Musik hat Macht – sie geht von außen nach innen: von den Füssen, über den Bauch, über viele Sinne, ja sogar über das Sehen bis in den Kopf. Unser ganzer Körper ist offen für alle akustischen Reize und damit auch empfänglich.
Wir können uns nicht entziehen, wenn die Musik wirbt, schmeichelt, kuschelt, nervt, wenn sie uns benutzt, wenn sie tötet. Ja – selbst dazu ist Musik fähig. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir durch unsere Stimmungen und unser Gemüt auch offen, verletzlich und manipulierbar. Der Grat zwischen Musik-Genuss und dem Benutzen von Menschen über ihre Liebe zur Musik und ihre Bereitschaft, sich auch verführen zu lassen, ist schmal. Ein Beispiel dieser subtilen Verführung ist die Suggestion in der Werbung, in der Politik und im Film. Good morning Vietnam, der bekannte Hollywood-Film von 1987, verführt in einer grausamen Filmszene, in der schwerbewaffnete GIs Frauen und Kinder aus Häusern und in Panik treiben, unterlegt mit der wunderbaren Musik von Louis Armstrongs What a wonderful world, in eine persiflierte Schöne neue Welt (A. Huxley), die manipulativer kaum sein kann. Und hier sind wir schon am Kern der Wirkungen von Musik, die durch unsere Hörgewohnheiten alle Menschen erreicht.
Frieden fängt beim Frühstück an, hat der Kabarettist Hanns-Dieter Hüsch einmal geschrieben. Das gilt auch für Musik, Manipulation und Gewalt. Allerdings für jede/n etwas anders. Ist es der falsche Radiosender, der schlechte Moderator, die nervige Musik oder einfach eine laute Umgebung, die uns die Stille nimmt? Vielleicht sind es auch schlechte Nachrichten, die uns „von Rock und Pop umrahmt“, wie Hüsch an anderer Stelle singt, anregen, aufregen oder auch manipulieren? Und wie viele zwanghafte Situationen im weiteren Verlauf eines Tages sich dann noch ergeben, mag jede/r selbst beurteilen. Lärm am Arbeitsplatz, das „Dumm-Dumm-Dumm“ aus dem offen Nachbarauto, unfreiwilliges Mithören der Musik anderer in der S-Bahn kann mehr als nerven und unsere Emotionen und unser Verhalten fremdsteuern, manipulieren. Musikalische Umweltverschmutzung (Peter Jona Korn) umgibt uns tagtäglich und beeinflusst uns massiv, meist negativ.
Hallo, hallo, ich bin dein Ohrwurm
„Lerne Menschen besser kennen, als sie sich selbst es tun“, ist eine der zehn Strategien der Manipulation aus einer Satire des Franzosen Sylvain Timsit. Schon immer war Musik ein Thema der Beeinflussung – und ist es bis heute. Nicht zuletzt in Kriegen spielt Musik eine wichtige Rolle zur Einschüchterung und Verunsicherung der Feinde und zur Stärkung der eigenen Kampfkraft. Und wer wird dabei nicht jener „Fan“-Kulturen und Hooligans gewahr, die mittels ihrer „Schlachtgesänge“ Schiedsrichter wie gegnerische Fans einschüchtern und manipulieren wollen? „Stecht sie ab, die schw…“ ist dabei noch beinahe eine harmlose Variante.
Auch wenn die Inhalte an sich nicht immer gewalttätig sind, wirkt die Musik in uns hinein und auf andere. Menschen lassen sich nun einmal gerne mitreißen und verführen. „Hallo, hallo, ich bin dein Ohrwurm“, singen die Wise Guys und sprechen damit ein musikpsychologisches Phänomen an. Eingängige Melodien und Texte verknüpfen sich schnell mit unserem seelischen und geistigen Zustand und verändern uns. Diese Ohrwürmer helfen uns, beim Autofahren aufmerksam zu bleiben, bei der Nachtschicht produktiv, beim Zahnarzt entspannt, beim Einkaufen konsumtiv, in der Telefonwarteschleife geduldig. Kurz: Wir lassen uns konditionieren und fremdbestimmen. Und das meist, ohne es zu bemerken, und selbst wenn, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Gar ohne es zu können? Nicht von ungefähr werden Musikprogramme für die Arbeitsproduktivität und für Nachtschichten professionell entwickelt, produziert und eingesetzt.(1)
Verführt und manipuliert
Massen wurden schon immer verführt und gelenkt, das kennen wir aus unserer eigenen deutschen Vergangenheit: Die Soldatenlieder, die Marschmusik und die überwältigenden Choreographien der Massen zeigen, wie eigentlich positiv besetzte Erfahrungen aus Musik, Kunst und Kultur manipulativ missbraucht werden können. Besonders verwerflich, wenn diese Techniken bewusst gegen einzelne Menschen gerichtet und zu Folter und seelischer Zerstörung eingesetzt werden – in jüngster Zeit etwa gegenüber den Gefangenen von Guantánamo, die Dauerbeschallung
mit der Muslimen verhassten westlichen Popmusik ausgesetzt wurden. Dabei geht es hier nicht um Inhalte sondern um die reine brutale Wirkung, die zerstörerische Kraft von Lautstärke und des „Sich-nicht-entziehen-könnens“.
