Alle Ausgaben / 2004 Artikel von Ute Clemens und Annedore Wendebourg

Rechter Glaube

Von der Freiheit eines Christenmenschen und ihren Grenzen

Von Ute Clemens und Annedore Wendebourg

 

Eines der wichtigsten reformatorischen Anliegen Martin Luthers war die „Freiheit des Christenmenschen“. Fußend auf Paulus bestand er – entgegen der Lehre der damaligen Kirche – auf der Freiheit, die dem Menschen dadurch gegeben ist, dass er sich nicht durch gute Werke, religiöse Zeremonien oder Einhaltung von Gesetzen die Seligkeit verdienen muss, weil er aus Gnade bereits gerechtfertigt ist. Gegen ein libertinistisches Missverständnis betont Luther jedoch die Liebe zu Gott und zum Nächsten als Grenze dieser Freiheit bzw. als den weltlichen Ort, an dem sich die Freiheit bewähren muss.

Im Folgenden finden Sie Bausteine für einen Nachmittag, einen Abend oder – mit Pausen – für einen Tag zum Thema „Freiheit des Glaubens und ihre Grenzen“. Wir verstehen die Vorschläge als Steinbruch, aus dem die Leiterin auswählen und eigene Schwerpunkte setzen kann.

Ziel:
1.  
Die Frauen entdecken, dass Freiheit zu den Grundwerten der Bibel gehört und Gott schon im Ersten Testament als der bekannt wird, der in die Freiheit führt (5. Mose 6,20-21), und dass auch Jesus seine Sendung als befreiendes Handeln versteht (Lk 4,16-21).

2.  Sie beleuchten ihren eigenen Glauben und ihre Grundsätze auf dem Hintergrund dieser Freiheit.

3.  Sie lernen, dass biblische Freiheit nicht Beliebigkeit (1 Kor 6,12) meint, und erkennen die Liebe als Kriterium, um für ihr eigenes Handeln und Entscheiden die Grenzen der von Gott geschenkten Freiheit auszuloten (Gal 5,13).

Material: ein Stück Stacheldraht; Bild, auf dem ein Vogel im Flug zu sehen ist (oder ein anderes Bild, das „Freiheit“ ausdrückt); Bibeln; Schreibpapier, Stifte, Klebstoff, Scheren; Wandtafel oder ähnliches; Texte (siehe unten, S. 63–66); vorbereitete Karten; ggf. Schmuckstifte, Glitter, Illustrierte etc.

Baustein 1: Einstieg (15 Min.)

Die Leiterin legt für alle sichtbar ein Stück Stacheldraht und ein Freiheitsbild in die Mitte. Wenn die Frauen nicht von selbst darauf reagieren, werden sie dazu aufgefordert.
Wenn die Worte „Freiheit“ und „Einengung, Begrenzung, Grenze“ gefallen sind, suchen die Frauen eigene Bilder zu diesen Oberbegriffen (z.B.: Berge, Wolken, Segeltour; Mauer, Gitter). Diese werden auf Tafel, Flipchart o.ä. festgehalten.

Baustein 2: Einführung in das Thema (20 Min.)

Anschließend werden die Frauen gebeten zu überlegen, unter welchem der Oberbegriffe sie das Wort „Glauben“ einordnen würden. Welche der genannten Bilder lassen sich am ehesten mit „Glauben“ in Verbindung bringen? (Damit die Frauen ermutigt werden, auch über bedrohliche, einengende Glaubenserfahrungen zu sprechen, sollten bei großen Gruppen „Murmelgruppen“ von drei bis fünf Teilnehmerinnen gebildet werden.)

Baustein 3: Überleitung zur Arbeit mit biblischen Texten (15 Min.)

Lesung 5. Mose (Dtn) 6,20-21 oder Ps 124 oder Lk 4,16-21; falls mehrere gelesen werden, bittet die Leiterin drei Frauen, diese Stellen zu lesen.
Impuls: „Welche anderen Bibelstellen, Bibelgeschichten fallen Ihnen ein, in denen Glaube mit Freiheit in Verbindung gebracht wird?“

Baustein 4: Bibelarbeit zu Apg 16,16-18 (45 Min.)

Vorüberlegung: Der Kontext der Geschichte um die Magd mit dem Wahrsagegeist erzählt ebenfalls von Freiheit bzw. Unfreiheit. Vorheriger Text ist die Bekehrung der Purpurhändlerin Lydia. Lydia als unabhängige, vermögende Frau hat die Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie möchte, sich ihren Glauben zu wählen. Der Text danach: Paulus und Silas werden vor Stadtrichter angeklagt, geschlagen, ins Gefängnis geworfen und verlieren so ihre äußere Freiheit.

