Ausgabe 2 / 2012 Frauen in Bewegung von Juliane Brumberg

Porträt einer Pflegemutter

Weil sie viel Chaos in sich haben

Von Juliane Brumberg

Maria Neumann ist 49 Jahre alt und Mutter von drei eigenen und drei Pflegekindern – eine große Herausforderung für die ganze Familie.

Eine Arbeitersiedlung aus der Gründerzeit am Rande des Zentrums von Augsburg: Gärten, in denen sich neben Gemüsebeeten und Kinderschaukeln auf den nicht allzu großen Grundstücken Holzschuppen, kleinen Ställe, Lauben und Wintergärten aneinander kuscheln. Mittendrin die meist einstöckigen Häuschen. Sie sind mehr als 100 Jahre alt, jedes sieht anders aus, überall wurde ausgebaut, erweitert, verschönert. Erkennbar ist, dass hier nicht nach einem strengen Plan vorgegangen, sondern das getan wurde, was die Umstände erforderten. So wie bei der Entwicklung des Familienlebens von Maria Neumann, die in einem dieser Häuschen wohnt.

Schon von außen sind Gitarrenklänge zu hören, an einem normalen Arbeitstag öffnet mitten am Nachmittag der Vater die Tür, halbwüchsige Kinder wuseln von links nach rechts und von rechts nach links. Durch die Küche geht es in eine Art Wintergarten mit einem großen, ovalen Esstisch, an dem Maria Neumann gerade die letzten Spuren des Mittagessens beseitigt. Bevor ich mit ihr ins Gespräch komme, zeigt mir die fast achtjährige Lina ihre Hausaufgaben und ich werde vom 13jährigen Geronimo in eine Unterhaltung über seine leibliche Mutter verstrickt. Beide Pflegekinder sitzen während des Nachmittags über lange Zeit mit am Tisch, machen Hausaufgaben oder spielen mit Legos, während der 15jährige Elija auf dem benachbarten Sofa an seiner Gitarre zupft. In der Familie wird über alles offen gesprochen.

Der Gedanke an ein Pflegekind war Maria Neumann von Anfang an vertraut, ist sie doch selbst mit einem Pflegebruder aufgewachsen. Zunächst bekam die studierte Sozialarbeiterin zwei eigene Kinder: 1986 Josua und Anfang 1989 Rebekka. Die Familienplanung geriet zum ersten Mal durcheinander, als Rebekka zehn Monate alt war und Josua zweieinhalb. Eine Kollegin aus der sozialpädagogischen Familienhilfe suchte händeringend einen vorübergehenden Pflegeplatz für den 1988 geborenen Benjamin, und Maria Neumann sagte: „Ok, wir nehmen ihn, bis die Perspektive geklärt ist.“ Doch die Perspektive blieb lange unklar und Benjamin schließlich für immer in der Familie. Was folgte, waren „drei Jahre purer Stress. Es ist total schwierig, ein Kind außerhalb der natürlichen Geschwisterfolge im Alter zwischen zwei schon in der Familie lebenden Kindern aufzunehmen. Zudem war Benjamin kräftiger und größer als unser Ältester, und der hat sich nicht wehren können und wurde zerkratzt und gebissen.“

Emotionen gehen ums Überleben

Benjamin war durch schlimme Erfahrungen in seinem bisherigen kurzen Leben schwer traumatisiert und voller Aggressionen. Er hatte Verlassensängste und Panik vor Ohnmachtsgefühlen. Drei Jahre durfte keine Frau ihm körperlich nahekommen oder ihn berühren, selbst seine Pflegemutter nur, wenn er vor etwas große Angst hatte. „Der fachliche Blick hat zwar geholfen, das zu verstehen, aber die emotionale Ablehnung traf mich trotzdem tief. Ich wollte ja Mutter sein und eine Mutter-Kind-Beziehung zu ihm aufbauen und keine fachliche Beziehung.“

Schwierig war auch, dass Benjamin ein hübsches, gut angepasstes, charmantes und intelligentes Kind war. Außenstehende konnten gar nicht verstehen, warum die Neumanns manchmal so verzweifelt waren. „Seine inneren Konflikte, die hat er immer mit uns ausgefochten, im geschützten Rahmen der Familie, in dem er sich sicher fühlte. Und die Emotionen von Traumatisierten sind ja deshalb so heftig, weil es immer ums Überleben geht“, erklärt Maria Neumann.

