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Recht behalten oder glücklich sein?

Einübung in die Gewaltfreie Kommunikation

Von Lydia Ruisch


„Mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens.“ Dieses Gebet, vermutlich das eines französischen Soldaten aus der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg, begleitet mich schon viele Jahre, weil es eines meiner größten Herzensanliegen – zu Frieden und Versöhnung beizutragen – besonders gut zum Ausdruck bringt.

Auf der Suche, wie ich das noch wirkungsvoller tun könnte, habe ich vor einigen Jahren die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) kennengelernt. Sie hat mich gelehrt, präsenter zu sein für den Augenblick, meine eigentlichen Bedürfnisse in bestimmten Situationen eher zu erkennen und mich bewusster für Verhaltensweisen zu entscheiden, die im Einklang mit diesen Bedürfnissen sind. Heute sind mein Leben und meine Beziehungen sehr viel authentischer, direkter, liebevoller und friedlicher als noch vor wenigen Jahren.

Lange habe ich Konflikte gescheut wie der Teufel das Weihwasser oder, wenn es dann doch unvermeidlich war, mich ängstlich und gestresst gefühlt. Dadurch wurden meine Beziehungen zum Teil sehr unlebendig, denn Konflikte sind ein wichtiger Bestandteil eines ehrlichen Umgangs miteinander.

Die GfK hilft mir, bei Unstimmigkeiten herauszufinden, worum es mir und meinem Gegenüber wirklich geht, und zu erkennen, dass wir beide gute Gründe für unsere Meinung oder unser Verhalten haben. Dass es nicht um Recht haben und gewinnen geht, sondern darum, einander wirklich zu verstehen, macht es leichter Lösungen zu finden, die beiden Seiten gerecht werden. Darüber hinaus kann ich Konflikte immer mehr als Chance zu Vertiefung, größerer Verbundenheit und mehr Nähe in meinen Beziehungen begreifen. Ich bin zutiefst dankbar dafür, wie der Prozess der Gewaltfreien Kommunikation mich zu einer friedvolleren Lebensweise geführt hat – und ich will Sie neugierig machen auf diesen Weg des Friedens.

Hinweis für die Leiterin: Der folgende Beitrag kann in der Gruppe referiert oder auch einfach vorgelesen werden (Zeit: ca. 20 Minuten). Nach dem folgenden Einstiegs-Impuls ist er noch einmal durch einen Gesprächsimpuls unterbrochen und schließlich durch Impulsfragen zum Gespräch abgerundet.
Es ist hilfreich, den Teilnehmerinnen die Impulsfragen auch schriftlich anzubieten – entweder groß und für alle lesbar auf ein Flipchart geschrieben oder in Kopie. – Kopiervorlage für AbonnentInnen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet

Impuls zum Nachdenken und Einstiegs-Gespräch: Gewaltfreie Kommunikation – wie hört sich das für Sie an? Gibt es gewaltvolle Kommunikation? Was hat Sprache mit Gewalt zu tun?

Gewaltfreie Kommunikation

Die „Gewaltfreie Kommunikation“ wird auch einfühlsame oder verbindende Kommunikation genannt. Ihr Erfinder, Marshall Rosenberg, wollte damit ausdrücken, dass Sprache sehr wohl gewaltvoll sein kann, dass genau genommen alle Gewalt ihren Anfang im Denken und Sprechen nimmt.(1)
Es gibt ein Denken und Sprechen, das mit Urteilen wie richtig oder falsch die Verbindung zwischen Menschen unterbricht und dazu führt, dass wir uns von dem oder der anderen entfremden. Diese Sprache nennt Rosenberg „lebensentfremdend“. Dagegen setzt er eine Sprache, die ganz persönlich ist und vom eigenen Herzen kommt. Die GfK zeigt einen Weg, der die Wahl ermöglicht, ob wir uns mitteilen mit Worten, die trennen, vergleichen, urteilen, analysieren und verdammen – oder mit Worten, die verbinden, versöhnen, vorschlagen und anregen. Für die GfK ist die VBolderbesserung der Qualität unserer Beziehungen ein wesentliches Ziel. Tatsächlich hat diese Verbindung mit uns selbst und mit anderen Menschen eine höhere Priorität als recht zu haben, zu gewinnen, mehr Geld zu verdienen oder vor anderen Menschen gut da zu stehen.

