Wenn wir uns, den kommenden Generationen und unserer Umwelt etwas Gutes tun möchten, hören wir heute auf neu zu bauen, fokussieren uns darauf zu sanieren und umzubauen. Wir schätzen das wert, was wir bereits haben und hören auf, weiter im großen Stil abzureißen. So könnte Nachhaltigkeit im Bauen aussehen. Doch wie in fast allen Bereichen ist der Begriff der Nachhaltigkeit auch im Bauen nicht eindimensional zu betrachten. Verschiedene Faktoren und Einflüsse müssen zusammenkommen und sich verändern, um mit dem Bausektor einen Mehrwert für uns zu generieren – bestehend aus einer lebenswerten Umwelt für uns und zukünftige Generationen von Menschen und Tieren.
Die schlechte Nachricht vorweg: Der Bausektor und der Betrieb von Gebäuden in Deutschland verursachen aktuell circa 40 Prozent der Treibhausgasemissionen und circa 54 Prozent des Müllaufkommens. 50 Prozent der produzierten Rohstoffe entfallen auf diesen Bereich. Allein in Deutschland bemisst sich der Flächenverbrauch für neue Siedlungen und Infrastruktur täglich auf eine Fläche von etwa 80 Fußballfeldern. Dadurch werden Ökosysteme zerstört sowie Hitzeeffekte und Hochwasserrisiken verstärkt. Bauen verursacht weltweit Ressourcenausbeutung, Umweltzerstörung und soziale Ungerechtigkeit in einem unvorstellbaren Ausmaß. An der Art und Weise, wie wir bisher gebaut haben, müssen wir also dringend etwas ändern.
Die gute Nachricht: Wir können etwas ändern, wenn wir gezielt daran arbeiten. Wenn Politik und Wirtschaft den Anteil des Bausektors an Klima- und Umweltschäden nicht weiter vernachlässigen. Wenn die Gesellschaft die Probleme nicht länger unterschätzt. Wir müssen mehr darüber sprechen, uns stärker austauschen, uns weiterbilden und schließlich aus Fehlern lernen. Gemeinsam ist eine Veränderung im Bauen, die Bauwende, zu schaffen und vor allem als Chance für alle zu begreifen.
Doch was genau bedeutet eine Bauwende? Wo besteht Handlungsbedarf, wie kann dieser ?aussehen, und was hat das mit jeder und jedem Einzelnen von uns zu tun? Damit die Bauwende gelingt und, um damit Nachhaltigkeit im Bauen zu erreichen, sind diverse Kriterien zu beachten. Wichtig ist, dass jedes Projekt der (Innen-) Architektur-, Stadt-, Freiraum- und Infrastrukturplanung von der Projektentwicklung über die Baumaßnahme bis zur Nutzung zum Klimaschutz beitragen kann und muss. Und in jedem dieser Projekte können die unterschiedlichen Akteur*innen wie Investierende, Planende, Handwerker*innen und Nutzer*innen Einfluss nehmen. Der Handlungsbedarf ist vielschichtig und lässt sich selten in einzelnen Maßnahmen beschreiben. Von der Bildung über Hebel in der Politik bis hin zu uns Bürger*innen ergeben sich Möglichkeiten zum Mitwirken.
Fangen wir bei uns selbst und einer sehr essenziellen Frage an: Was brauchen wir wirklich für ein gutes Leben? Diese Frage bezieht sich sowohl auf materielle Gegenstände als auch auf den Wohnraum und damit die Fläche, die wir in Anspruch nehmen, und stellt damit die Ausgangsfrage für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft innerhalb der planetaren Grenzen dar. Angesichts steigender individueller und gesellschaftlicher Ansprüche sowie kontraproduktiver gesetzlicher Vorgaben reichen verbesserte technische Lösungen nicht aus, um Ressourcen wirksam einzusparen; man spricht von einem „Reboundeffekt“.
Dieser Effekt lässt sich beispielsweise am Heizwärmebedarf erläutern: Obwohl Gebäude seit 1970 immer weniger Heizenergie pro Quadratmeter benötigen, ist der Heizwärmebedarf pro Kopf konstant geblieben, weil sich im selben Zeitraum die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf von 25 auf etwa 47 Quadratmeter nahezu verdoppelt hat. Damit unsere Gebäude die Umwelt und das Klima deutlich weniger belasten, müssen wir also unsere eigenen Ansprüche und gesetzliche Anforderungen auf Reduktionsmöglichkeiten und Vereinfachungen überprüfen. Oft können Bedarfe ohne energie- und materialintensive Baumaßnahmen erfüllt werden, etwa durch Wohnungstausch, neue Wohnformen mit Sharing-Konzepten, Mitnutzung bestehender Infrastruktur oder Mehrfachnutzungen im Tages- und Nacht- sowie im Jahresverlauf. Neben der Änderung von Nutzungsgewohnheiten liegen Lösungen nicht nur in hochmoderner Technik, sondern auch in einfach gestalteten Konstruktionen. Ansätze im Sinne der Suffizienz, also durch Einsparen von Material und Energie, sind ein wirksamer Hebel. Wenn wir kreativ mit bestehenden Strukturen, Flächen und Ressourcen umgehen, können wir Qualität schaffen und unsere Bedarfe an die gebaute Umwelt innerhalb der planetaren Grenzen decken.