Die Magd muss ihren Wahrsagegeist für andere arbeiten lassen, ist nicht Herrin ihrer selbst; ihr Name wird – anders als der Name der Besitzenden, Lydia – nicht überliefert. Sie hat auch Paulus nicht um „Befreiung“ gebeten. Aus Überdruss nimmt er den Wahrsagegeist von ihr. Die Magd ernährt mehrere „Herren“ – typische Situation: eine Frau versorgt mehrere Männer. Diese Magd wird praktisch und lebenstüchtig gewesen sein.

Ein anderes Thema des Textes ist Freiheit und Wirtschaft / Freiheit und Geld. Geld ist derzeit das Lieblingsthema bei „Kirchens“. Sparzwänge lassen bei manchen Katastrophenstimmung aufkommen. Die Frage stellt sich: Wie wird es mit Kirche weitergehen? Wird es überhaupt mit Kirche weitergehen?

Bibelarbeit: Nachdem der Bibeltext gelesen wurde, werden die Frauen dazu angeregt, sich in die Magd hinein zu versetzen: Was dachte sie wohl nach der „Befreiung“ vom Geist? Wurde sie entlassen, weil sie für ihre Besitzer wertlos geworden war? War sie froh? Von beidem etwas? Was hat sie mit ihrer neuen Freiheit angefangen? Welche Freiheit gibt es für die Magd? Freiheit wovon und wozu? Als Kontrast dazu: Welche neue Freiheit hat wohl Lydia im christlichen Glauben entdeckt? Anschließend werden die Frauen gebeten (zu zweit oder jede für sich) aus Sicht der Magd einen Brief an Paulus im Gefängnis zu schreiben. Die Briefe können in der Gruppe vorgelesen werden; sie eignen sich u.U. auch, um einen Gottesdienst zu gestalten.

Baustein 5: Rollenspiel (1–1,5 Std.)

Ein Gespräch zwischen der Magd und Lydia wäre reizvoll als biblisches Rollenspiel. Wer einige Erfahrungen mit Bibliodrama oder biblischem Rollenspiel hat, wird diese Einheit ohne Probleme anleiten können.
Dazu lässt die Leiterin der Kleingruppe die Frauen zunächst auf eine innere Reise gehen. Sie schließen am besten die Augen. Die Leiterin beschreibt eine Szene am Fluss bei der Stadt Philippi, wo sich die Gottesfürchtigen zu treffen pflegen, lässt die Teilnehmerinnen dabei aber ihre eigene Phantasie entwickeln; z.B.: „Sie gehen an den Fluss. Ist es Abend oder Morgen? Wie riecht die Luft? Sind Geräusche aus der Stadt zu vernehmen? Sind da noch andere Personen? Welche Kleidung tragen sie? …“ (Zwischen den einzelnen Impulsen unbedingt Zeit lassen!)
Wenn die Frauen wieder in die Jetzt-Zeit zurückgekehrt sind, können einige ein biblisches Rollenspiel beginnen. (Ein Zeichen für den Beginn und das Ende des Spiels verabreden!) Die Leiterin fragt: „Wer möchte die Magd sein?“ und an die Freiwillige gewendet: „Wie heißt du? Wo bist du genau? Triffst du andere?“ Die Darstellerin wird im Kreis der Frauen umhergeführt. „Wer möchte die Lydia sein? Wer möchte evtl. weitere Anwesende darstellen?“
Das Spiel entwickelt sich je nach inneren Impulsen der Spielenden. Hat die Leiterin das Gefühl, für die Protagonistin ist ein Aha-Erlebnis erreicht worden, bricht sie das Spiel ab und leitet ein Gespräch mit Spielerinnen und Zuschauerinnen ein: Was haben sie erlebt?

Baustein 6: Gruppenarbeit mit Texten (45 Min.)

Impuls der Leiterin: „Ein Bibelwort zur Freiheit steht im 1. Korintherbrief gleich zweimal: ‚Alles ist euch erlaubt'. Was halten Sie davon? Ist im Glauben alles erlaubt?“ (1)
alternativ Luthers paradoxe Doppelthese: „Der Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.“ „Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Nachdem sich die Teilnehmerinnen kurz spontan geäußert haben, werden sie in Kleingruppen aufgeteilt und bekommen zusammen mit einem der Texte (siehe die Arbeitsmaterialien am Ende dieses Beitrages) folgenden Auftrag: Lesen Sie den Text und diskutieren Sie darüber. Beobachten Sie sich selbst dabei aufmerksam: Was sind die Hintergründe bei mir, dass ich so oder so argumentiere? Nach welchem Kriterium setze ich der Freiheit Grenzen?
1. Gruppe: Grenzen des Glaubens bei anderen
Text: Christen mit festen Glaubensdogmen verlangen von anderen, als Erweis ihres Christseins diese Dogmen zu übernehmen.
2. Gruppe: Grenzen des Glaubens bei mir
Text: Die Erzählerin berichtet von der Begegnung mit einer Frau, die sich als Christin versteht, aber an Reinkarnation, Horoskope o.ä. glaubt
3. Gruppe: Ethische Grenzen der Freiheit
Text: Euthanasie (alternativ mgl.: Beispiel aus dem Bereich Gentechnik, z.B.: Blueprint – Blaupause, in: ahzw 3-2002, S. 48f)
4. Gruppe: Theologische Grenze der Freiheit
Text: Martin Luther
5. Gruppe: Grenzen der Toleranz
Text: Günther Anders (Wichtig zu wissen: Anders versteht sich als Atheist!)

