Alle Ausgaben / 2012 Material von Christine Hannemann

Ortspolygamie

Von Christine Hannemann


Wohnen ist der konservativste Lebensbereich, so die lange Zeit geltende Übereinkunft in den relevanten Forschungsdisziplinen. Bei den Anforderungen an die Wohnstätten von Menschen gelte es zunächst, so auch im 21. Jahrhundert, Grundbedürfnisse nach Schutz, Intimität und Privatheit zu befriedigen. … Angesichts der postmodernen Transformation aller Lebensverhältnisse verändert sich jedoch das Wohnen gerade in der Stadt grundsätzlich.

Eine in ihrer Bedeutung bisher zu Unrecht wenig thematisierte Verschiebung städtischer Wohnverhältnisse ergibt aus dem Wandel der Arbeitswelten. … Berufliche Mobilität ist heute zwangsläufig eine Grundbedingung der Erwerbsarbeit. Eine spezifische Form des Mobilseins, die sich auch als Spannungsfeld zwischen Mobilität und Sesshaftigkeit konstituiert, ist das multilokale Wohnen, also die Organisation des Lebensalltags über zwei oder mehr Wohnstandorte hinweg. Multilokalität hat inzwischen einen solchen Umfang und solche Spezifik erlangt, dass in der sozialräumlichen Forschung diese Praxis der Lebensführung „gleichberechtigt neben Migration und Zirkulation zu stellen“ ist. An die Stelle der überwiegend ortsmonogamen Lebensformen tritt immer häufiger – freiwillig oder erzwungenermaßen – „Ortspolygamie: Mit mehreren Orten verheiratet zu sein“. … Auch wenn quasi viele solche Menschen kennen – wenn sie nicht sogar selbst diese Lebenspraxis leben -, für die das multilokale Wohnen in unterschiedlichster Weise Alltag ist, fehlt bisher eine detaillierte quantitative Abschätzung.

Die ersten Ergebnisse dieses neuen Forschungsfeldes zeigen, dass multilokales Wohnen überwiegend als eine vom Beschäftigungssystem auferlegte Belastung erlebt wird, die von sozialen Netzwerken aufgefangen werden muss – die gleichzeitig durch diese Arbeits- und Lebensform beeinträchtigt werden. Multilokalität wird, so scheint es bislang, nur von Haushalten mit geringen sozialen Bindungen und individualistischen Orientierungen als positive Erweiterung von Lebenschancen und Horizonten wahrgenommen.

aus:
Heimischsein, Übernachten und Residieren – wie das Wohnen die Stadt verändert
in:
Stadtentwicklung „Aus Politik und Zeitgeschichte“ 17/2010
online verfügbar unter:
http://www.bpb.de/shop/
zeitschriften/apuz/32801/stadtentwicklung

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