Alle Ausgaben / 2014 Material von Christof Ziemer

Präsenz in der Krise

Von Christof Ziemer


6. Oktober 1989
Augenzeugenbericht: „Nordseite Prager Straße, wieder nachts, abgeriegelt durch junge Polizisten mit Helmen, Schlagstöcken, Schilden. Mehrere Meter vor ihnen Menschen mit Kerzen in den Händen. Kerzen auf dem Abfalleimer, Kerzen auf dem Boden – und der wunderschöne Gesang ‚Wachet und betet …'. Einige junge Polizisten setzten ihre Schilde nieder. Zwei oder drei schauten fragend zur Seite und taten dann das gleiche. Ein Bild des Friedens, der Ruhe. Endlich, nach den schlimmen unfassbaren Nächten. Einige Minuten oder länger? Doch plötzlich zwei Lastwagen. Ein Uniformierter stieg aus, zerschlug mit seinem Knüppel die Kerzen auf der Erde, auf dem Abfalleimer, als wollte er seine ganze Wut auslassen, riss einen andächtig sitzenden Mann hoch und schleppte ihn in das Lastauto.“

Wenn ich gefragt werde, was das Wichtigste war im Engagement der Kirche im Herbst 1989, würde ich ohne Zögern antworten: ihre Präsenz inmitten der Krise. Sicher wird man das nicht von der ganzen Kirche sagen können. Aber es gab Menschen, die einfach im Geist des Evangeliums da waren. Es gab die Gruppen, die sich seit Jahren den gesellschaftlichen Problemen verantwortlich gestellt hatten und die eine besondere Sensibilität für die kritischen Situationen bewiesen. Und es fanden sich in den Gemeinden viele, die spürten, dass im „Wachen und Beten“ der eigentliche Impuls für christliches „Krisenmanagement“ lag. Und gefährliche Situationen gab es im Herbst wahrlich genug.

In Dresden waren es zuerst jene dramatischen Tage vom 3. bis zum 8. Oktober, die mit der Schließung der Grenzen zur Tschechoslowakei begannen und mit dem ersten friedlichen Ausklang einer Demonstration zu Ende gingen und die Phase des Dialogs einleiteten. Abend für Abend Tausende vor dem Hauptbahnhof und in der Prager Straße. Gewalt der Sicherheitskräfte. Gewalt auch durch die Demonstranten. Am Anfang dominiert das Ausreiseproblem („Wir wollen raus!“), dann immer stärker der Wille zur gesellschaftlichen Veränderung („Wir bleiben hier!“). Aus den spontanen und in den Zielen ganz diffusen Menschenansammlungen entwickeln sich die Ansätze einer Bewegung, die am Abend des 8. Oktober erstmals auch Ziele formuliert. Die entscheidende Voraussetzung dafür: der doppelte Sieg der Gewaltlosigkeit, zuerst am 6. und 7. Oktober bei den Demonstranten, dann bei den Sicherheitskräften am Abend des 8. Oktober, nachdem sie am Nachmittag noch einmal zugeschlagen hatten.

Wo war die Kirche in diesen Tagen? Wo immer sie war, sie war auch präsent inmitten der Krise: in den Kerzen, in dem andächtigen Mann, der auf den Lastkraftwagen gezerrt wurde. In aller Hilflosigkeit trotzdem „irgendwie“ da zu sein – das war jetzt das Wesentliche. Einige gingen einfach mit, andere nahmen Kerzen als Zeichen der Friedfertigkeit, wieder andere versuchten, mit den jungen Bereitschaftspolizisten ins Gespräch zu kommen. Präsent zu sein, das hieß auch, unsere Häuser neu zu entdecken und anzunehmen als Orte des Asyls und der Begegnung, des Informationsaustausches und des Gebetes. So war etwa die Kreuzkirche Anlaufpunkt für Ausreisewillige, für erregte und informationshungrige Menschen, für Verunsicherte, die Begegnung und Gemeinschaft suchten, für Menschen, deren Verwandte und Freunde verhaftet worden waren und von denen jede Spur fehlte. (…)

Nahe bei den Menschen zu sein, sie zu begleiten, sich um die Opfer zu kümmern, für Gewaltlosigkeit einzutreten, das war das, was wir versuchen konnten zu tun. Das hat unsere Gottesdienste, die Andachten, die wir in der Kreuzkirche über einen Monat täglich gehalten haben, bestimmt. Das war auch die Intention aller Vermittlungsversuche, sei es auf dem Hauptbahnhof, auf der Prager Straße oder im Rathaus. Das blieb in den folgenden Wochen und Monaten (…) ein bestimmendes Element, jedenfalls in meinem Verständnis von der Rolle der Kirche. Und es gehört für mich zu den entscheidenden Weichenstellungen für die Zukunft, ob es uns gelingt, die Präsenz der Kirche in den gesellschaftlichen Konflikten nicht einfach durch eine jetzt naheliegende Präsenz in den gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen zu ersetzen.


leicht gekürzt aus:
Unser Glaube mischt sich ein …
Evangelische Kirche in der DDR 1989
Berichte, Fragen, Verdeutlichungen
hg. v. Jörg Hildebrandt und Gerhard Thomas
© Evangelische Verlagsanstalt 1990

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang