Alle Ausgaben / 2004 Frauen in Bewegung von Dietlind Steinhöfel

Petra Bläss

Politik und Puppenspiel

Von Dietlind Steinhöfel

Die Vizepräsidentin a.D. des Deutschen Bundestages ist jung und engagiert. Petra Bläss weiß, was sie will. Im Leben der 39-Jährigen ging und geht es turbulent zu: Sie gehörte im Januar 1990 zu den ersten Ostdeutschen, die zum Arbeitsamt gingen, da sie als Literaturwissenschaftlerin keinen Job fand. „Damals stellten die Institute niemanden mehr ein – Akademie der Künste, Aufbau Verlag, Kinderbuchverlag – wo ich auch vorsprach, es war keine Anstellung möglich.“ Auch eine Bewerbung beim Deutschen Fernsehfunk wurde abschlägig beschieden.
Für den Unabhängigen Frauenverband (UFV), den sie mit gegründet hatte, saß sie am Runden Tisch und wurde unerwartet zur Wahlleiterin der ersten freien Wahlen der DDR nominiert. Das war kein bezahlter Job. Doch innerhalb einer Woche wurde ihr Forschungsstudium an der Humboldtuniversität verlängert: „International hätte es keinen guten Eindruck gemacht, wenn eine arbeitslose Germanistin die Wahlen leitet.“ Sie lacht. Damals war sie mit 25 wohl die jüngste Wahlleiterin. Ihr Gegenüber im Westen war Ende 60, das Durchschnittsalter in diesem Job.
Als Wahlleiterin „saß ich dann jeden Abend im Fernsehen, und dort erklärten mir alle, was ich für ein Fernsehtalent hätte“. Petra Bläss erzählt schmunzelnd, wie sie den Verantwortlichen das Ablehnungsschreiben mitgebracht habe. Ob sie immer noch Interesse hätte, wollte der Intendant wissen. Ein halbes Jahr arbeitete sie dann im zweiten Programm, bis sie als Abgeordnete der PDS in den ersten gesamtdeutschen Bundestag kam und dort frauen- und sozialpolitische Sprecherin und zuletzt Vizepräsidentin war.

Trotz „immer 150 Prozent“ Engagement nimmt sie sich Zeit für Freunde, Hobbys, ihr Umfeld und das Theater. „Das eine schließt das andere nicht aus“, sagt sie. „Ich erledige mehrere Sachen gleichzeitig, wo andere meinen, dass das nicht ginge.“
Ihr Berliner Büro steht ihr als ehemaligem Präsidiumsmitglied noch für vier Jahre zur Verfügung. Die Wände der beiden Räume säumen hohe Regale voller Aktenordner. Ein Plakat zeigt zwei Marionetten von Spejbl und Hurvinek, die beiden tschechischen Figuren. Das Archivieren und das Puppenspiel – diese beiden Leidenschaften begleiten das Leben von Petra Bläss seit frühester Kindheit: „Sobald ich das Alphabet konnte, habe ich sortiert, aber nicht etwa Stammbuchbilder, sondern ich habe mit fünf Jahren begonnen, Gemälde alter Meister zu sammeln oder Ansichtskarten aus aller Welt. Ich entwickle gern archivalische Systeme.“ In ihrem Bundestagsbüro befindet sich ihr Archiv Außenpolitik, zu Hause sind Frauenpolitik, Literatur und Kunst archiviert.

Ihre zweite Leidenschaft, das Spiel, ist Petra Bläss in die Wiege gelegt. Ihr Vater war über 30 Jahre Theaterintendant in Wittenberg, die Mutter beim Theater, die Schwester Schauspielerin. Klar habe sie auch als Kind Rollen übernommen. Aber: „Zum Theater wollte ich nie. Ich wollte mein Eigenes machen“, sagt sie. Nach dem Abitur studierte sie an der Humboldt-Universität Geschichte und Germanistik.
Puppenspiel mochte sie schon von Kindheit an. Inzwischen besitzt sie etwa 600 davon: große und kleine Marionetten, Handpuppen, Fingerpuppen. Petra Bläss weiß nicht genau, wie viele in ihrer Wohnung hängen und in den Truhen schlummern. Sie lebt mit ihren Puppen. Wenn sie nach Hause kommt, wird sie von Clowns und Hexen, Pinocchio, Speibl, Hurvinek, Pippi Langstrumpf und all den anderen begrüßt. Sie sind keine Dekoration, alle sind zum Spielen gedacht. Ihre Liebe zu den Figuren hat sie zu einem handfesten Kommunikationsmittel entwickelt. Petra Bläss tritt seit mehr als zehn Jahren als Puppenspielerin auf. „Inflationär mache ich das aber nicht“, wendet sie ein. „Ich möchte nicht auf mein Hobby festgelegt werden.“

