Ausgabe 2 / 2023 Artikel von Bettina Röder

Noch immer in der Schmuddelecke

Sexualassistenz für Menschen mit Behinderung

Von Bettina Röder

Johannes R. war ein erfolgreicher Cellist, glücklicher Ehemann und Vater zweier Töchter. Er und seine Frau, ebenfalls Musikerin, nannten ein kleines Haus im brandenburgischen Werder ihr Eigen. Musikunterricht, ein rundum gutes Familienleben mit allen Höhen und Tiefen, Sorgen und Freuden, die dazugehören. Doch dann kam dieser Tag, der alles verändern sollte. Dem 48-Jährigen widerfuhr, was jeder und jedem tagtäglich passieren kann. Johannes R. war gerade auf dem Weg zu einer Schülerin, als das Schicksal zuschlug. Verkehrsunfall. Eine Autofahrerin hatte die Vorfahrt nicht beachtet, krachte in das kleine Auto von Johannes R.

Es wurde dunkel um ihn, den Mann in den besten Lebensjahren. Denn nach Intensivstation und einem langen Krankenhausaufenthalt war klar: Querschnittslähmung. Er würde nie wieder in seinem Leben laufen können. Fortan war er behindert, auf den Rollstuhl angewiesen. Er veränderte sich, seine Frau brachte nicht die Kraft auf, weiter bei ihm zu bleiben. Sie verließ ihn, und mit ihr verlor er auch seine beiden Töchter. Er musste sein neues Leben einrichten. Irgendwie. Was blieb, war die Sehnsucht nach der Nähe zu einer Frau, nach Berührung und Sexualität.

Ihm könnte geholfen werden, wenn er nur wüsste, dass es die Sexualassistenz für Menschen mit Behinderung gibt. Doch die ist weithin unbekannt.

Es geht um Fachkräfte mit einer speziellen Ausbildung, die nicht Prostituierten gleichzusetzen sind, sondern eine ganz andere Herausforderung haben: Es geht nicht in erster Linie darum, Sex mit einem anderen Menschen zu haben, sondern ihm dabei zu helfen. Frauen und Männer bei der Ausübung der Sexualität zu unterstützen, wenn sie selbst nicht in der Lage dazu sind, weil sie körperlich oder bewegungsmäßig eingeschränkt sind. Eben, Sexualität zu leben. Das zärtliche Berühren, die Nähe gehören dazu. Sogar in großen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen ist die Sexualassistenz für diese Menschen, die allerdings vom Staat nicht finanziell unterstützt wird, in nur wenigen Fällen bekannt.

Jana N.1 ist mit Sexualassistenz in Sachsen unterwegs; sie wundert das nicht. „Sexualassistenz, die fehlt doch ohne Ende“, sagt sie gegenüber leicht&SINN. Und: Es gibt ein großes Unwissen und auch Berührungsängste bei diesem Thema. Die Körper-Arbeiterin, wie sie sich selbst nennt, kam aus der Gastronomie. Sie ist in der DDR aufgewachsen, dort gab es dieses Thema gar nicht. Alles, was unkonventionell ist und offen fürs Leben, hat sie interessiert, die Verbindung zur Natur ist ihr wichtig. Wie auch der spielerische Umgang mit dem Körper, die Berührung. Und die spannende Begegnung mit Menschen, die anders sind. Sie selbst hat einen beeinträchtigten Bruder und einen blinden Großvater. Das Thema ist ihr nicht fremd. Eine Freundin vermittelte sie zum ISBB, dem führenden Institut in Deutschland, wenn es um Sexualberatung und Sexualbegleitung von Menschen mit Behinderung geht. Wie die allermeisten von ihnen absolvierte sie eine Ausbildung in Trebel, einem kleinen Ort im Wendland, wo das Institut bis zum letzten Jahr ein Gäste- und Tagungshaus unterhielt. Beeindruckt und begleitet haben sie die Vorträge des Chefs des Instituts, Diplom-Psychologe Lother Sandfort. Und dann dies: Es gab einen geschützten Raum und Zeit, in denen sich die Menschen mit und ohne Behinderung kennenlernten.

Was für eine Kostbarkeit in unserer schnelllebigen Zeit, in der so wenig Raum für Intimes und Privates bleibt. So lernte sie auch die unterschiedlichen Menschen mit ihren unterschiedlichsten Gefühlen und ihrem so unterschiedlichen Umgang mit ihrem Körper kennen. „Dort haben wir Lösungswege für jeden einzelnen gefunden“, sagt sie: für die, die seit ihrer Geburt beeinträchtigt sind, ebenso wie für die, die einen späten Unfall hatten oder im Alter krank wurden. „Sie sind doch leider weithin ausgegrenzt.“ Dabei wüssten sie alle genau, was sie wollen und haben wie wir ein großes Sicherheitsbedürfnis. Doch die erotischen Bedürfnisse kommen zu kurz. So versteht sie sich auch als psychologische Beraterin, hat zudem eine Ausbildung als Heilpraktikerin absolviert.