Impuls zum Innehalten und Nachspüren: Erinnern Sie sich an Momente, in denen Sie lieber gewinnen oder Recht haben wollten, statt in Verbindung zu bleiben. Konzentrieren Sie sich dann auf die Verbindung mit anderen und spüren Sie nach, ob das etwas an Ihrem Verhalten geändert hätte.

Grundannahmen
Die GfK ist weniger eine Technik, vielmehr basiert sie auf einer grundsätzlichen Haltung dem Leben gegenüber. Dahinter steht die Überzeugung,
– dass es in der Natur eines jeden Menschen liegt, aus Freude heraus zu geben;
– dass alle Menschen die gleichen Bedürfnisse haben, nur unterschiedliche Wege wählen, diese zu erfüllen;
– dass jedes Bedürfnis wertgeschätzt werden darf – und dem Leben dient;
– dass all unsere Handlungen ein bewusster oder unbewusster Ausdruck unserer Bedürfnisse sind.

Die Geschichte vom singenden Drachen
Anhand der Geschichte vom singenden Drachen und der Ausführungen dazu wird dies deutlicher.(2)  „Evelyne Reberg, eine französische Autorin, erzählt in einem ihrer Kinderbücher von einem Drachen, der in ein Dorf einzieht und schon bald die Dorfbewohner mit seinem nicht enden wollenden Gesang so sehr stört, dass sie nachts nicht mehr schlafen können. Verzweifelt versuchen die Dorfbewohner zunächst, den Drachen zum Schweigen zu bringen, indem sie ihm eine gewaltige Menge Kartoffelbrei kochen, in der Hoffnung, er möge daran ersticken. Als dies nicht gelingt, versuchen sie ihn unter einer Glocke einzuschließen, und nachdem auch diese List missglückt, bieten sie ihm ausreichend Wein an – natürlich nicht aus Gastfreundschaft, sondern mit dem Hintergedanken, ihn auf diese Weise einschläfern zu können. Aber auch dieser Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen, ist vergeblich. Erst als ein kleines Mädchen die einfache Idee hat, den Drachen zu bitten, mit dem Singen aufzuhören, weil sonst niemand im Dorf schlafen kann, hat es mit dem Gesang ein Ende und die erstaunten Dorfbewohner finden wieder ihre Ruhe.“

Diese Geschichte ist ein schönes Beispiel für Gewaltfreie Kommunikation. Sie soll dazu dienen, das gegenseitige Einfühlungsvermögen in Konfliktsituationen zu erhöhen, um so eine Lösung zu finden, die den Bedürfnissen aller Konfliktparteien gerecht wird, bevor die Lösung mit dem „Knüppel“ gewählt wird.

Vier Prinzipien der GfK
Hinweis für die Leiterin: Es ist hilfreich für die Gruppe, wenn Sie die folgenden zentralen Begriffe (Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte) groß auf je ein A-4-Blatt schreiben und an den entsprechenden Stellen des Vortrags in die Mitte legen. Zusätzlich können Sie die Begriffe verteilt auf ein Blatt schreiben und dieses für jede Teilnehmerin kopieren, so dass die Frauen sich ein paar Notizen dazu machen können. – Kopiervorlage ebenfalls zum Herunterladen vorbereitet

Beobachtung: Teile dem/der anderen mit, was du beobachtet hast.
Wenn Du durch das Verhalten einer/eines anderen irritiert bist, dann beschreibe zunächst – nicht vorwurfsvoll und nicht wertend – das Verhalten, das dich irritiert, und die konkrete Situation, in der es aufgetreten ist: „Hallo Drache, die letzten zwei Nächte hast du so laut gesungen, dass es im ganzen Dorf zu hören war und wir alle nicht schlafen konnten.“

Gefühl:
Teile der/dem anderen mit, was du empfunden hast.
Beschreibe dann, wie es Dir persönlich damit geht bzw., was das Verhalten und dessen Konsequenzen in Dir an Gefühlen auslöst: „Wenn ich nachts wegen Deines Gesangs nicht schlafen kann, werde ich gereizt und fühle mich am nächsten Tag erschöpft und übermüdet. Ich merke, dass ich richtig ärgerlich auf dich werde.“

Bedürfnis: Teile dem/der anderen mit, was dein Bedürfnis ist.
Informiere anschließend den anderen oder die andere über dein Bedürfnis, das durch sein/ihr Verhalten nicht genügend berücksichtigt wird bzw. unerfüllt bleibt: „Ich muss nachts ausreichend lange schlafen können, damit ich mich am nächsten Tag frisch und ausgeruht fühle und guter Laune bin.“

