein Neuanfang war möglich.

Hören wir das vielen von uns vertraute Gedicht von Hermann Hesse, das er als 65-Jähriger 1942 geschrieben hat, noch einmal im Zusammenhang:


Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede
  Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede
  Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig
  dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und
  Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber
  inne,
Der uns beschützt und der uns hilft,
  zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum
  durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat
  hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns
  und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben,
  weiten.
Kaum sind wir heimisch einem
  Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so
  droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und
  Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich
  entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die
  Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen
  senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals
  enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied
  und gesunde!


Abschied erleben wir immer wieder, oft nicht wissend, was als nächstes kommt. Hermann Hesse macht uns in seinem Gedicht Mut. Er sagt: Wir müssen Abschied nehmen, damit etwas Neues beginnen kann, denn sonst „droht Erschlaffen“.

„Der Weltgeist will nicht fesseln uns und (ein)engen.“ Ich kann diesen „Weltgeist“ gut mit „Gottes Geist“ benennen. Gott selber ist es, der uns immer wieder Abschiede zumutet, uns von Lebensstufe zu Lebensstufe führt. Und ich habe die Zusage: Ich bin Gottes geliebte Tochter. Immer. Mein Wert als Mensch vergeht nicht. Es ist nicht immer leicht, diese Zusage einfach so anzunehmen. Da ist der Alltag, der sich meist wenig an dieser Zusage Gottes orientiert. Da ist harte gesellschaftliche Realität mit ihren verletzenden Diskussionen über die Alten, die den jungen Menschen die Zukunft nehmen, über die Höhe der Renten, über die steigenden Kosten der Pflege…

Da mögen einer schon Zweifel kommen an der Zusage, dass mein Wert als Mensch nicht vergeht. Da brauche ich den Zuspruch von außen, brauche Menschen, die sich in meine Situation einfühlen können, die mit mir reden, mich trösten, mir helfen, die neue Lebensstufe zum Blühen zu bringen.

Schauen wir doch noch einmal auf die alte Frau im Sessel. Kann es uns gelingen, ihr so viel Mut zuzusprechen, dass sie den Kopf wieder heben kann, dass das Gesicht wieder fröhlichere Züge bekommt?

Was können wir ihr sagen? Ja: Du hast ein Recht traurig zu sein, du bist in einer schmerzlichen Situation. Aber du hast ein Recht auf diese Stufe deines Lebens – auf diese Stufe, wo du nicht mehr arbeiten kannst, wo du nicht mehr für andere sorgen kannst durch deiner Hände Arbeit. Du hast so viele Jahre für andere gesorgt, nun sorgen andere für dich.

Wir können ihr sagen: Schau, was du noch machen kannst und freue dich daran. Du kannst noch täglich die Blumen versorgen – es tut ihnen gut, wenn sie liebevoll versorgt werden. Du hast uns früher so häufig Märchen erzählt – vielleicht magst du heute all die Märchen noch einmal lesen? Du hast die vielen Fotoalben. Und das Buch, das wir dir zum 75. Geburtstag gemacht haben. Magst du nicht noch einmal hineinschauen, all das passieren lassen, was du erlebst hast? Und nicht zuletzt: Du kannst beten – auch für all deine Lieben. Du weißt doch selbst noch, wie hektisch oft der Alltag war; da blieb für das Beten so wenig Zeit. Und wie tröstlich ist es zu wissen, da sitzt ein lieber alter Mensch im Sessel und betet – auch für mich.

Und ich? Ich kann auch etwas tun für dich. Wir können eine kleine Vereinbarung treffen: Ich weiß, dass du für mich betest – und ich schreibe dir jede Woche einen Gruß, der dir die Gewissheit gibt, ich denke an dich. Diese Vereinbarung hatte ich übrigens mit meiner Mutter getroffen, und meine Geschwister haben es auch so gehalten. Immer, wenn ich meine Mutter besuchte, standen all die Karten auf ihrem Tisch, und sie erzählte mir, dass sie die Karten immer wieder zur Hand nimmt. Und wenn Besuch kam, dann zeigte sie Karten und erzählte von uns.

Was tun für die vielen alten Menschen im Sessel, wo wir doch noch auf einer anderen Stufe des Lebens sind? Ich möchte es mit einem Lied-Vers sagen: „Lass viele Alte ein in unser Haus, bewirte sie bei unsrem Baum. Lass sie dort frei erzählen, von Kreisen, die ihr Leben zog, lass sie dort lang erzählen, wo der Himmel blüht.“

EG 640: „Komm bau ein Haus“; –Strophen 1, 3 und 4 gemeinsam singen

„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ Es ist der erste Schritt – und vielleicht auch schon etwas mehr!


Segen:

Gott segne die Jahre Deines Lebens,
Gott schaue auf die Jahre der Fülle und
  die Jahre der Not.
Gott tanze mit der Freude Deiner
  Jugend.
Gott lächle über die Blüten deines
  Humors.
Gott weine mit Dir in Deiner Trauer
  und Verlassenheit.
Gott hege und bewahre Deine Träume
  und Hoffnungen.
Gott höre Deinen Phantasien leise zu.
Gott zürne über die bösen Angriffe
  gegen Dich.
Gott heile Deine tiefen Verwundungen.
Gott nehme Dich liebevoll in die Arme.
Gott führe Dich in sein Reich der Liebe.

Hanna Strack, www.hanna-strack.de


Lied: Meine Zeit steht in deinen Händen


Waltraud Liekefett, 68 Jahre, war bis zu ihrer Pensionierung 2005 Pädagogische Referentin im Landesverband Braunschweig der Ev. Frauenhilfe und über viele Jahre Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw. Ihren beruflichen Ruhestand genießt sie in vollen Zügen – mit großem ehrenamtlichem Engagement, vor allem im Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa (ÖFCFE), aber
auch mit Wellness-Tagen zwischendrin, kleinen Wanderungen und großen Reisen.

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