So wenig sich Menschen diesen Wirkungen entziehen können, so hilf- und schutzlos waren und sind sie meist auch den politischen Systemen ausgesetzt. Denn Musik ist nicht nur ein Bestandteil von gesellschaftlichen Machtspielen und Manipulation, sondern in gleichem Maße von politischer Macht und deren Durchsetzung. Drei Beispiele.
– In den 1930ern entstand der Glitzer- und Glamour-Musikfilm, um die Bevölkerung von den schlechten Lebensbedingungen und später vom Krieg abzulenken und zum Durchhalten zu bewegen. Weil das kreative musikalische jüdische Personal entweder emigriert oder interniert war, wurden Johannes Heesters, Lilian Harvey und Lale Andersen zu den neuen deutschen Stars gemacht. Sie grüßten an die Front, suggerierten Unterstützung aus der Heimat. „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh'n“– und das deutsche Volk wähnte sich zumindest im Volksempfänger in einer „wunderbaren Welt“.
– Um erwachsen zu werden, müssen Jugendliche sich von der Elterngeneration abgrenzen. Aus eigener Erfahrung wie aus der Jugendforschung wissen wir, wie wichtig dabei Musik ist. Harte und laute Musik, schlimme und teils abstoßende Texte, die Jugendthemen aufgreifen und damit die Erwachsenenwelt ausschließen möchten, um die eigene Welt zu verändern, sind bekannte Merkmale. Die Beeinflussung durch die zunehmende Mediennutzung sollte in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden. Die gesellschaftlichen Rollenbilder, die hier häufig vermittelt werden, sind zum Teil hochproblematisch. Viele Künstler des Hip Hop und der Rap-Musik zum Beispiel bedienen sich einer sehr frauenverachtenden sexistischen Sprache, um ihr eigenes Rollen- und Weltbild zu transportieren. Gerade Jugendliche lassen sich dadurch in ihren Weltanschauungen leicht beeinflussen. In Deutschland bekannte Namen wie Bushido, Frauenarzt, King Orgasmus One und Kollegah stehen hier in einer Reihe mit amerikanischen Gangsta-Rappern wie 50 Cent, Eminem und IceT.
– Die vielleicht größte politische Gefahr stellt die rechtsradikale und fremdenfeindlich motivierte Musikszene dar. Zwar stehen viele der bekanntesten Musiker unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, der CD-Markt unter den Ladentischen und über das Internet floriert dennoch. Hier werden hochmanipulative Texte und Songs verbreitet, die nicht gefestigten Menschen große Verlockungen bieten können. Organisationen wie die NPD haben dies erkannt und sogenannte Schulhof-CDs produziert und kostenlos an Jugendliche verteilt. In Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit und großer sozialer Unzufriedenheit sind rechtsradikale, fremdenfeindliche und antisemitische Themen leicht mit manipulativer Musik zu besetzen. Musik verbindet, bietet Gemeinschaftserlebnisse und schweißt zusammen, macht mutig und besinnungslos.
What a wonderful World?
Bei einer distanzierten Betrachtung, sofern das bei Musik überhaupt möglich ist, lassen sich einige Konstanten feststellen: Musik betrifft uns alle, sie wird gleichzeitig aber auch von jeder und jedem auf eigene Weise wahrgenommen. Die Wirkungen sind bestimmt vom sozialen Kontext, von der Persönlichkeit, von der Physiologie und der kulturellen Vorstellungen einer und eines jeden. Und dadurch werden wir beeinflussbar, manipulierbar – und das nicht nur von Massenkulturen und dem Mainstream. In der friedlichen gutmeinenden Musikwelt, die hier bislang wenig berücksichtigt ist, werden wir durchaus auch sehr positiv beeinflusst. Denken wir etwa New Age-Musik und Meditative Entspannungstechniken, die uns auch verändern wollen und zunehmend auch in den Angeboten von Kirchen und Volkshochschulen erscheinen.
Wir leben in einer Zeit, in der beinahe alle an allem teilhaben können. Die Musik-Märkte lassen sich kaum noch überschauen, geschweige denn kontrollieren. Das war nicht immer so. Vom Mittelalter bis in die Neuzeit hinein gab es nur die von den kirchlichen Bildungsschichten streng kontrollierte Musikpflege. Erst im späten 19. Jahrhundert ging sie ins Bürgertum ein und wurde damit auch erst demokratisch. Es sollte uns zu denken geben, dass wir auch aus dieser Erfahrung heraus eine hohe gesellschaftliche und kulturelle Verantwortung tragen für unsere heutige Musik- und Mediennutzung – und inwieweit wir es zulassen wollen oder können, dass die Musik zum Spielball von Politik, Mächten und Interessen gemacht wird. Wünschen wir ihr doch einfach frei nach Israel Kamakawiwo'ole:(2) „What a wonderful world … somewhere over the rainbow“.
