Alle Ausgaben / 2006 Material von Reinhold Müller

Orientalischer Bauchtanz

Von Reinhold Müller


Der orientalische Bauchtanz reicht vermutlich zurück bis in die alten sumerischen Zeiten. Es dürften die Kulttänze der Priesterinnen der Ischtar gewesen sein,
der babylonischen Mondgöttin, aber auch der kretischen Priesterinnen, die mit lebenden Schlangen in den Händen tanzten.

Ich liebe den Ausdruck „Bauchtanz“ nicht, denn er ist einfach falsch. Es ist ein Ganzkörpertanz besonderer Art. Die Besonderheit liegt darin, dass einzelne Körperpartien isoliert in höchst konzentrierte, tänzerische Bewegung versetzt werden. Der Kopf mit dem Hals, der Schultergürtel, die Hüftpartie, die Arme, Schenkel, Füße. Es erfordert viel konzentrierte Übung, etwa nur die Hüftpartie in Schwingung zu versetzen und den übrigen Körper in Ruhe zu halten. Noch schwieriger ist es, diese isolierten Schwingungen dann mit anderen Bewegungen zu koordinieren und schließlich noch mit der Gestik von Armen und Händen und einer ausdrucksvollen Mimik den ganzen Körper tanzen zu lassen. Zudem gibt es in den isolierten Bereichen sehr differenzierte Bewegungsrhythmen von sehr unterschiedlicher Bedeutung: kreisendes Schwingen, Bewegungen in der Form einer Acht, dem Unendlichkeitssymbol, ruckartige Bewegungen von Schultern oder Hüften, das rhythmische Vor- und Zurück schnellen der Bauchdecke und das schnelle Vibrieren verschiedener Körperzonen. Dann die Überlagerung der isolierten Bewegungen durch schlangenhafte Bewegungen des ganzen Körpers von den Füßen bis zum Kopf. Das, was in der abendländischen Tanzkunst die Choreographie des äußeren Bewegungsablaufs in Raum und Zeit ist, stellt in diesem höchst komplizierten Ganzkörpertanz eine Art innere, kontemplative Choreographie dar. Bauchtanz ist nur ein Teilaspekt des Ganzen. Ich glaube, es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass dieser archaische sakrale Ganzkörpertanz die höchste Vollendung der Tanzkunst überhaupt darstellt.

Es liegt auch auf der Hand, dass die Virtuosität dieses Tanzes nicht mit dem Kopf und der einstudierten Technik allein gelernt werden kann. Sie ist nur erreichbar im Zustand der Trance, wie jede Virtuosität. Sie hat die meditative Selbstvergessenheit zur Voraussetzung, die erst dazu führen kann, dass ES tanzt. Das ist die Voraussetzung im Zen für die Kunst des Bogenschießens, beim virtuosen Klavierspiel oder beim Eiskunstlauf. In dem Moment, wo sich der Kopf mit seinem Denkbewusstsein einschaltet, zerbricht die Virtuosität.

aus: Tanz vor Gott.  Die Heimkehr des Tanzes in die Kirche
© beim Autor

 

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