Ausgabe 2 / 2017 Material von Tahar Ben Jelloun

Papa, was ist ein Fremder?

Gespräch mit meiner Tochter

Von Tahar Ben Jelloun

Was ist ein Rassist?
Ein Rassist ist jemand, der sich anderen überlegen fühlt, nur weil sie nicht die gleiche Hautfarbe haben, die gleiche Sprache sprechen, auf die gleiche Art feiern wie er. Er verrennt sich in die Idee, dass es verschiedene Rassen gibt, und sagt sich: „Meine Rasse ist edel und gut, die anderen sind hässlich und bestialisch.“

Gibt es denn keine Rasse, die besser ist als die anderen?
Nein. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wollten zwar einige Historiker beweisen, dass es eine weiße Rasse gäbe, die der so genannten schwarzen Rasse körperlich und geistig überlegen sei. Damals glaubte man, die Menschheit sei in verschiedene Rassen unterteilt. Der Historiker Ernest Renan zum Beispiel, der im neunzehnten Jahrhundert lebte, listete sogar die Menschengruppen auf, die er als „minderwertige Rassen“ betrachtete: die afrikanischen Schwarzen, die australischen Ureinwohner und die Indianer. Für ihn verhielt sich „der Schwarze zum Menschen wie der Esel zum Pferd“, das hieß, er war „ein Mensch ohne Intelligenz und Schönheit“! Heute jedoch wissen wir, dass alles ein Irrglaube war. Die Wissenschaft hat mittlerweile erkannt, dass reine Rassen in der Natur nicht vorkommen und höchstens künstlich, das heißt im Labor, erzeugt werden können, zum Beispiel bei Mäusen. Studien haben ferner ergeben, dass es zwischen einem Chinesen, einem Malier und einem Franzosen mehr soziokulturelle als genetische Unterschiede gibt.

Was sind soziokulturelle Unterschiede?
Soziokulturelle Unterschiede sind solche, die die Lebensform einer Gruppe Menschen von einer anderen unterscheiden. Jedes Volk hat bestimmte eigene Traditionen und Bräuche, kulturelle Errungenschaften (afrikanische Musik zum Beispiel ist anders als europäische) und besondere Arten, zu feiern, sich zu verheiraten und so weiter, worin es sich von anderen Völkern unterscheidet. (…)

Sag, Papa, was kann man denn tun, damit die Leute die Fremden nicht mehr hassen und verachten?
Ach, wie einst General de Gaulle in einem anderen Zusammenhang sagte: Das ist eine Lebensaufgabe! Hass verbreitet sich so viel einfacher als Liebe. Es ist so viel einfacher, jemandem, den man nicht kennt, zu misstrauen, ihn abzulehnen, als ihn zu mögen. Das liegt an unserem natürlichen Argwohn Unbekannten gegenüber, von dem ich dir anfangs erzählt habe.

Und deshalb will man nichts mit Fremden zu tun haben?
Genau. Man verriegelt die Türen und Fenster. Wenn der Fremde an die Tür klopft, macht man ihm nicht auf. Wenn er drängt, öffnet man die Tür, lässt ihn aber nicht herein; man bedeutet ihm, dass er besser woanders hingeht, kurz man weist ihn ab.

Und diese Abweisung geschieht aus Hass?
Eher aus einem natürlichem Misstrauen heraus, das manche Leute gegeneinander haben.
Hass ist ein Gefühl, das tiefer geht und schwerer wiegt, denn es setzt sein Gegenteil voraus: die Liebe.

Ich verstehe nicht, von welcher Liebe du sprichst …
Ich meine die Liebe zu sich selbst, die Eigenliebe.

Gibt es denn Menschen, die sich selbst nicht lieben?
Ja. Und diese Menschen, die sich nicht selbst lieben, lieben auch sonst niemanden. Das ist wie eine Krankheit. Es ist ein Elend. Doch der Rassist liebt sich oft sehr, so sehr, dass kein Platz mehr für die anderen bleibt. Daher kommt sein Egoismus.

Also ist der Rassist jemand, der niemanden liebt und egoistisch ist. Der muss aber unglücklich sein, das ist ja die Hölle!
Ja, Rassismus ist die Hölle.

aus:
Papa, was ist ein Fremder? – Gespräch mit meiner Tochter
Deutsche Übersetzung von Christiane Kayser
Copyright © 1999 Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang