Ausgabe 2 / 2012 Artikel von Insa Schöningh

Nur da, wo Kinder sind?

Verantwortungsgemeinschaft Familie

Von Insa Schöningh

Es ist noch gar nicht so lange her, da war für fast alle klar, was eine Familie ausmacht: Verheiratete leibliche Eltern mit einem Kind oder mehreren Kindern. Diese weit verbreitete Vorstellung war mit dem Glauben verbunden, dass dies „schon immer“ so gewesen sei.

Doch das stimmt nicht. Die Geschichte kennt viele Familienformen, in früheren Zeiten gehörten sogar die Bediensteten mit zur Familie, für die der „Hausvater“ mit zu sorgen hatte.

Noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert gehörten unverheiratete Schwestern oder Brüder ebenfalls zur engsten Familie. Alleine konnte zu damaligen Zeiten kaum jemand überleben – zu aufwändig waren die alltäglichen Versorgungsaufgaben, als man, oder eigentlich immer „frau“, noch alles selbst machen musste. Es gab keine Fertigkonserven, keine Tiefkühlkost, keinen Staubsauger, keine Waschmaschine. Die mit der Haushaltsführung verbundenen Tätigkeiten waren so aufwändig und zeitraubend, dass ein Einzelner schon vermögend sein musste, um sich die damit verbundenen Dienstleistungen einzukaufen. Familie war eine wirtschaftliche Überlebensgemeinschaft.

Durch die hohe Müttersterblichkeit, ein schlechteres Gesundheitssystem und noch nicht erfolgte medizinische Entwicklungen war die Sterblichkeit überhaupt höher. Das hatte viele Stieffamilien zur Folge. Ebenso war die gemeinsame Lebenszeit einer Mutter-Vater-Kind-Familie deutlich kürzer als heute. Schließlich sind durch technische Entwicklungen und die allgemeine Wohlstandsentwicklung Haushaltsformen wie Single-Haushalte überhaupt erst massenhaft und als Wahloption möglich geworden: Familien- und Haushaltsformen sind durch technische und allgemeine Entwicklungen bedingt und daher ständig in Veränderung.

Andere Zeiten, neue Aufgaben

Die Aufgaben und Rollen von Frauen, Männern und auch Kindern haben sich, ausgelöst durch neue Möglichkeiten und befördert durch gesellschaftliche Entwicklungen, stark verändert. Die Arbeitszeiten sind, gemessen an frühkapitalistischen Bedingungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, deutlich kürzer geworden, sie sind flexibler, mittlerweile aber auch weniger planbar. Vor allem aber gibt es viel weniger körperlich schwere Arbeit mit hohem körper-lichem Verschleiß, aber auch weniger Erwerbsmöglichkeiten für Menschen ohne gute Bildung. Handwerkliche Berufe zum Beispiel erfordern heute, neben der schon immer notwendigen Geschicklichkeit, die Kenntnis und das Verständnis einschlägiger Gesetze und Verordnungen, das Wissen um Schadstoffe, kaufmännische Kenntnisse und immer auch den Umgang mit dem Computer. Daraus ergibt sich, dass jungen Menschen eine viel gründlichere Ausbildung zuteilwerden muss. Durch die Abnahme körperlich belastender Tätigkeiten und die Zunahme von Erwerbsarbeitsverhältnissen im Dienstleistungssektor gegenüber dem produzierenden Gewerbe früherer Zeiten ist der Arbeitsmarkt für Frauen deutlich größer geworden.

Die heutige Selbstverständlichkeit der Frauenerwerbstätigkeit hängt in den westlichen Bundesländern auch mit den Emanzipationskämpfen der Frauen ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zusammen. In der DDR galt in diesem Punkt weitgehend Gleichberechtigung, die sicherlich gewollt und gefördert, später aber auch wirtschaftlich motiviert war. Hohe Abwanderungszahlen in den Jahren vor dem Mauerbau ließen gar keine andere Möglichkeit.