Die Geschwister Josua und Rebekka entwickelten ihre eigenen Strategien. „Sie haben das manchmal schneller durchblickt als ich“, berichtet die Mutter. Da Benjamin immer, immer das Gefühl hatte, zu kurz zu kommen, nahm er sich, wenn eine Tafel Schokolade geteilt werden sollte, gleich die eine Hälfte, und die zweite Hälfte mussten sich die anderen Geschwister teilen. „Oder einmal hat die Oma ein Spielzeug mitgebracht und gesagt: ‚Ich hab leider nur eins, wem soll ich es geben?' Sofort antworteten die Kinder ‚dem Benjamin', denn sie wussten, wenn es ihm gehört, würde er schnell das Interesse daran verlieren und sie könnten damit spielen. Im anderen Falle aber wäre Benjamin aggressiv geworden und hätte sie ständig gestört.“ Das Zusammenleben mit dem Pflegebruder hat die Neumann-Kinder stark gemacht. „Als sich andere Eltern mal über Gewalt auf dem Schulhof aufgeregt haben, war das für unsere Kinder gar kein Problem. Sie mussten zu Hause viel mehr aushalten und hatten die Erfahrung, wie man sich wehrt und damit umgeht.“

Oder landet er im Knast?

Nach den ersten schweren Jahren folgte eine ruhigere Phase, „doch in der Pubertät ging es wieder los. Benjamin ist von der Fachoberschule geflogen, hat viel Haschisch geraucht, ist schnell aggressiv geworden. Und das Schlimmste daran ist diese Angst: Wie geht es weiter? Schafft er es oder landet er im Knast?“ Seit etwa zwei Jahren hat Maria Neumann das Gefühl, dass Benjamin sein Leben meistern kann. Gerade macht er seine Abschlussprüfung als Gerüstbauer. Vor kurzem ist er Vater geworden und kommt oft mit seinem kleinen Sohn vorbei. „Allerdings spüre ich seine große Anspannung, unbedingt ein guter Vater zu sein.“

Im letztem Jahr ist es leerer, doch nicht unbedingt ruhiger geworden im Haus der Neumanns, die drei Großen sind ausgezogen und, die frisch gebackene Pflegegroßmutter erzählt es fast etwas verlegen, Josua und Rebekka, „beide gehen auch in die sozialpädagogische Richtung“. Davor lagen einige Jahre mit sechs Kindern im Haus. Denn 1996 wurde nach sechs Jahren Pause Elija geboren, und als er vier Jahre alt war, kam im Jahr 2000 „unser einziges wirklich geplantes Pflegekind. Wir wollten nun eins unter optimalen Bedingungen.“ Aber es lief doch wieder anders. Rebekka hatte sich ein Mädchen gewünscht. Gesucht wurde jedoch eine Pflegefamilie für den zweijährigen Geronimo. Nachdem Rebekka bei einem inoffiziellen Treffen auf einem Spielplatz beobachtet hatte, dass er nicht aggressiv war und sein Sandspielzeug mit anderen Kindern teilen konnte, war sie einverstanden.

Aber auch Geronimo ist schwer traumatisiert und sein Verhalten nicht berechenbar. Nicht wegen intellektueller, sondern wegen emotionaler Defizite tut er sich in der Förderschule schwer. „Er ist wahnsinnig impulsgesteuert und macht, was ihm grad in den Sinn kommt. Zum Beispiel zündelt er, oder wir können ihn nicht allein in den Straßenverkehr lassen, weil nicht sicher ist, dass er nicht plötzlich bei Rot losläuft.“ Und dann wird Maria Neumann richtig wütend: „Ich find' es so hundsgemein mit diesen Traumatisierungen aus der ersten unbewussten Zeit und wie schwer es ist, sie wieder loszubringen. Die Kinder können nichts dafür, aber man merkt es und merkt es und merkt es immer wieder. Sie reagieren nicht erwartungsgemäß und man weiß nie, wie es ausgeht, manchmal kommt ein großer positiver Entwicklungsschub, aber manchmal kommt er nicht.“ Die Pflegemutter seufzt und es ist deutlich sichtbar, wie viel Kraft es sie kostet, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Jetzt, in der Pubertät, fällt es immer mehr auf, dass Geronimo sich nicht altersgemäß verhält und in gewisser Weise ein zu beaufsichtigendes Kind bleibt. Das ist auch nicht einfach für den 15jährigen Elija, der denkt: „Hilfe, wie führt sich der auf – und ich gehör' dazu.“ Deshalb betont er neuerdings, das Geronimo nicht sein Bruder, sondern sein Pflegebruder ist.

Besuch von der leiblichen Mutter

Anfangs war das Verhältnis zur leiblichen Mutter von Geronimo sehr entspannt. Die ‚Michi-Mama' kam regelmäßig zu Besuch, um ihren Sohn zu sehen. Dann wurde sie wieder schwanger, und 2004 kam Geronimos Halbschwester Lina auf die Welt – ein weiteres, zunächst ungeplantes Pflegekind für die Neumanns. Im Haus wurde umgebaut, die ganze Familie stand Kopf und bereitete alles vor, um später auch ja genug Zeit für das Baby zu haben. Welche Überraschung, als Lina sich als ein ganz braves Baby entpuppte, das immer nur schlief. Jetzt geht sie in die zweite Klasse und ist ein Beispiel dafür, wie unkompliziert und selbstverständlich sich Pflegekinder in eine Familie einfügen können, wenn sie von Anfang an Geborgenheit und Fürsorge erfahren. Zu Geronimos Kummer ist die leibliche Mutter der beiden so mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass sie sie lange nicht mehr gesehen haben. Lina macht das nichts aus. Sie fühlt sich ganz und gar als Kind der Neumanns.

