Ausgabe 2 / 2009 Artikel von Rita Büllesbach

Nur mit den Füßen voraus?

Pflegebdürftigkeit vorbereiten

Von Rita Büllesbach


„Für unser Unbewusstes gibt es den Tod nicht, im Traum gibt es nur die Verwandlung in eine andere Form“, sagte der Tiefenpsychologe C. G. Jung einmal sinngemäß. Er erkannte auch, dass wir Menschen Unangenehmes so lange wegschieben, bis das Leiden daran zu groß geworden ist oder wir nicht länger wegschauen können. Genau so geht es vielen von uns mit der Frage: „Wie wird es sein, wenn ich im Alter auf Hilfe oder gar Pflege angewiesen bin?“

Unsere Pflegegeschichte wird so einzigartig sein wie unser Leben. Zugleich aber gehen wir den Weg dorthin mit vielen anderen gemeinsam.


Schicksale

Seit Jahren war Frau R., übergewichtig und herzkrank, ans Bett gefesselt. Sie wollte ihre 3-Zimmer-Wohnung, in der sie schon zu Kriegszeiten gelebt hatte, aber auf keinen Fall aufgeben. „Hier geh ich nur mit den Füßen zuerst raus“, sagte sie immer. Morgens kam der ambulante Pflegedienst für höchstens zwei Stunden. Eine ungelernte Helferin zog die Roll-Läden hoch, entleerte den Nachtopf, bereitete das Frühstück, unterhielt sich mit ihr, erledigte kleinere Besorgungen. Gegen Abend kamen die Kinder, machten sauber, brachten Vorräte, hielten ein Schwätzchen, ließen die Roll-Läden wieder runter. Selten blieben sie länger als eine Stunde. Manchmal hatten sie keine Zeit, dann half die Nachbarin. Die meiste Zeit des Tages war Frau R. allein, nachts sowieso. Das Telefon lag immer in erreichbarer Nähe.

Ich war Ende zwanzig und musste dringend etwas verdienen. Eine Freundin vermittelte mir die morgendliche Tour. Frau R. war eine energische Frau. Ich hatte ihr die Waschschüssel ans Bett zu bringen. Sie wusch sich so gut es ging, putzte die Zähne. Mit der Zeit durfte ich ihr hin und wieder den Rücken schrubben. Wie sie es mit ihrem Übergewicht schaffte, auf dem Nachttopf Wasser zu lassen, hat sie mir nie verraten. Eines Nachts bekam sie Durchfall; da sie nicht aufstehen konnte, hielt sie den Po aus dem Bett. Es war am anderen Morgen für uns beide eine Qual.

Jeden Tag musste ich ihr einen kleinen Elektroherd mit zwei Platten ans Bett bringen. Sie erteilte Anweisungen, was aus der Küche zu holen war und kochte für sich ein Mittagessen. Manchmal wurde ich eingeladen – „damit du mal was Richtiges zu essen kriegst, Kind.“ Jede Woche zählte sie mir mein Geld bar auf die Hand. Vermutlich hat sie es früher mit den Lehrmädchen in ihrer Fleischerei auch so gemacht. Sie war auch im hohen Alter gerne noch die Chefin.

Ich redete Frau R. zu, sich einen Lifter installieren zu lassen, dann könnte ich sie wenigstens hin und wieder ins Wohnzimmer schieben. Tatsächlich kam eines Morgens ein Vertreter der Krankenkasse, warf einen Blick ins Schlafzimmer und auf Frau R., schüttelte den Kopf und sprach: „Das lohnt nicht. Mit dem Übergewicht – und alles nur, damit Sie mit dem Rollstuhl in der Wohnung rumfahren können.“ Und so blieb alles beim Alten. Als ich eine feste Stelle fand, habe ich sie noch einige Male besucht, dann schlief der Kontakt ein.

Zu keinem Zeitpunkt hatte Frau R. den Eindruck gemacht, sie wolle Mitleid. Sie hielt ihr Leben fest in den eigenen Händen, trotz ihrer Immobilität und der wenigen Gesellschaft trug sie den Kopf oben. Frau R. ist eine wichtige Erinnerung für mich, wenn ich an mein eigenes Alter denke. Bis heute backe ich meinen Apfelkuchen nach ihrem Rezept und sitze in ihrem alten Stuhl, für den ich eine Woche ohne Bezahlung gearbeitet hatte. Ich hoffe, sie hat die Wohnung mit den Füßen voraus verlassen, so wie sie es sich immer gewünscht hat.

