Onkel Schulte hatte nur einen Arm, den rechten. „Wo ist denn der linke?“, habe ich meine Eltern gefragt, und sie antworteten: „Im Krieg“. Onkel Schulte hatte einen Fotoapparat. Damit machte er schöne Bilder von uns. Ein Fotoapparat war damals eine Seltenheit.
Onkel Schultes Fotos sind alle in Schwarzweiß. Schöne Bilder. Meine einzigen Kindheitserinnerungen. Ich und ein Luftballon. Ich und meine Plastikente. Ich und das Kettenkarussell. Onkel Schulte klemmte die Kamera in die linke Plastikhand, und mit der rechten drückte er ab. Und immer kam ein Vögelchen heraus. „Du musst lachen“, haben sie gesagt, „sonst kommt das Vögelchen nicht“, und dann habe ich gelacht – und siehe da, es kam. Oh Wunder.
Meine Fotoserie endet im Jahr 1962. „Warum?“, habe ich gefragt. „Onkel Schulte hat seinen Fotoapparat verloren“, haben sie mir geantwortet. „Mist“, dachte ich. Zuerst der Arm und jetzt der Fotoapparat. Später habe ich dann durch unermüdliches Nachforschen herausgefunden: Onkel Schulte war gestorben. Für mich gab es keinen Zweifel daran, dass Onkel Schulte im Himmel war. Dort oben, so hatte man mir erzählt, ist alles heil, schön und wunderbar. Und der linke Arm von Onkel Schulte sei auch wieder da. Blinde würden sehend und Lahme würden gehend, das sei nun mal eines von vielen Wundern, die der liebe Gott sofort vollbringen würde. „Warum denn?“, habe ich protestiert. „Onkel Schulte war doch auch mit der schwarzen Plastikhand ein prima Kerl. Dem hat doch nichts gefehlt. Den braucht doch der Gott nicht erst zu reparieren, bevor er ihn in den Himmel lässt!“
Der Gedanke, dass auch Einarmige in den Himmel dürfen, schien mir viel mehr ein Wunder zu sein als all die anderen Zaubereien. Und die Vorstellung, dass für den lieben Gott auch Menschen, denen etwas fehlt, vollkommen waren, ebenfalls. Männer, Frauen und Kinder humpeln und hüpfen über die Wolken, Einbeinige tanzen auf Regenbögen, lachen und singen. Der Einarmige an der Harfe, welch wunderbarer Klang.
Doris Weber
Textauszüge aus:
Publik-Forum
Zeitung kritischer Christen
Oberursel
EXTRA-Ausgabe Wunder
Jan./Feb. 2008
(c) Publik-Forum Verlagsgesellschaft mbH
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