Im anschließenden Plenum berichten die Gruppen von ihrem jeweiligen Text, ihren Diskussionen, Ergebnissen und, wenn möglich, den Erfahrungen, die die Teilnehmerinnen mit sich selbst gemacht haben.

Baustein 7: Abschluss (10 Min.)

Schlusskreis; wenn in der Gruppe üblich, bietet es sich an zu singen. Jede bekommt ein Schmuckblatt oder eine Karte mit einem Bibel- oder Dichterwort, welches Freiheit und Liebe zusammenbringt.

alternativ (30 Min.): Falls mehr Zeit ist, kann den Frauen Material zur Verfügung gestellt werden (Karten aus Karton, Stifte, Glitter, Federn, Illustrierte o.ä.), um selbst solche Karten zu gestalten, die sie zum Abschied einander schenken.

Lieder: Herr, deine Liebe (EG Rheinl./Westf./Lippe 663); Im Lande der Knechtschaft (ebd. 680); Die ganze Welt hast du uns überlassen (EG 360)

Arbeitsmaterial für die Gruppen

Arbeitsmaterial 1. Gruppe:
Im Urlaub verbrachten wir einige Tage im Gästehaus einer katholischen Schwesternschaft. Gewohnt, sonntags einen Gottesdienst zu besuchen, fragten wir die Schwestern, ob wir als Protestantinnen an ihrer Messe und der Eucharistie teilnehmen dürften. Das sei kein Problem, antworteten sie. Wir freuten uns – aber zu früh. Als wir uns am Sonntag in der Hauskapelle einfanden, kam der Priester auf uns zu, stellte sich vor und äußerte seine Freude darüber, dass wir die eucharistische Gastfreundschaft genießen wollten. Wir möchten nur bitte vorher dieses Papier unterschreiben. Sprach's und reichte uns ein Din A 4-Blatt. Unter der Überschrift „Bekenntnis meines Glaubens“ standen dort zunächst die Sätze des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, die wir sofort unterschrieben hätten, wenngleich wir uns nicht vorstellen konnten, dass Jesus die Einladung an seinen Tisch mit dieser Bedingung verknüpft hätte. Der Text ging aber noch weiter. Es folgten Sätze wie: „Ich glaube, dass in der Wandlung bei der Kommunion das Brot sich  ahrhaft in Christi Leib und der Wein wahrhaft in Christi Blut verwandelt.“ – „Ich glaube, dass die Mutter Gottes wahrhaft Jungfrau ist, vor, während und nach der Geburt.“ Beim Lesen dieser Sätze war mir, als wolle mir jemand den Hals zuschnüren. Meiner Freundin ging es ähnlich. Es war nicht das erste Mal, dass wir an einer katholischen Messe teilnahmen, auch mit Wissen des jeweiligen Priesters. Immer hatten wir uns wirklich eingeladen gefühlt. Jetzt aber schien vor der Kirchentür ein großes Schild angebracht zu sein: „Nur wer richtig glaubt, ist willkommen.“ Und offenbar glaubten wir nicht richtig. Sehr traurig verließen wir die Kapelle. Doch draußen in der frischen Luft fühlten wir uns wie befreit.