Jana sagt: Von diesen Menschen lerne ich sehr viel. Dabei gehe es zum Beispiel um Respekt auf Augenhöhe. Den Kontakt zu ihr finden die meisten im Internet. Dann reist sie zu ihnen, oder sie kommen zu ihr, wenn es zu Hause keinen geschützten Raum gibt. Es folgt ein langes Gespräch, in dem sie sich kennenlernen. Auch Musik wird gespielt. Sie weiß: Wenn sie ihren eigenen Körper dann kennlernen, können sie auch ihre Behinderung viel besser annehmen. Oft erinnert sie sich an diesen Mann im hohen Alter. Er hatte zum Schluss eine schwere Demenz. Als es mit ihm körperlich bergab ging, hat sie die Nichte gebeten, ihr Bescheid zu sagen, wenn es dem Ende zugeht. Dann ist sie zu ihm gefahren. Nie vergisst sie seine dankbaren Augen, die sich für immer schlossen, und ihrer beiden Hände, die sich hielten.

Warum aber ist das Thema Sexualassistenz so wenig bekannt und immer noch in der „Schmuddelecke“ der Gesellschaft?

Für Elisabeth Scharfenberg, die langjährige Bundestagsabgeordnete der Bündnisgrünen, steht fest: Dieses Nichtwissen hängt mit dem Menschenbild in unserer Gesellschaft zusammen. „Wir haben doch zum Thema Behinderung ein merkwürdig verqueres Verhältnis“, ist sie überzeugt. Und: „Bevor wir uns dem Thema Sexualität und Behinderung nähern, sollte sich die Gesellschaft im Klaren darüber sein, wie wir mit Inklusion umgehen wollen.“ Warum ist es nicht normal, fragt sie, dass jede Schule eine Inklusionsschule und jede Kita eine Inklusionskita ist?

Dass wir nicht komplett inklusiv sind und es abgetrennte Bereiche gibt, ist eine gesellschaftliche Entscheidung, sagt Elisabeth Scharfenberg. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Würde der Menschen. Auch die Bibel spricht davon. Vor Gott, so heißt es da, sind alle Menschen gleich. Eine jede und ein jeder unverwechselbar und einzigartig. Auch mit seinem, mit ihrem Bedürfnis nach Nähe und Sexualität. Und sie fragt: „Wo und an welchem Punkt stehen wir denn? Wir sprechen immer über sie, aber nicht mit ihnen, das ist das Manko. Denn wer mit Behinderung lebt, weiß doch am besten, was er braucht und sich wünscht.“

Anna O. weiß das sehr genau. Spätestens, seitdem sie Jens bei einem Kuschelabend kennengelernt hat. Die heute 28-Jährige leidet von klein auf unter Muskeldystrophie, also Muskelschwund. Eine nicht heilbare Krankheit, bei der ein einziges Gen defekt ist, das aber für den Muskelaufbau gebraucht wird. Der jungen Frau ist bewusst, dass die Lebenserwartung bei dieser Krankheit etwas über 35 Jahre liegt. Nicht mehr viel Zeit , um zu leben. War sie seit ihrem sechsten Lebensjahr sporadisch auf den Rollstuhl angewiesen, ist sie seit ihrem 16. Lebensjahr ständig an ihn gebunden. Seither war an Zärtlichkeit, geschweige denn Sex nicht mehr zu denken. „In meinem Zustand ist es halt schwierig, jemand anderes näher kennenzulernen“, sagt sie. Als sie Jens zum ersten Mal begegnete, erinnert sie sich genau, war sie „aufgekratzt und happy“. Das ist bis heute so. Der junge Mann, in der IT-Branche beschäftigt, hat eine zusätzliche Ausbildung gemacht, ein Zertifikat für Sexualassistenz. „Hier kann ich von diesem Lebensglück etwas einbringen, auf das ja jeder Mensch ein Recht hat“, sagt er. Er arbeitet in einem Männerbetrieb. Nur sein Chef wisse davon. Aber ob der wirklich weiß, was Sexualassistenz ist, da hat er seine Zweifel. Wenn er bei Anna ist, tauschen sie Zärtlichkeiten aus, vor allem aber lernt sie durch seine Hilfe ihren Körper neu kennen – und lieben. Für sie ist das besonders wichtig, weil sie ja bei jedem Arztbesuch, wie sie betont, über die Missstände ihres Körpers informiert wird.

Anna ist nicht allein. Viele Menschen mit Behinderung erzählen, dass es ihnen bei ihrem Kontakt zu einem Mann oder einer Frau um mehr als Sex geht. Es geht um Selbstbestimmung.

Auch die „Aktion Mensch“, eine auf Initiative des ZDF vor mehr als fünf Jahrzehnten ins Leben gerufene Sozialorganisation, wird nicht müde, über das Thema aufzuklären. Broschüren in leichter Sprache geben Tipps und erklären auch, wie man sich vor Missbrauch schützen kann, machen auf Beratungs- und Fortbildungsangebote aufmerksam. Und selbst auf die Kinoleinwand hat es das Thema Sexualität von Menschen mit Behinderung geschafft – zum Beispiel mit dem Filmen „(K)ein Bedürfnis“ und „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“. Doch auch für „Aktion Mensch“ steht fest: Der Prozess des Umdenkens wird andauern. Dazu ist vor allem eins nötig: eine Gesellschaft, die sich darauf einlässt. Doch davon ist sie weit entfernt.