Einige Jahre später. Ich besuche eine Altenpflegeschülerin im Altenheim. Es ist sieben Uhr morgens, die Schülerin unterstützt eine ältere demente Dame bei der Morgentoilette. „Bis zum Frühstück ist es noch was hin. Wenn sie sich nicht hinlegt, rennt sie immer konfus in der Gegend rum“, murmelt die Schülerin entschuldigend in meine Richtung und schiebt die Frau zum Bett: „Ruhen Sie sich noch was aus, ich sag' dann Bescheid, wenn das Frühstück fertig ist.“ Aus fachlicher Sicht ein Desaster, wird doch eine Demenz noch verstärkt, wenn die Umgebung verwirrende Signale sendet. Oder legen Sie sich, frisch angezogen, erst einmal wieder ins Bett? Bis zu diesem Moment hat die Dame kaum Notiz von mir genommen. Sie liegt im Bett und starrt ausdruckslos die Wand an, wie ich es schon oft bei verwirrten Menschen erlebt habe. Ich flüstere einen Abschiedsgruß, als sie sich plötzlich umdreht, mir mit klarem Blick in die Augen schaut, meine Hand nimmt, feste zudrückt und sagt: „Sehen Sie, so werden Sie auch enden.“ Spricht's, dreht sich zur Wand und lässt mich hilflos und ohnmächtig stehen.


Statistiken

Alt werden hat viele Gesichter. Die meisten von uns haben ein längeres und gesünderes Leben, als frühere Generationen. Wer heute 60 Jahre alt ist, hat im Durchschnitt weitere 25-30 Jahre Leben vor sich. Das entspricht ungefähr der durchschnittlichen Gesamt-Lebenserwartung Mitte des 19. Jahrhunderts. Zugleich belegt die Statistik: Je älter wir werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir pflegebedürftig werden.

Die Statistik sagt uns auch, dass bis heute die Familie den Großteil der Pflege leistet. „Mehr als zwei Drittel (68 Prozent oder 1,45 Millionen) der Pflegebedürftigen wurden im Dezember 2005 zu Hause versorgt. Davon erhielten 980.000 Personen ausschließlich Pflegegeld, das bedeutet, sie wurden in der Regel zu Hause allein durch Angehörige gepflegt. Weitere 472.000 Pflegebedürftige lebten ebenfalls in Privathaushalten. Um sie kümmerten sich jedoch zum Teil oder vollständig ambulante Pflegedienste. 677.000 Pflegebedürftige (32 Prozent) wurden in Pflegeheimen betreut.“(1)

Wegen der guten medizinischen Versorgung schiebt sich das Risiko, pflegebedürftig zu werden, immer weiter nach hinten. Wer aus der Familie sollte die Pflege übernehmen? Die eigenen Kinder, die selbst gerade ins Rentenalter kommen und endlich wieder einmal Zeit für sich haben? Die Enkelinnen und Enkel, die gerade auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen oder irgendwo im Studium sind? Davon abgesehen: Familienstrukturen – ich nenne nur Patchwork- oder Ein-Kind-Familie – haben sich geändert. Wenn ich nach Scheidung und erneuter Heirat nicht nur die eigenen Eltern, sondern gleich zwei Schwiegereltern-Paare habe: Wo fange ich an, wo höre ich auf?

Und: Pflegearbeit wird immer noch meistens von Frauen geleistet. Immer mehr Frauen aber können und wollen ihre Erwerbsarbeit nicht mehr für die Pflege von Angehörigen aufgeben. Das alles – und ein Arbeitsmarkt, der Mobilität verlangt und eine familiäre Pflege auch beim besten Willen unmöglich macht, sowie die wachsende Zahl allein lebender Menschen fordern uns heraus, nach neuen Pflegemodellen Ausschau zu halten.


Alternativen

Wenn ich das Thema „Alter“ im Unterricht behandele, zeige ich einen Film über eine Alten-Wohngemeinschaft, Durchschnittsalter 79, gegenseitige Unterstützung inklusive. Am besten gefällt mir die 84-Jährige, die gegen den Willen ihrer Kinder – „Mutti, was willst du in einer WG? Einen alten Baum verpflanzt man nicht!“ – dort eingezogen ist.

In manchen Städten haben sich Vereine gegründet, die Pflegekonten führen:
So lange ich noch rüstig bin, helfe ich anderen. Meine geleisteten Pflegestunden werden auf einem Konto gut geschrieben, von dem ich im Fall eigener Pflegebedürftigkeit wieder Hilfe abbuchen kann.

Auch die wachsende Zahl betreuter Wohnformen – ein Leben in den eigenen vier Wänden mit der Sicherheit, rasch pflegerische Hilfe in Anspruch nehmen zu können – gehört zu den neuen Antworten auf die Frage: „Was wird aus mir?“ Informieren Sie sich über Wohnangebote für ältere Menschen in Ihrer Region und fragen Sie in der Stadtverwaltung nach, ob es entsprechende Pläne für die Zukunft gibt. Der frühzeitige Besuch einer solchen Wohnanlage, die altengerechte Wohnungen mit vertraglich geregelten Hilfeleistungen anbietet, gibt ein klareres Bild von den Möglichkeiten und setzt unserer Angst vor Gebrechlichkeit und Abhängigkeit etwas entgegen.


