Ausgabe 2 / 2009 Material von Gisela Brackert

Pflege als Schicksal

Von Gisela Brackert

Ich weiß nicht, ob es auch heute noch ein so beliebtes Aufsatzthema ist wie seinerzeit: die Frage nach den Helden des Alltags. Ich weiß aber, wen ich aus tiefster Überzeugung als solche Helden des Alltags bezeichnen würde: Menschen, die einen hilflos gewordenen Angehörigen pflegen.

Nicht nur ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate, nach einer schweren Krankheit, einer Operation. Das kennen viele. Nein, auf unbegrenzte Zeit, über eine Lebensstrecke hinweg, deren Ende nicht absehbar ist. Und das kennen auch immer mehr. Die Geburt eines behinderten Kindes, ein schwerer Unfall, die ärztliche Diagnose „unheilbar“ oder dramatischer, altersbedingter Kräfteverfall – und nichts ist mehr so wie vorher.

Nie werde ich den Bericht einer Frau vergessen, die Ende 40 war, als ihr Mann einen Hirninfarkt erlitt. Nach einer Operation, mit der man versuchte sein Leben zu retten, kam er nach Monaten als Pflegefall zu ihr zurück. Behinderungsgrad: 100 Prozent. Und es begann ein Alltag, in dem es um nichts anderes mehr ging als um Pflege, und das bedeutete für Gudrun B. um das Erlernen neuer Kompetenzen und Rollen.

Gudrun B. wurde zur Expertin für Spezial-Ernährung, Flüssigkeitszufuhr, Medikamenteneinnahme und Körperpflege. Für Hilfe beim An- und Auskleiden, beim Gehen, Essen, bei der Toilettenbenutzung. Sie lernte Katheder, Lifter, Nachtstuhl und Rollstuhl handhaben. Sie machte sich kundig in Krankengymnastik, Massagen, logopädischen Übungen, Sprach- und Gedächtnistraining.

Formalitäten ohne Ende waren zu bewältigen: Sie lernte Anträge stellen, Atteste einholen, Fragebögen ausfüllen, Nachweise führen, Einsprüche erheben und sich mit dem Kleingedruckten zu beschäftigen, um nicht in Ämtern und Wartezimmern als lästige Bittstellerin abgefertigt zu werden. Regelmäßig fuhr sie ihren Mann zu den ärztlichen Kontrollbesuchen und musste auch hier eine neue Rolle erlernen. Nicht der Arzt, sondern sie, die den Kranken in der häuslichen Pflege täglich sah und beobachtete, war die Expertin, die die Auswirkungen der Medikamente beurteilen, den Aktionsradius, die Belastbarkeit und psychische Verfassung des Patienten einschätzen konnte.
Die schwierigste Rollenabgrenzung war die gegenüber dem zu Pflegenden. Es war nicht mehr das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Die Selbstbestimmung war verloren gegangen, und zwar für beide. Der Hilflosere ist oft der Anspruchsvollere, eine Umklammerung findet statt, aus der sich die Pflegende lösen muss, will sie nicht an der eigenen Überforderung scheitern. Gudrun B. hat Hilfe von dritter Seite in Anspruch genommen und doch erfahren, wie begrenzt diese Entlastung ist und wie schwierig zu organisieren. Die Wohnung wird zum öffentlichen Raum, in dem Gäste und Pflegekräfte ein- und ausgehen und privater Rückzug fast unmöglich wird.

Dennoch ist es wichtig, dass sich neben der Pflege immer wieder auch ein Tor zur Welt öffnet. Wer nur im Pflegeghetto bleibt, verlernt das Sprechen. Und das Lachen sowieso. Gudrun B. hat ihren Mann 17 Jahre lang gepflegt. Weil sie auf diesem schweren Weg die Selbstpflege nicht vernachlässigte, kann sie heute auf diese Jahre ohne Bitterkeit zurückblicken und gibt an andere weiter, was sie gelernt und auch als Bereicherung erfahren hat.

Und wir, denen Pflege als Schicksal bisher erspart blieb, was können wir tun? Das Tor zur Welt sein, wo immer sich das anbietet. Einen Tag, eine Stunde. Einen Abend. Es wird uns nicht überfordern.


Gisela Brackert

aus:
„Gott ist eine Frau und sie wird älter“ 88 Zusprüche
© 2007
Ulrike Helmer Verlag
Königstein/Taunus

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