Bitte: Teile der/dem anderen mit, was du dir wünschst.
Lass sie oder ihn wissen, was Du Dir aufgrund Deiner Bedürfnisse von dem oder der anderen wünschst. „Ich wünsche mir, dass du nachts nicht mehr singst, damit ich mal wieder schlafen kann.“

In einer wirklichen Konfliktsituation wird natürlich selten so sortiert gesprochen. Stattdessen wird all diese Information zu einem einzigen allgemeinen Vorwurf verdichtet: „Immer musst du singen!“. Die konkrete Situation wird durch Verallgemeinerungen vernebelt: „immer…, nie…“. Das eigene Empfinden drückt sich eher indirekt in einem vorwurfsvollen Unterton, dem bösen Blick, der gereizten Stimmlage und der abwertenden Wortwahl aus: „Ich kann deinen Gesang nicht mehr ertragen! Dieses Gekrächze jede Nacht. Das hält ja kein Mensch aus!“ Die Enttäuschung, die Verletzung, das Bedürfnis darunter wird jedoch häufig verschwiegen: „Ich fühle mich wie gerädert, kraftlos, erschöpft.“

Anstatt eines klar geäußerten Wunsches – „Sing doch bitte nicht mehr nachts, damit wir wieder zu unserem Schlaf kommen.“ – wird geschimpft, gedroht, gejammert, mit Dritten über den Drachen gelästert, ohne ihn selbst zu informieren, und diagnostiziert: „Der hat nie gelernt, auf andere Rücksicht zu nehmen. Was für ein Egoist!“ Oder: „Der macht das nur, um uns zu ärgern!“ Jetzt mögen Sie vielleicht denken: Das mit der Gewaltfreien Kommunikation mag ja im Märchen funktionieren, aber ich kenne Drachen, die singen dann trotzdem weiter. Das kann durchaus sein – manchmal liegt es daran, dass zwar in den Worten scheinbar die vier Prinzipien befolgt wurden, der Wunsch dem anderen jedoch so vorwurfsvoll entgegen geschleudert wird, dass er eine ähnlich einladende Wirkung hat wie ein kunstvoll geschwungener Knüppel. Unsere wahre Haltung zeigt sich häufig in unserer eigenen Reaktion darauf, wenn unserem dringlichen Wunsch nicht Folge geleistet wird. Reagieren wir beleidigt, ärgerlich oder eingeschnappt, dann war es kein Wunsch, sondern eine Forderung oder gar ein Befehl, den wir nur als Wunsch verkleidet haben. Es gibt noch andere Varianten, mit denen man die an sich kraftvolle Wirkung dieser Prinzipien zunichtemachen kann, etwa Lamentieren, um Mitleid zu wecken: „Siehst du denn nicht, wie ich leide, wenn du immer so singst?“

Stattdessen wäre aufrecht und aufrichtig mit der Klärung zu beginnen: „Ich will schlafen, Du willst es lebendig, was können wir tun, damit wir beide zu dem kommen, was wir brauchen?“ Damit solch eine Klärung Früchte tragen kann, braucht es auch einen geraden Rücken, der nur dann wirklich gerade ist, wenn ich selbstbewusst mich und dich respektiere, auch wenn dein Verhalten gerade Anlass für Irritation ist.

Der nächste Schritt: Zuhören
Die vier Prinzipien in der Kommunikation sind erst der halbe Weg zu einem neuen Miteinander. Die zweite Hälfte ist wertschätzendes Zuhören und Erkundigen – sofern man/frau dazu noch in der Lage ist. Denn je größer der Ärger, auf dem ich bereits sitze, desto vergifteter bin ich innerlich, und wenn ich dann den Mund aufmache, spucke ich notgedrungen erst einmal „Gift und Galle“. Deshalb sollten Irritationen so früh wie möglich angesprochen werden. Das Mädchen könnte – nachdem es deutlich die Situation, sein Empfinden, sein Bedürfnis und seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht hat – zum Beispiel den Drachen fragen: „Warum willst Du denn die ganze Nacht singen?“ Wir können natürlich nicht darauf zählen, dass die Drachen dieser Welt die Gewaltfreie Kommunikation von Rosenberg schon kennen und schätzen gelernt haben. Deshalb würde er vielleicht erwidern: „Ach, ihr langweiligen Dorfbewohner, kaum bringt man etwas Leben in euer verschlafenes Dorf, regt ihr euch schon auf!“ Da würde es vermutlich auch wenig bringen, ihn darüber zu unterrichten mit der Bitte, sein Anliegen nochmals gewaltfrei zu formulieren. Aber wir können durch wertschätzendes Nachfragen und Zuhören beim Sortieren und Konkretisieren helfen: „Du hättest es also gerne nachts (Situation) lebendiger (Bedürfnis) und würdest deshalb gerne singen (Verhalten)?“ – „Genau, und noch schöner wäre, du würdest auch mitsingen!“