MutmacherInnnen

Eine Bekannte, die kürzlich in den Ruhestand getreten ist, erzählte mir, dass sie Kontakt mit einem Pflegedienst aufgenommen hat. „Jetzt, wo ich noch alle Sinne beieinander habe und fit durchs Leben schreite, will ich ausprobieren, wie das ist, wenn mich eine mir fremde Person wäscht. Lieber jetzt schon dran gewöhnen, dann ist es später nichts Befremdliches.“ Mutig, oder? Von anderen Menschen abhängig zu sein, muss nicht das Schlechteste sein.

Kennen Sie die Geschichte von Rabbi Mendel, der wünschte, den Himmel und die Hölle zu sehen?

„Ich, Rabbi Mendel, wünschte mir, Himmel und Hölle kennen zu lernen. Da erschien der Prophet Elias und führte mich in die Hölle. Da war ein großer langer Tisch, an dem die Menschen saßen. Ein großes Feuer brannte im Raum, der sonst leer und kahl war. Auf dem Tisch standen dampfende Suppenschüsseln, aus denen die Menschen zu essen versuchten. Aber was ich jetzt sah, war entsetzlich: Die Menschen hatten meterlange Löffel und waren nicht in der Lage, diesen Löffel an den Mund zu führen. So verschütteten sie die Suppe, stießen die Suppenschüsseln um, es herrschte ein entsetzliches Chaos. Nicht aber wurden sie satt und die Begierde verbrannte ihr Herz.

„Genug, genug!“ rief ich da und bat den Propheten, mich schnell von diesem Ort wegzuführen und mir den Himmel zu zeigen.

Der Prophet führte mich hin in Sekundenschnelle. Aber welch ein Erstaunen ergriff mich! Ich sah wieder einen großen Raum. Ein Feuer brannte auch hier. Ein großer langer Tisch stand da, an dem die Menschen saßen, auf dem Tisch dampfende Suppenschüsseln und meterlange Löffel – aber statt das Unmögliche zu versuchen, mit diesen Löffeln selbst zu essen, speisten sie sich gegenseitig. So wurden alle satt, sie verschütteten nichts und ihre Herzen schwangen in Harmonie und Frieden.

Jetzt erkannte ich den Unterschied zwischen Himmel und Hölle. Ergriffen dankte ich dem Propheten, der die Verzauberung löste, und ich fand mich wieder im stillen Gedenken.“
(Quelle unbekannt)


Für die Arbeit in der Gruppe

Den Körper anderer pflegen

1  Austausch im Gespräch
Lesen Sie die Geschichte von der Salbung Jesu Lukas 7,36-50 einmal unter dem Blickwinkel, wie selbstverständlich hier ein anderer gepflegt wird.

Weiterführende Impulse:
– Welche Formen gegenseitiger Körperpflege zeigen dem/der anderen: Ich bin für dich da, ich sorge für dich?
– Welche Formen haben Sie selbst schon erlebt, welche gegeben?

Hinweis für die Leiterin: Häufig kommen hier Geschichten aus der Kindheit. Was hält die Frauen heute, als Erwachsene davon ab, einander auch leiblich wohl zu tun? Fragen Sie nach, wann jemand zuletzt einen Badezusatz oder eine wohlriechende Hautcreme verschenkt hat. Was steckt hinter diesen Geschenken?


2  Austausch im Tun
Vorbereitung: Plastikschüsseln, Waschlappen, Handtücher, ein milder Pflegezusatz und Fußcreme;
Papier und Stifte

Hinweis für die Leiterin: Weisen Sie darauf hin, dass das Mitmachen freiwillig ist. Wer nicht mag, soll für sich sitzen können und einen Brief an sich selbst schreiben mit der Überschrift: „Was es mir heute schwer macht…“ Jeder Brief kommt in einen Umschlag, der verschlossen und mit Namen versehen wird. Nach etwa drei Monaten werden die Briefe zurückgegeben. Wenn die Frauen wollen, kann darüber gesprochen werden, ob sich die Sichtweisen inzwischen verändert haben.

– Bilden Sie Paare und waschen Sie sich gegenseitig einmal die Füße und cremen sie anschließend ein. Tauschen Sie sich zu Viert oder in der ganzen Gruppe darüber aus, wie es ist, wenn Ihnen jemand körperlich nahe kommt und Sie pflegt.