Trotzdem erzählt sie freimütig Episoden von ihren Auftritten. Im Herbst 2003 war sie zum Beispiel zur Mitgliederversammlung des Deutschen Frauenrates eingeladen. Sie konnte die Versammlung verfolgen und anschließend 20 Minuten spielen. „Da habe ich natürlich liebend gern zugesagt. Ich habe gemacht, was mir neben dem Spielen für Kinder am meisten liegt: spontan aus dem, was ich während der Veranstaltung verfolge, Szenen zu schreiben.“
„Vor der Abreise muss ich überlegen, welche Figuren sich eigenen: Was wird dort sein, was habe ich für Botschaften.“ Beim Frauenrat sei ihr klar gewesen, dass ein Dialog über die aktuellen Reformen dabei sein muss. „Die Rentenreform hat Frauen einmal mehr vergessen. Und da ich früher mal die ‚Rententante von der PDS' war, habe ich auch was zu sagen.“ Dafür eigneten sich Ernchen und Elschen, zwei riesengroße Puppen. „Das sind zwei ganz süße Omis mit Knoten, die stricken und sich über die Rente unterhalten. Das fängt immer so an“ – und plötzlich schlüpft Petra Bläss in die Rolle der Puppenspielerin: „Och, Ernchen…“ sagt sie mit veränderter Stimme. „Was ist denn, Elschen?“ – „Hast du denn schon deinen neuesten Rentenbescheid?“ – „Und denn jeht et los.“ Unversehens verfällt sie in den Berliner Dialekt. Sie lacht und erzählt, wie eine Freundin ihr damals den absolut neuesten Referentenentwurf zugefaxt hatte – mit dem Rentnerquotienten. „Da habe ich zum ersten Mal in meinen Leben drei Sätze abgelesen. Sonst sehe ich einen Text und spiele die Seite auswendig. Aber den Satz konnte ich mir nicht merken. Ich habe gespielt, dass auch die Puppe das abliest, weil sie nicht versteht, was ein Rentnerquotient ist und ein Äquivalenzrentner. Die Puppen fragten: ‚Bin ich nun ein Äquivalenzrentner? Also muss ich denn durch einen demographischen Faktor dividiert werden. Und wat bleibt von mir übrig?“ Der Saal habe getobt. Der zweite Teil der Vorstellung war die kabarettistische Beleuchtung der Tagung. Das übernahmen die Hexen Eulalia und Eusebia. Hinterher habe sie gedacht: „Heute konntest du viel kritischer sein als jemals als Oppositionspolitikerin.“

Der Bundestag ist für sie inzwischen ein abgeschlossenes Kapitel. „Ich wollte das auch nicht mein Leben lang machen.“ Das sei keine Distanz zu den zwölf Jahren Parlamentspolitik. „Vielleicht hat das was mit meiner Spielerei zu tun, dass ich immer eine Art von Restdistanz hatte.“ Als Vizepräsidentin „habe ich der ganzen Geschichte – oder Theaterbühne – vorgesessen. Ich hatte den Draufblick.“ Petra Bläss sieht Parallelen zwischen ihrem Hobby und der Politik. „Ich sage immer: Meine ganze Familie ist beim Theater, ich war beim schlechtesten Ensemble.“ Zur Parteipolitikerin tauge sie wenig. „Ich arbeite gerne inhaltlich und bin eine richtige Netzwerkerin, habe mehr Schwergewicht gelegt auf die überparteiliche Frauenarbeit und auch nie die andere, spielerische Seite des Lebens vergessen.“

Heute engagiert sie sich international, ist als Beraterin für den Stabilitätspakt unterwegs, Schwerpunkt Südosteuropa. Sie will ihre Parlamentserfahrung als Feministin, die aus dem Osten kommt, weitergeben. „Offensichtlich habe ich die Fähigkeit, Erfahrungen plastisch zu vermitteln.“ Vorerst arbeitet sie ehrenamtlich. Das ist möglich, weil sie noch ein Übergangsgeld für ParlamentarierInnen bezieht. Sie hofft nun auf die Finanzierung des Projektes durch den Bund.
Auch in ihr neues Tätigkeitsfeld nimmt sie das Spiel mit. Ein kosovarischer Abgeordneter hat sie eingeladen, in einem kleinen Kindertheater in Priština zu spielen. Im Kosovo ist sie als Trainerin für ein Parlamentsprojekt eingesetzt. Nun wird sie zwei Koffern packen – in einem „sind meine Klamotten, in dem anderen die Puppen“.

Dietlind Steinhöfel, geb. 1950 in der Nähe von Eisenach, hat zunächst Französisch und Sport studiert, dann aber als Redakteurin einer evangelischen Wochenzeitung gearbeitet und später die Kinderzeitschrift „Benjamin“ betreut. Seit 2003 ist sie Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Erfurt und arbeitet zugleich als freie Journalistin und Autorin.

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