Win-Win-Lösungen anstreben
Wichtig ist, dass die empfohlenen Prinzipien nicht als Trick angewendet werden, sondern mit wirklichem Interesse an den zugrunde liegenden Bedürfnissen des oder der anderen, auch wenn die Art, wie er oder sie derzeit den eigenen Bedürfnissen nachgeht, für mich irritierend ist. Die Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation bieten keine Garantie, dass sich das Verhalten des oder der anderen ändert. Sie erhöhen aber nach meiner Erfahrung die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine gemeinsame Lösung finden – und zwar dann, wenn es uns gelingt, respektvoll über die dahinterliegenden Bedürfnisse eines/einer jeden zu sprechen, anstatt einander unsere Verhaltensweisen vorzuwerfen und den anderen mit einer Diagnose abzustempeln.

Impuls zum Austausch in 2-er oder 3-er-Gruppen und anschließender Großgruppe:
– Geht es Ihnen oftmals ebenso wie dem Drachen – oder eher wie den Dorfbe-wohnern?
– Kommt Ihnen das eine oder andere Kommunikationsmuster bekannt vor?
– Hätten Sie Interesse, mehr darüber zu lernen, wie Sie die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wertschätzend vertreten und besser in Kontakt mit den Bedürfnissen Ihrer Mitmenschen kommen können? Will sagen: Haben Sie Lust, sich weiter mit der Gewaltfreien Kommunikation auseinanderzusetzen?

Hinweis für die Leiterin: Sicher tauchen beim Austausch der Gruppe Fragen auf. Schreiben Sie auf, was Ihnen noch unklar ist. Wenn die Gruppe an Weiterarbeit interessiert ist, schauen Sie auf www.gewaltfrei.de nach einer/einem TrainerIn in Ihrer Nähe und laden Sie sie/ihn zu einem Abend oder Nachmittag ein, um zu hören, wie sich die „lebendige, gesprochene Sprache der gfk“ anhört. Es lohnt sich!

Zudem finden Sie dort auch zahlreiche Informationen, Übungen, Kursangebote und Literaturhinweise. Eine kleine Auswahl an einführender Literatur habe ich zusammengestellt.

Mittlerweile hat sich die GfK in der ganzen Welt verbreitet und wird eingesetzt, um bei Auseinandersetzungen und Konflikten zu vermitteln. Marshall Rosenberg selber reist seit Jahrzehnten in viele Krisen- und Konfliktgebiete und sagt: „Wenn es den Konfliktparteien gelingt, die Bedürfnisse Ihres Gegenübers wirklich zu hören, ist die Lösung nicht mehr weit.“

Lydia Ruisch, Jg. 1966, ist Buchhändlerin und arbeitet in ihrem erlernten Beruf in Stuttgart. Ehrenamtlich ist sie Vorsitzende des Bundes Altkatholischer Frauen (baf). Sie hat mehrere Ausbildungsgänge in Gewaltfreier Kommunikation absolviert und leitet eine Übungsgruppe.

Zum Weiterlesen
Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des Lebens, Junfermann Verlag
Rosenberg/Seils
: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, Herder Spektrum
Serena Rust
: Wenn die Giraffe mit dem Wolf tanzt, Koha Verlag
Mary Mackenzie
: In Frieden leben. Tägliche Meditationen für ein Leben voller Liebe, Heilung und Mitgefühl, Junfermann Verlag

Anmerkungen:
1 Marshall B. Rosenberg wurde international bekannt als Konfliktmediator und Gründer des interationalen Center for Nonviolent Communication in den USA. In den letzen 30 Jahren hat er die GfK in mehr als 20 Ländern weitergegeben.
2
Quelle: Aufsatz von Ingo Heyn, zitiert nach: www.ingo-heyn.de/geschenk/leserbrief_5/g_lb_nr_x.php

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