Frei nach John Cage 4'33''
Das Stück 4'33'' wurde 1952 in der Mave-rick Concert Hall in Woodstock / New York uraufgeführt. Der Titel gibt eine Zeitlänge von vier Minuten und 33 Sekunden vor, wobei die Länge der drei Sätze – mit der Anweisung Tacet, das heißt, es werden keine Töne erzeugt – mit dem I Ging (chines. „Buch der Wandlungen“) ermittelt wurde. In der Uraufführung zeigte der Pianist die drei Sätze durch Schließen und Öffnen des Klavierdeckels an. Laut Partitur ist die Dauer des Stückes frei wählbar, nur der Titel soll diesen Wert genau angeben. Obwohl also der Titel je nach gewählter Dauer variieren kann, hat sich die Bezeichnung 4'33'' durchgesetzt, der Wert der Uraufführung. Ebenso frei wählbar ist die Zahl der Ausführenden und die Art der (nicht) benutzten Instrumente.
Ziel
Bewusstmachen von Lärm und Stille; aus der Stille heraus das Gefühl ent-wickeln, in welcher akustischen Umgebung wir uns bewegen
Ablauf
Im Raum einen Stuhlkreis stellen und die TN nach einer kurzen Einführung zum Ziel der Übung einladen zur Ruhe zu kommen und die Augen zu schließen – Beginn evtl. mit Gong oder Klangschale signalisieren
– Die Leiterin steht auf, öffnet das Fenster und setzt sich wieder auf den Platz. Nach (gefühlten) 4'33'' steht sie wieder auf und schließt das Fenster. – Die Idee ist, die Umweltgeräusche in Form eines zeitlich begrenzten Musikstücks wahrzunehmen, um festzustellen, dass Geräusche, in welcher Form auch immer, unser tägliches Leben bestimmen.
– Die Klang- bzw. Schallereignisse werden dokumentiert und zugeordnet (Flipchart oder großer Papierbogen in der Mitte), besprochen und mit eigenen Erfahrungen in Verbindung gebracht:
– Wie sicher ist unser Gehör? Können wir uns darauf verlassen?
– Welche Botschaften haben wir akustisch wahrgenommen? Wären diese manipulierbar?
– Wo passiert es uns, dass wir uns täuschen (lassen), wo geschieht das ganz bewusst? In welchen Situationen bin ich schon auf diese Weise manipuliert worden? Kenne ich Musik, die mich aufs „falsche Gleis“ führt?
Frei nach Bushido und Goethe
Ziel
Selbsterfahrungen durch eigenes Sprechen/Vortragen von Rap-Texten, durchaus auch mit provokativen Texten
Ablauf
Die TN bekommen je einen Text und versuchen diesen als Rap rhythmisch zu sprechen. Quellen z.B.: http://www.allthelyrics.com/de/lyrics/bushido/ – http://www.songtext4free.de/King-Orgasmus-One-song-texte-11568.html
Alternativ oder anschließend können die TN selbst Texte reimen und als Rap sprechen. Auch Schiller- und Goethe-Gedichte, Liedtexte usw. eignen sich.
– Dann schließen sich TN mit gleichen oder unterschiedlichen Texten zusammen und entwickeln gemeinsam ein Stück, das sie der Gruppe vorführen. – Kleine Accessoires wie Hüte, Brillen, Kleidung lockern …
– Auswertung: Wie fühlt es sich an, Hemmschwellen zu überwinden und eine nicht gewohnte Sprache zu benutzen? (Stolz? Scham? …) Macht es Spaß, beim Auftreten in eine andere Rolle zu schlüpfen?
Prof. Hubertus v. Stackelberg, geb. 1953, studierte die Fächer Pädagogik, Musik, Deutsch und Sport und in einem angeschlossenen Musikstudium Orchestermusik mit dem Hauptfach Trompete. An der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg ist er in den Studiengängen Religionspädagogik, Soziale Arbeit, Diakoniewissenschaft, Heilpädadogik/Inklusion und der Frühkindlichen Bildung tätig – und freiberuflich im Ludwigsburger Blechbläser Quintett; siehe (und höre) www. blechblaeserquintett.de.
Anmerkungen:
1 z.B. in München die Fa. MUZAK
2 Israel „Bruddah Iz“ Kamakawiwo'ole (1959-1997, Hawaii) war ein US-amerikanischer Sänger.
Verwendete Literatur
Herbert Bruhn, Reinhard Kopiez, Andreas C. -Lehmann (Hg.): Musik-Psychologie. Das neue Handbuch, Hamburg 2008
Theo Hartog, Hans Hermann Wickel: Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit, Weinheim 2004
Michael Parzer: Der gute Musikgeschmack, -Frankfurt a.M. 2011
Renate Klöppel: Die Kunst des Musizierens, Mainz 1997
Hubertus v. Stackelberg: Musik und Gewalt – verhängnisvoller Zusammenhang oder charmante Symbiose? Historische Vergleiche und soziologische Erklärungsversuche, in: N. Collmar, A. Noller (Hg.): Menschenwürde und Gewalt, Stuttgart 2006
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