Alle Ausgaben / 2012 Material von Margret Hoppe

Psalmodie

Von Margret Hoppe

In den Psalmen spiegelt sich die Vielfalt menschlichen Lebens. Da schreien Verzweifelte und Verfolgte, jubeln und tanzen Befreite. Menschen äußern ihr Erschrecken, klagen und fluchen angesichts widerfahrenen Unrechts, ersehnen Rettung, preisen staunend die Größe und Schönheit der Schöpfung. Die ausdrucksstarke Poesie der Psalmtexte spricht Verstand und Seele gleichermaßen an. Seit jeher nicht nur gelesen und gesprochen, wurden sie im Lauf der Geschichte in vielen Stilformen vertont. Mit Psallieren und Psalmodie ist jedoch der einstimmige Gesang gemeint, der den Text jeweils auf einem bestimmten Melodiemodell rezitiert und den zwei Gruppen abwechselnd Vers für Vers singen. Diese Art des Psalmengesangs wird in den Klöstern bis heute gepflegt.

Verglichen mit Psalmvertonungen, die die starken Bilder und Affekte der Psalmtexte ausdeuten, erweckt die Praxis der wechsel-chörigen Psalmodie den Eindruck von Monotonie. Trotzdem wurde sie die bevorzugte Weise der Mönche und Nonnen, im gemeinsamen Stundengebet Tag für Tag viele und im Lauf einer Woche alle 150 Psalmen zu beten. Dabei werden die Psalmen eher aufgesagt, memoriert und meditiert als gebetet. „Meditieren“ erinnert an Übungsformen der Versenkung in fernöstlichen Religionen, an Schweigepraktiken oder an das permanente Wiederholen kurzer Mantras, was auf den ersten Blick wenig mit der Gebetspraxis der Psalmen mit ihren vielen Worten zu tun hat. Und doch gibt es Gemeinsames: der unablässig wiederholte Rezitationston, die immer wiederkehrenden melodischen Kadenzformeln, das gleichförmige Auf und Ab im Wechsel von Vers zu Vers und von Gruppe zu Gruppe und der beständige Wechsel von Klang und Stille, der wesenhaft zur Psalmodie gehört und ihr „Herz“ ist – die eigentümliche Pausa innerhalb jeden Verses, in der das Gesungene und das Gehörte Nachhall und Resonanz finden, und in der man dem Atem nachspürt. Mit ihrer „Eintönigkeit“ will die Psalmodie ein Klima der Ruhe schaffen, in dem auch der Klang der Stille und das Geschenk des Atems wahrgenommen werden können und so Hören und „Empfangen“ der Psalmworte gefördert wird.

© bei der Autorin

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