Den Sinn des Tanzes hat man auf zwei Weisen zu klären versucht: Der Mensch muss tanzen, um seiner inneren Erregung Herr zu werden; oder der tanzende Mensch glaubt, durch seinen Tanz die Götter beeinflussen zu können.
Beide Thesen wurden aufgestellt von Nützlichkeitstheoretikern, die offenbar niemals getanzt haben. Zwar ist die „Ventil-Theorie“ insofern richtig, als die innere Erregung zum Tanz drängt. Der Tanz als Gesamtphänomen ist jedoch keine mechanisch unter Druck erfolgende Entladung, sondern ein frei gewollter Akt. Der Mensch will tanzen, er muss es nicht. Er tanzt nicht, weil er erregt ist, sondern um in Erregung zu geraten.
Die Entladung einer inneren Stauung könnte sich außerdem niemals als Tanz, sondern nur als wilde, rasende, ungeordnete Bewegung kundtun. Der Tanz aber ist eben nicht nur Rausch und Ekstase, Wildheit und Taumel, sondern auch und vor allem Rhythmus, Stil, Form, Ordnung.
Tanz ist immer zugleich Auflösung und Form, Rausch und Rhythmus, Ekstase und Stil, Trunkenheit und Figur.
Es gibt keinen Tanz ohne Rausch, aber es gibt auch keinen Tanz ohne Form. Der Tanz schafft den Rausch durch die Form. Das ist sein Geheimnis und sein Wesen. Wie können Form, Rhythmus und Stil Ekstase erzeugen? Diese Frage kann nicht mit dem Verstand gelöst werden. Wir müssen bei Dichtern und Mystikern nachforschen.
Im Tanz, im religiösen Tanz vor allem, erlebt der Mensch keinen Absturz ins Nichts, sondern die Vermählung mit dem All. Das Universum aber ist Form, Harmonie, Ordnung. Tanzend vergisst der Mensch zwar seine eigene Form und Gestalt, geht aber zugleich in eine größere ein, nimmt teil an der vollendeten Harmonie und Ordnung. Die Dichter sprechen von der Harmonie der Sphären, von dem Tanz der Sterne und Engel. Der Rausch ist also nicht Vernichtung und Auslöschung, sondern – im Gegenteil – erst Entfaltung, Teilnahme an einem höheren Sein, einem größeren Gesetz. So sind Form und Rausch im Grund keine Gegensätze, sondern bedingen einander.
Weil sich im Tanz ursprünglich die höchste Sehnsucht des Menschen äußert, teilzunehmen an der höheren Form, deshalb beginnt die Kultur auch mit dem Tanz, nicht aber mit dem daseins-notwendigen Faustkeil und dem Feuer.
aus: Vom Schamanentanz zur Rumba. Die Geschichte des Gesellschaftstanzes
© Verlag Fritz Ifland Stuttgart 2/1975 (zuerst erschienen 1959)
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