Ob tatsächlich mehr Mütter als früher erwerbstätig sind, ist aber eine Frage der Definition, was „früher“ ist. In der in früheren Jahrhunderten weit verbreiteten Landwirtschaft haben Frauen und Mütter immer auch im „Betrieb“ gearbeitet, mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft – ab Ende 18. / Beginn 19. Jahrhundert – wurde das durch die deut-liche Trennung männlicher und weiblicher Sphären für bürgerliche Frauen „unschicklich“. Die große Mehrheit der armen Frauen unterlag dem entgegengesetzten Zwang: Sie mussten erwerbstätig sein. Die Phase, in der viele Frauen und ganz besonders Mütter nur wenig erwerbstätig waren, ist eigentlich sehr kurz und zudem regional auf die alte Bundesrepublik der 50er bis 80er Jahre des 20. Jahrhunderts begrenzt.

Inzwischen ist aus dem Recht auf eigene Erwerbstätigkeit schon fast wieder eine Pflicht geworden, da ein Einkommen allein für viele Paare und Familien nicht reicht. In den letzten zehn Jahren nimmt die Anzahl erwerbstätiger Mütter stetig zu – allerdings bei gleichzeitiger Abnahme der geleisteten Arbeitsstunden. Das ist einerseits auf die Zunahme von Minijobs, die Ausweitung von Teilzeitarbeitsplätzen und die Zunahme freiberuflicher Tätigkeiten zurückzuführen. Andererseits wirkt sich hier aber wohl vor allem die weder quantitativ noch qualitativ ausreichende Betreuungssituation für die Kinder aus. Das Betreuungsangebot für Unter-Dreijährige ist in den westlichen Bundesländern immer noch deutlich im Rückstand gegenüber den östlichen und auch gegenüber allen anderen westeuropäischen Nachbarländern. Ähnlich ist es bei der Versorgung mit Ganztagsplätzen im Bereich der Drei- bis Sechsjährigen, und mit der Einschulung des Kindes wird die Lage noch schwieriger. Noch immer gibt es nicht einmal ein flächendeckendes Angebot von verlässlichen Halbtagsgrundschulen, auch wenn sich im Schulbereich durch den PISA-Schock und die darauf folgenden Anstrengungen, Ganztagsschulen einzuführen und auszubauen, einiges getan hat. Außerdem baut das deutsche Schulsystem weiterhin ganz selbstverständlich auf eine kompetente Nachhilfe- und Hausaufgaben-Beaufsichtigungskraft zu Hause. Diese äußeren Rahmenbedingungen führen neben zahlreichen Konflikten und Streit zwischen Eltern und Kindern eben auch zu Entscheidungen für Teilzeittätigkeiten, nicht selten auch unterhalb des erworbenen Qualifikationsniveaus.

Verantwortungsgemeinschaft

Familie hat in den meisten historischen Perioden in verschiedenen Formen stattgefunden und war immer bedingt und begrenzt durch ökonomische Rahmenbedingungen. Anders als gemeinhin angenommen, gibt es keine von Zeit und Kultur unabhängige „Urform“ der Familie. Was ist Familie also heute? Der frühere Ratsvorsitzende Wolfgang Huber hat den Satz geprägt: „Familie haben alle“, also auch die kinderlose und allein Lebende 50-Jährige hat Familie, nämlich ihre Eltern, eventuell Geschwister und Mitglieder der erweiterten Familie, zum Beispiel Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins. Alleinerziehende Mütter oder Väter und ihre Kinder sind genauso Familie, wie das lesbische Paar, das mit eigenen oder Pflegekindern lebt, oder der längst erwachsene Sohn und sein von ihm gepflegter kranker Vater. Familie ist vor allem eine Verantwortungsgemeinschaft und nicht ein bestimmtes Lebensmodell. Diese Verantwortung kann in unterschiedlichen rechtlichen Formen gelebt werden, ist aber nicht unbedingt durch das rechtliche Verhältnis hervorgerufen. 89 Prozent der deutschen Bevölkerung haben in einer repräsentativen Umfrage Ende 2010 geantwortet: „Familie ist da, wo Menschen sich umeinander kümmern.“ (Emnid-Umfrage im Auftrag von chrismon – vgl. S. 42)