Elisabeth Scharfenberg, die die Korian Stiftung für Pflege und würdevolles Altern mit Sitz in München leitet, macht es wütend, wenn sie dann noch das Argument hört, diese Menschen hätten doch andere Sorgen. „Natürlich haben die auch andere Sorgen im Leben. Aber welcher Mensch hat die nicht? Das ist doch so eine arrogante Haltung, zu bewerten, was andere Menschen für Sorgen haben. Und wenn sie andere Sorgen haben, dann haben sie nicht an Sex zu denken, sondern an ihre Behinderung? Das finde ich bodenlos!“ Dass in den Köpfen der allermeisten „ein merkwürdig verqueres Verhältnis zum Thema Behinderung geistert“, erlebten wir in unserer Welt, in der Jugend und Schönheit ständig propagiert werde, fast täglich. Sie selbst hat es hautnah zu spüren bekommen, als sie sich 2017 am Ende ihrer Zeit im Bundestag in der Tageszeitung „Die Welt“ zu diesem Thema geäußert hatte.

Es ging um die Frage, ob Sexualassistenz auch finanzielle Unterstützung durch den Staat beanspruchen sollte, wie das in den Niederlanden längst der Fall ist. Die Diskussion darüber wollte sie auch für Deutschland anregen. „Das hatte irrsinnig hohe Wellen geschlagen, aber in eine ganz andere Richtung“, erinnert sie sich. „Es wurde ins Lächerliche gezogen, es wurden dumme Witze gemacht.“

Es war Januar, dann kam die Faschingszeit. Und sie kam in jeder Büttenrede vor. „Die Grünen fordern Sex auf Rezept. Super. Dann gehe ich mit meinem Rezept in den Puff.“ Elisabeth Scharfenberg ringt nach Worten. Es könne doch jede*r schon morgen durch einen Unfall oder eine schwere Krankheit in die Lage kommen, Sexualbegleitung in Anspruch zu nehmen. Doch in den Diskussionen habe sie gemerkt: „Das war so erschreckend fern. Man fühlte sich unverwundbar.“ Sie selbst spürte so etwas wie einen Scheinwerfer auf sich. Und auch für ihre Töchter sei das damals nicht witzig gewesen. „Deine Mutter ist für Sex auf Rezept“, mussten sie sich anhören. Doch spannenderweise, sagt sie, habe sie nach ihren Äußerungen in der „Welt“ auch viele Interviewanfragen aus aller Welt bekommen. „Das ist mir bei keinem anderen Thema passiert: aus Brasilien, Irland, den USA.“ In Deutschland hingegen war das Thema so fremd.

Fünf Jahre ist das her. Hat sich seither bei uns etwas geändert? Nicht nur Elisabeth Scharfenberg weiß, dass das nicht wirklich der Fall ist. Nicht bei der immer noch offenen Frage der Finanzierung, nicht bei der gesellschaftlichen Akzeptanz. Corinna Rüffer, ihre einstige Mitstreiterin in der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, ist auch heute noch im Bereich Behindertenpolitik aktiv. Sie verweist darauf, dass Selbstbestimmung, und zwar auch die sexuelle, ein Menschenrecht ist.

Seit März 2009 ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch in Deutschland in Kraft. Doch für viele ist es sehr schwierig, dieses Recht wahrzunehmen.

Wer nicht den gängigen Vorstellungen von Schönheit und Attraktivität entspricht, hat es schwerer, eine Partnerin oder einen Partner zu finden, ist Corinna Rüffer überzeugt. Auch finden es viele Menschen wenig sexy, wenn jemand auf Unterstützung angewiesen ist oder Hilfsmittel benötigt. Hinzu komme, dass Menschen, die in einem Heim leben, deutlich weniger Privatsphäre haben als in der eigenen Wohnung und damit auch weniger Möglichkeiten, sexuelle Wünsche umzusetzen.

Genau dazu hat Elisabeth Scharfenberg gemeinsam mit der Katholischen Hochschule Köln ein Projekt ins Leben gerufen, bei dem sich eine Gruppe Studierender mit Pflegekräften und Bewohnerinnen und Bewohnern der Pflegeheime mit der Frage befasst, wie mit dem Thema Sexualität im Pflegealltag offen und entspannt umgegangen werden kann. Eine Broschüre dazu ist geplant. Und auch, wenn das nur ein Tropfen auf den bekannten heißen Stein ist, auf dem Weg zu einem normalen Umgang mit einem weithin verdrängten Thema ist es allemal.

Bettina Röder hat Kunsterziehung, Kunstgeschichte und Deutsch studiert. Sie hat als Lehrerin, Redakteurin und Journalistin gearbeitet, zuletzt als Verantwortliche Redakteurin im Berliner Büro der Zeitschrift Publik Forum. Heute lebt sie als freie Journalistin in Berlin. – www.publik-forum.de/Autor/bettina-roeder

Anmerkungen
1) Name von der Redaktion geändert

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