Eine Handlungsstrategie sollte demnach sein, unsere eigenen Bedarfe zu hinterfragen und nur das zu bauen, was wir tatsächlich brauchen. Und wie bauen wir das, was wir tatsächlich brauchen? Zunächst einmal sollten wir das Neubauen nicht mehr als den Standard begreifen. Denn ein wichtiger Hebel für die Bauwende liegt in der Vermeidung von Abriss und der ganzheitlichen Sanierung von Bestandsgebäuden. Deshalb gilt es vor allem, die Lebensdauer von Gebäuden zu verlängern statt sie abzureißen.
Alte Gebäude durch energieeffizientere Neubauten zu ersetzen, galt lange als Königsweg. Betrachten wir jedoch die sogenannten Grauen Emissionen, die durch Herstellung von Materialien, Transport und Bau entstehen, zeigt sich ein anderes Bild: Langfristig verursachen Sanierungen in den meisten Fällen weniger Emissionen als Neubauten. Eine der größten Chancen für die Klimawende im Gebäudebereich liegt daher in den Nachkriegsbauten der 50-70er Jahre; diese Gebäude mit hohem Energieverbrauch machen circa 40 Prozent des Bestands aus und sind vergleichsweise einfach zu Niedrigstenergiegebäuden zu sanieren. Es ist Aufgabe von uns Planenden, die Qualität der Gebäude offenzulegen und zu (re-)aktivieren, und unser aller Aufgabe, unsere gebaute Umwelt wertzuschätzen und zu pflegen. Der Mythos, dass Umbauen sich teurer darstellt als ein Neubau, erklärt sich in vielen Fällen durch mangelnde Instandhaltung eines Gebäudes.
Weitere Vorzüge von Sanieren und Weiterbauen am Bestand sind Ressourcenschonung, Abfallvermeidung, Wertschätzung und Erhalt von Baukultur sowie ein behutsamerer Umgang mit dem sozialen Umfeld. Wohnraum kann schließlich auch durch Aufstockungen, Umbau und Umnutzungen geschaffen werden. Aber die politischen Rahmenbedingungen verkomplizieren derzeit die Umsetzung des Weiterbauens. So sind die aktuellen Landesbauordnungen, als Gesetzgebung für das Bauen, auf Neubauten ausgerichtet, abgerissen werden dürfen Gebäude jedoch überwiegend ohne Genehmigung. Wenn wir tatsächlich eine Nachhaltigkeit im Bauen erreichen wollen, ist die Einführung einer Umbauordnung durch die Politik zwingend erforderlich – und die Einführung eines Abrissmoratoriums für ein Umdenken ratsam.
Wenn nun ein Gebäude saniert oder doch aus diversen Gründen neu gebaut wird, sollten unter anderem Kriterien einer zukunfts- und kreislauffähigen Gestaltung und der Wohngesundheit berücksichtigt werden. Dabei zielt zukunftsfähiges Entwerfen darauf ab, dass kommende Generationen Gebäude und Städte wertschätzen und weiternutzen können. Die oftmals vorherrschende Zielsetzung, so schnell und so billig wie möglich zu bauen, lässt langfristige Mehrwerte und Umweltfolgen außer acht und generiert so auf die Gesellschaft umgelegte Kosten. Zukunftsfähiges Entwerfen und damit eine neu definierte (Um-) Baukultur, bedeutet konkret: eine Stadt der kurzen Wege, verkehrsberuhigte Bereiche und autofreie Innenstädte, vielfältig nutzbare Flächen, Grundrisse und Gebäude sowie Resilienz. Eine ästhetische und gleichzeitig funktionale Gestaltung mit Spielraum für zukünftige Perspektiven schafft lebenswerte und identitätsstiftende Räume und fördert eine dauerhafte Wertschätzung.
Eine weitere Handlungsstrategie besteht demnach aus Flexibilität. Neubauten sollten so flexibel gestaltet werden, dass sie im Laufe ihres Bestehens nicht nur einer Nutzung zugutekommen können. Zugleich sollten wir uns als Gesellschaft flexibel an gegebene Strukturen anpassen können. Die Um- oder Mehrfachnutzung von Strukturen kann uns neue Möglichkeiten eröffnen – Wohnungen in ehemaligen Bürogebäuden oder Kindertagesstätten in ehemaligen Kirchenräumen sind nur zwei von unzähligen Möglichkeiten.
Eine große Rolle spielen zudem Materialwahl und Materialeinsatz. Hierzu braucht es Subventionen und Investitionsanreize aus der Politik, aber auch die Wirtschaft muss sich ihrer Verantwortung stellen und ihren Handlungsspielraum nutzen. Denn die Nutzung von Ressourcen in geschlossenen Kreisläufen und der bevorzugte Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen sind bereits möglich und dringend geboten, damit die planetaren Grenzen nicht überschritten werden und auch kommende Generationen über ausreichend Rohstoffe verfügen können.