„Das ist das, was Pflegeltern normalerweise wollen“, sagt Maria Neumann, „ein Kind und nicht die unendlichen Probleme drumherum“. Ohne ihren Mann hätte sie das alles nicht geschafft, „denn traumatisierte Pflegekinder nehmen sehr viel Harmonie, weil sie sehr viel Chaos in sich haben.“

Beide Eltern arbeiten Teilzeit und beide im sozial-pädagogischen Bereich mit Menschen, die vom Schicksal benachteiligt sind. Werner Neumann in der Asylberatung und Maria Neumann, die lange in der sozialpädagogischen Familienhilfe gearbeitet hat, ist jetzt selbständig und spezialisiert auf ambulante Jugendhilfe im Pflegekinderbereich. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ist Rückführungsbegleitung, sie kümmert sich also um Pflegekinder, die zurück in ihre Herkunftsfamilie kommen. Fachwissen und persönliche Erfahrungen ergänzen sich und kommen ihr im Beruf und im Familienalltag zu Gute. Liegt es daran, dass sie nach außen so abgeklärt, gelassen und stabil wirkt? Für Maria Neumann ist es eher der Wechsel: „Ich hätte nicht zwei so schwierige Pflegekinder haben können, wenn ich nur daheim gewesen wäre. Für mich hat der Wechsel zwischen Familie und Beruf die Situation entspannt.“ Doch wenn man sie fragt, gibt sie zu: „Manchmal sind wir auch erschöpft, sehr erschöpft sogar. Das Schwierigste ist die Unsicherheit, dieses Nicht-Wissen, ob es überhaupt was nützt, all das, was wir an Liebe und Nerven investieren“. Durch ihre berufliche Tätigkeit wissen sie, wo man Hilfe bekommt, und sie haben sich auch schon Supervision und Beratung geholt.

Geschwister können sich abgrenzen

Was sagen Freunde und Verwandte zu den Pflegekindern? „Die gehen sehr unterschiedlich damit um. Bei einem sehr nervigen Kind zeigen sie es, dass es ihnen zu anstrengend ist, zum Beispiel wenn der Geronimo alle Schubladen aufzieht. Deswegen laden wir Freunde lieber zu uns ein, das geht leichter.“ Auch die älteren Geschwister sind nur im Notfall bereit, auf Geronimo aufzupassen. „Sie würden nie sagen, was habt Ihr uns mit den Pflegegeschwistern angetan, aber sie können sich ganz gut abgrenzen und finden, dass das unsere Sache ist.“

Wie tanken die Neumanns auf? Herr Neumann fährt Mountainbike oder er betätigt sich künstlerisch in ihrem Haus an Collagen, Mosaiken in orangefarbenen Pastelltönen und aus Glasscherben zusammengesetzten Lampenschirmen. Für Maria Neumann ist Mittwoch der Tabutag, da geht sie Volleyballspielen, „und da hau ich gelegentlich auch ganz schön rein“.

Eine große Rolle spielt der Urlaub im Leben der Neumanns. „Immer fünf bis sechs Wochen: einmal ans Meer, einmal in die Berge, einmal an einen See, und wenn wir gar kein Geld mehr haben, fahren wir nach Tschechien, dort kann man sehr günstig und sehr schön Ferien machen.“ Aber auch das ist mit traumatisierten Kindern gar nicht so einfach. Jede Veränderung bringt sie durcheinander. „Deshalb blieben wir manchmal lieber im gewohnten Zelt, obwohl es eine billige Wohnung gegeben hätte und wir es dort viel bequemer gehabt hätten.“ Maria Neumann erinnert sich: „Der erste Urlaub ohne Benjamin mit damals vier Kindern war so was von lässig, weil wir nicht immer schauen und mit einem Auge in Hab-Acht-Position sein mussten.“

Und heute? „Letztes Jahr in Ligurien, in Italien, da sind auch unsere Großen gekommen und haben ihren Freund bzw. ihre Freundin mitgebracht. Wir waren zu neunt beim Zelten mit nur einem Campingkocher – und es ging wunderbar!“

Juliane Brumberg, 59 Jahre, ist verheiratet und hat vier mittlerweile erwachsene Kinder. Sie hat in München die Deutsche Journalistenschule besucht und anschließend Geschichte und Politikwissenschaft studiert und mit dem Magister Artium abgeschlossen. Sie arbeitet als freiberufliche Journalistin unter anderem für die efi (evangelische-frauen-information in Bayern) und das Internetforum:
www.bzw-weiterdenken.de.

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