„Um einander Kümmern“ ist also ein sehr wichtiges Wesensmerkmal von Familie. Die Art und Weise des Kümmerns und des Familienlebens kann aber durchaus sehr unterschiedlich sein. Es fängt damit an, dass die Zeiten der Familienmitglieder zu Hause vor allem äußeren Taktgebern unterliegen. Die Kinder haben ihren Stundenplan, aber vielleicht außerdem noch musische oder sportliche Aktivitäten am Nachmittag, die Eltern haben Arbeitszeiten, die aber nicht unbedingt jeden Tag gleich sind und mitunter in den Feierabend oder in die frühen Morgenstunden hineinreichen können. Ein Elternteil muss vielleicht regelmäßig auch an einem Tag des Wochenendes arbeiten. Da muss man schon gut planen, um zu gewährleisten, dass jemand da ist, der den Kindern das Frühstück oder das Abendessen zubereitet. Ebenso bedarf ein gemeinsamer Ausflugs- oder Aktivitätentag der Familie am Wochenende der vorherigen Planung.

Je kleiner die Kinder noch sind, umso mehr kennzeichnet die gemeinsame Anwesenheit der Familienmitglieder das Familienleben, werden die Kinder älter, kann sich dieses Leben zumindest teilweise auch in virtuelle Welten verlagern. Telekommunikation, Smartphones und Soziale Netzwerke ermöglichen zumindest potenziell jederzeit Informationen über den Aufenthaltsort und ggf. die Aktivitäten der anderen Familienmitglieder. Tatsächlich jedoch dürfte dieses virtuelle Familienleben weder den Bedürfnissen der Jugendlichen nach Autonomie und Loslösung von den Eltern entsprechen, noch dem der Eltern nach Kontakt mit ihren heranwachsenden Kindern. Familienleben ist ohne gemeinsame – nicht zwingend auch gemeinsam verbrachte – Zeit schwer vorstellbar.

Organisationsleistung

Doch diese gemeinsame Zeit ergibt sich nicht von allein und ohne weiteres Zutun, es müssen Absprachen getroffen werden, es muss geplant werden. Im Prinzip steht alles zur Disposition, es gibt kein Muster mehr, wie „man“ das macht. Kurz: Die Ausgestaltung von Familie, das Familienleben muss hergestellt werden.(1) Das gilt sowohl für die „großen Linien“, wer welche Aufgaben übernimmt, welche Pläne zusammen verfolgt werden, ob gemeinsame oder getrennte Konten geführt werden, an welchen Werten sich die Erziehung der Kinder orientiert, wie Freundschaften gepflegt werden u. v. a. m., als auch für das tagtägliche „Allerlei“. Dazu sind mehr oder weniger bewusste und zielgerichtete Aktivitäten erforderlich. Wie und in welchem Rahmen und Ausmaß etwas getan werden kann oder gar muss, hängt zum einen von Vorlieben, Gewohnheiten und Erfordernissen ab, wird zum anderen aber erheblich von äußeren Bedingungen beeinflusst. Wenn die Familie größer ist und alle Familienmitglieder eigenständige Tagesabläufe haben, kann eine Aktivität wie ein Vorsorgetermin des Kindes beim Arzt schnell zu einer logistischen Leistung werden: Die möglichen Termine des Arztes müssen mit dem Stundenplan des Kindes unter Berücksichtigung von festgelegten Freizeitaktivitäten und den Arbeitszeiten des begleitenden Elternteils in Übereinstimmung gebracht werden. Nicht zu vergessen etwaige parallele Erforderlichkeiten der anderen Kinder und der Fahrplan des Nahverkehrs bzw. das Vorhandensein eines Autos, das wiederum jemand anderem an diesem Tag fehlt.