50 Prozent aller in Deutschland produzierten Rohstoffe werden durch Bautätigkeiten verbraucht. Nach Verpackungen sind Bauprodukte der zweitgrößte Anwendungsbereich von Kunststoffen. All diese Rohstoffe enden meist nach einmaliger Verwendung als Abfall oder Schuttbeigabe. Dabei ist unsere gebaute Umwelt ein wertvolles Rohstofflager; Bauteile und Baustoffe müssen möglichst oft in höchstmöglicher Qualität wiederverwendet werden. Der Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen ermöglicht perspektivisch klima-positives Bauen über den gesamten Lebenszyklus. Wie in den meisten Lebensbereichen gilt auch im Bausektor: Lasst uns das vorherrschende Verbrauchs- und Wegwerfsystem in ein Gebrauchs- und Kreislaufsystem umwandeln. Zudem hat die Materialwahl großen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden. Gebäude spielen in unserem Alltag eine zentrale Rolle – wir wohnen, arbeiten und erholen uns in ihnen. 80–90 Prozent unseres Lebens verbringen wir in Innenräumen. Natürliche und damit nachwachsende Rohstoffe erhöhen die Behaglichkeit in Innenräumen und sorgen dafür, dass sich Bewohner*innen gerne und unbedenklich darin aufhalten können.
In jeglichen Bereichen, von der Produktion von Materialien über den Transport und die Bauphase bis hin zum Gebäudebetrieb, ist der Bausektor nicht ohne Energie zu denken. Die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern befeuert den Klimawandel, trägt zu konfliktbehafteten andelsbeziehungen bei und gefährdet die langfristige Energiesicherheit. Für eine Bauwende muss demnach auch die Energiewende angetrieben werden: Wir brauchen gut durchdachte energetische Sanierungen und eine fossilfreie Energieversorgung.
Aktuell werden 80 Prozent der Gebäude in Deutschland mit fossilen Brennstoffen beheizt. Leider ist der Energieverbrauch so hoch, dass er noch nicht mit erneuerbaren Energien gedeckt werden kann. Ziel der Bundesregierung ist, die Emissionen des Gebäudesektors bis 2030 auf die Hälfte des Stands von 2021 zu reduzieren. Dafür muss der Energieverbrauch von Bestandsgebäuden bei Wärme, Kälte und Strom durch Dämm-Maßnahmen in hoher Qualität sowie Austausch und Einregelung der Anlagentechnik flächendeckend drastisch gesenkt werden. Gebäudenahe erneuerbare Energiequellen sowie Abwärme müssen erschlossen und zur Versorgung genutzt werden. Potenziale dafür sind auch bei bestehenden Gebäuden voll auszuschöpfen: Gut gedämmte Altbauten können mit Wärmepumpen beheizt und Photovoltaik-Anlagen selbst bei denkmalgeschützten Gebäuden integriert werden. Damit die Energiewende gelingt, müssen wir soziale Aspekte und Klimafolgekosten bei allen Entscheidungen berücksichtigen. So sind beispielsweise bereits vorhandene Lösungen für eine gerechtere Kostenverteilung und neue Bürger*innen-Energiemodelle zu integrieren. Bund, Länder, Kommunen, Gebäudeeigentümer*innen und Planende sind hier gefragt.
Die Antwort auf die Frage, wie Architektur nachhaltig gestaltet werden kann, ist offensichtlich nicht in einem Satz zu erläutern. Wir brauchen sowohl politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, um flächendeckende Veränderungen umzusetzen, als auch den Willen und das Wissen aus der Gesellschaft. Denn eine ernst gemeinte Nachhaltigkeit im Bauen ist eben so komplex wie das Bauen selbst. Und sie geht uns alle etwas an.
Zehn Forderungen für eine Bauwende …
Architects4Future ist eine Bewegung mit Menschen aus dem gesamten Baubereich und Interessierten, von Studierenden über Planende bis hin zu Handwerker*innen. Seit 2019 setzen sie sich aktiv für die Bauwende ein. Dazu suchen sie Gespräche mit Politik, Fachkreisen und der breiten Öffentlichkeit und erarbeiten Lösungsvorschläge.
Zehn Forderungen für eine Bauwende…
1. Überdenkt Bedarfe
2. Hinterfragt Abriss kritisch
3. Beschleunigt die Energiewende
4. Entwerft zukunftsfähige Qualitäten
5. Konstruiert kreislauffähig und klimapositiv
6. Fördert eine gesunde gebaute Umwelt
7. Stärkt die Klimaresilienz
8. Erhaltet und schafft Raum für Biodiversität
9. Übernehmt soziale Verantwortung
10. Plant integral
…und mehr auf www.architects4future.de
Nele Domogalla ist angehende Architektin (M. Sc. Architektur) und arbeitet in einem Architekturbüro im Ruhrgebiet. Mit Architects4future hat sie ihre Möglichkeit gefunden, sich aktiv für die Bauwende einzusetzen, um damit einen Beitrag gegen die Klimakrise zu leisten.
Eine letzte Ausgabe der leicht&SINN zum Thema „Bauen“ wird Mitte April 2024 erscheinen.
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