– ergänzend oder alternativ: Besorgen Sie Jogurt oder andere leicht anzureichende Lebensmittel. Sie können auch die Teilnehmerinnen bitten, Lieblingsspeisen und ihre Zahnbürste und Zahncreme mitzubringen. Reichen Sie einander das Essen an und putzen einander danach die Zähne. Tauschen Sie sich auch hier über Ihre Erfahrungen aus.

– Hängen Sie ein Plakat mit der Überschrift: „Was ich mir von meiner Familie wünsche, wenn ich einmal pflegebedürftig bin“ auf und lassen die Frauen ihre Wünsche formulieren.

– Lesen Sie die beiden folgenden Texte vor:

Sie hat also praktisch überhaupt nichts mehr tun wollen, ist aber den ganzen Tag um mich rumgelaufen und hat gesagt: „Was kann ich für dich tun?“ Das ist eine Situation, da werden Sie verrückt, wenn das von morgens bis abends so geht. Vor allen Dingen hatte sie das Bedürfnis, recht dicht neben mir zu sein. Und das kann man nach einer gewissen Zeit nicht mehr ertragen. Abends ist sie einfach nicht ins Bett gegangen. Sie ist abends bei uns gesessen, bis mein Mann die Unterhose hat fallen lassen. Dann ist sie  „huch“ – geflüchtet. Einmal war ich krank, da war sie den ganzen Tag zwei Meter von mir entfernt gesessen. … Da habe ich gedacht, jetzt kriege ich keine Luft mehr, jetzt musst du zum Balkon runterspringen, bloß um Luft zu kriegen, um mich zu befreien von dieser Situation.“ (Frau D., 61 Jahre)

„Ich muss jetzt unbedingt aufs Klo“, sagte sie, während wir durch die Dunkelheit fuhren.  „Gleich sind wir da“, versuchte ich sie zu beruhigen. Ich musste Mutter auf den Armen ins Haus bringen und wunderte mich, wie schwer die kleine Frau war. Auf einmal wurde die Beuge meins rechten Arms warm und nass. Als ich dann auf der Toilette meiner Mutter Hose und Unterhose auszog, guckte ich weg. Als ich ihr später ein Nachthemd brachte, rief sie mit einer Stimme, die ich lange kannte: „Umdrehen!“ Nachdem ich sie endlich zu Bett gebracht hatte, merkte ich, dass auch auf der Toilette eine Pfütze auf den Fliesen stand. Ich holte einen Lappen, kniete mich hin und reinigte das Bad.“ (ein 52-jähriger Mann)

aus: Älterwerden und Lebensgestaltung: Studieneinheit Generationen, Fernstudium EKD, Hannover 1995, S. 94 und 91

– Öffnen Sie ein Plakat mit 2 Überschriften in 2 Spalten: „Was möchte ich zumuten“ „… und was nicht?“ Weisen Sie darauf hin, dass sowohl pflegerische Handlungen als auch Eigenschaften und Verhaltensweisen aufgeführt werden können.

– Notieren Sie die (ohne Diskussion) genannten Punkte stichwortartig. Anschließend laden Sie die Gruppe zum Austausch über die gesammelten Punkte ein.

– Sammeln Sie auf einem dritten Plakat oder Flip-Chart Ideen zur Frage:
„Was könnte ich tun, wenn sich meine Hoffnungen auf familiäre Pflege nicht erfüllen?“


3  Austausch mit Pflegediensten
– Sammeln Sie in der Gruppe Fragen zur häuslichen Pflege, die Sie gerne beantwortet hätten – etwa nach den Zeitrichtwerten, die einzelnen Pflegetätigkeiten zugeordnet sind, oder nach den Kosten für weitere Hilfeleistungen.

– Laden Sie jemand aus einem ambulanten Pflegedienst zu Information und Gespräch ein. Fragen Sie nach, ob die Pflegekraft bereit ist, die Gruppe einmal anzuleiten, sich gegenseitig das Gesicht zu waschen. Probieren Sie dies unter Anleitung aus und sprechen Sie miteinander über die auftretenden Gedanken und Gefühle.


Dr. Rita Büllesbach, Jahrgang 1962, hat religionspsychologische Seminare für ältere Menschen geleitet und war Leiterin des Ev. Fachseminars für Altenpflege in Wuppertal. Dann leitete sie das diakonische Modellprojekt MIKA in Hannover zur gemeinsamen Alten- und Krankenpflege-Ausbildung. Seit 2007 arbeitet sie in einer Heilerziehungspflegeschule als Lehrerin.


Anmerkungen

1 Heiko Pfaff, Pflegebedürftige heute und in Zukunft, STAT-Magazin, S. 1ff. unter http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content
/Publikationen/STATmagazin/Sozialleistungen/2008__11
/PDF2008__11,property=file.pdf

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