Familie ist im Innenleben wesentlich durch emotionale Zugehörigkeit bestimmt und so erfüllt eine Aktivität meist verschiedene Funktionen gleichzeitig. Bei gemeinsamen Mahlzeiten zum Beispiel geht es vordergründig um Ernährung. Aber viel wichtiger, als dass alle satt werden, dürfte es sein, dass die Familienmitglieder zusammenkommen, Erlebnisse austauschen, gemeinsame Planungen besprechen, lachen und streiten und vieles mehr. Es ist sozusagen die tägliche Erfahrung von Familienleben, insbesondere wenn ältere Kinder im Haushalt leben, die ihren Alltag ansonsten alleine organisieren.

Familie heute ist also sowohl der äußeren Form nach als auch in ihrem alltäglichen „So-Sein“ sehr weitgehend nach persönlichen Vorstellungen und Möglichkeiten gestaltbar. Das stellt den grundgesetzlich verankerten Schutz von Ehe und Familie vor ganz neue Aufgaben. Wieso müssen Ehen mehr geschützt werden als zum Beispiel nicht verheiratete Paare mit Kind(ern)? Wäre es nicht zeitgemäßer, Verantwortungsgemeinschaften zu schützen und zu stützen?

Für die Arbeit in der Gruppe

– Austausch in Zweier- oder Dreiergruppen (sofern die Gesamtgruppe nicht größer als sechs ist, auch in der Gesamtgruppe):
In welchen Familienformen lebten die eigenen Eltern, die Großeltern, leben Sie selbst und ggf. auch Ihre erwachsenen Kinder?

– Austausch in der Gesamtgruppe:
Welche Veränderungen können Sie feststellen?

– Austausch in Murmelgruppen:
Welche Lebensformen würden Sie nicht als Familie bezeichnen? Warum? – Evtl. nicht aus „Familie“ definierte Lebensformen auf Kärtchen notieren; in der Gesamtgruppe nach und nach in die Mitte legen und Begründungen diskutieren.

– Austausch in Kleingruppen
(nicht mehr als 4 Personen):
Wie kommt bei Ihnen eine gemeinsame Familienaktivität (Ausflug, Urlaub, gemeinsames Essen zu besonderem Anlass o. ä. zustande? Denken Sie an alle dazu gehörigen Schritte von der Idee bis zur Durchführung: Was ist zu tun? Wer macht was? Wer delegiert, wer bietet Hilfe an? Was erleichtert das Zustandekommen und was erschwert es? – Denken Sie dabei nicht nur an Unterstützung oder Hindernisse innerhalb der Familie, sondern auch an äußere Gegebenheiten, die Sie berücksichtigen müssen.

– In der Gesamtgruppe:
Welche äußeren Hindernisse könnten durch gemeinsame Aktivität auf lokaler/gemeindlicher Ebene beseitigt oder verringert werden?

Dr. Insa Schöningh ist Soziologin und Bundesgeschäftsführerin der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen e. V. (eaf). Sie arbeitet in der ad-hoc-Kommission der EKD an einer Familiendenkschrift mit, die voraussichtlich Mitte 2012 erscheinen wird.

Die eaf setzt sich auf landeskirchlicher und Bundesebene für die Belange von Familien ein (www.eaf-bund.de). EFiD ist Mitglied der eaf.

Anmerkungen:
1 Vgl. Karin Jurczyk: Familie als Herstellungsleistung, in: forum erwachsenenbildung 2/11, hgg. von der DEAE – Auszug siehe S. 44f.

Zum Weiterlesen
DJI Bulletin 4, 2009, Deutsches Jugendinstitut München
Heitkötter, Martina; Juczyk, Karin; Lange, Andreas; Meier-Gräwe, Uta (Hg.), Zeit für Beziehungen? Zeit und Zeitpolitik für Familien, Opladen 2009
 

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