Arbeitsmaterial 2. Gruppe:
Beim Kirchenkaffee nach dem Gottesdienst saß ich mit einer Frau mittleren Alters zusammen. Sie war aktive Mitarbeiterin in der Gemeinde, gab ehrenamtlich Konfirmandenunterricht. Wir sprachen über Gott und die Welt. Schließlich waren wir beim Thema Tod und Sterben angelangt.
„Hast du Angst vor dem Tod?“ – „Nein, vor dem Tod nicht, nur vor dem Sterben, vor langem Leiden, vor unerträglichen Schmerzen.“ – „Geht mir auch so. Der Tod schreckt mich nicht. Er hat ja nicht das letzte Wort. Wie gut, dass wir Christen eine Hoffnung haben.“ Wir nickten beide.
Und dann wäre mir fast die Kaffeetasse aus der Hand gefallen. „Ich bin gespannt, wer ich sein werde im nächsten Leben,“ sinnierte sie. „Ich habe in Hypnose eine Rückführung gemacht: Im letzten Leben war ich ein Dienstmädchen in Paris zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten.“ „Wie bitte?“, stammelte ich fassungslos. „Du glaubst doch nicht etwa an Wiedergeburt?“ „Ja sicher, du etwa nicht?“ war die entschiedene Antwort. „Natürlich nicht!“ erboste ich mich. „Ich bin doch Christin!“ „Na und? Ich doch auch. Warum soll ich als Christin nicht an Wiedergeburt glauben?“ – „Weil das der Glaube der Hindus und Buddhisten ist! Wir Christen glauben nicht an Wiedergeburt, sondern an das ewige Leben.“ „Ja klar, das ist doch das ewige Leben, dass wir immer wiedergeboren werden,“ antwortete sie völlig unerschüttert.
Ich war um so erschütterter. „Sag mal, bringst du so etwas etwa auch deinen Konfirmanden bei? Das ist nicht unser christlicher Glaube! Da gibt es ein ewiges Leben nach dem Tod im Himmel bei Gott.“ „Das ist eine Theorie in der Bibel. Da gibt es aber viel mehr, unter anderem die Wiedergeburt. Und die ist mir die einleuchtendste“, beharrte sie. „Die Bibelstelle zeig mir mal! Das kann nur ein Übersetzungsfehler sein.“
Ich war richtig wütend. Wir waren mittlerweile die letzten im Gemeinderaum. Der Kaffeedienst begann aufzuräumen. Irgendwie schafften wir es, einigermaßen freundschaftlich auseinander zu gehen: „Da hatten wir ja ein richtig interessantes Thema heute.“ Doch so leicht ließ mich das Gespräch nicht los. Noch wochenlang überlegte ich, ob ich nicht unserem Pastor Meldung machen müsste. Ich tat es nicht. Schließlich soll jeder nach seiner Fasson selig werden. Und beim Konfirmandenunterricht wird der Pastor ja wohl das letzte Wort haben…

Arbeitsmaterial 3. Gruppe:
Die Textauszüge stammen aus einer Debatte in der kirchlichen Talkshow „Tacheles“, an der u.a. Christoph Beyer und der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD Manfred Kock teilnahmen. Der Theologe Christopher Beyer stand seiner Mutter bei, die als erste Deutsche in der Schweiz Sterbehilfe suchte. Sie wollte den Tod als Erlösung aus schwerem Krebsleiden. Ihr letzter Satz war: „Ist es nicht wunderbar, so zu sterben?“

Herr Beyer, Ihre Mutter war unheilbar krank, litt an Unterleibskrebs. Was war für Ihre Mutter das Schlimmste an diesem Zustand?
Beyer: Das Schlimmste war die Erinnerung an ihre eigene Mutter, weil auch sie an Unterleibskrebs gestorben ist. Ich kann mich noch heute an eine Szene erinnern, ich war damals acht Jahre alt, wo meine Großmutter gesagt hat, holt eine Axt und schlagt mich tot. Weil es damals noch kaum Schmerzbehandlung gab. Meine Mutter hatte das gleiche Schicksal, und für sie war das Schlimmste dieser Prozess, sich selbst aufzulösen. Wenn sie auf die Toilette ging, kam nur noch eine Gewebebrühe heraus, verbunden mit schlimmen Gerüchen. Sie war austherapiert im klassischen medizinischen Sinne, danach wollte sie den freigewählten Tod.
Sie sind gelernter Theologe. Sahen Sie sich im Konflikt mit dem biblischen Gebot „Du sollst nicht töten“?
Beyer:
Nein, es war für mich kein Töten aus niedrigen Motiven. Es war eine Hilfeleistung.
Kock: Wir sprechen ja bei der Selbsttötung oft von Selbstmord, und ich halte das nicht in jedem Fall für gerechtfertigt. Ich glaube, dass Menschen nicht verurteilt oder beurteilt werden können. Das ist nicht nur bei einer tödlichen Krankheit so. Ich möchte nur nicht selber dazu beitragen und dazu helfen. Diese Entscheidung muss von einem Menschen ganz persönlich getroffen werden, dann kann ich sie respektieren. … Aber die Verlockung eines Gnadentodes ist ja nicht nur da, wenn einer selber nicht mehr will, sondern wenn die Menschen drum herum das Leiden nicht mehr ertragen können. … Ich habe Angst vor einer Vision der straffreien Tötung auf Verlangen, weil unsere Gesellschaft dafür nicht genug von humanen Grundsätzen getragen ist. Wenn Angehörige es nicht mehr ertragen können, wessen Leid wird da bedauert? Viele Mensch stehen unter dem Druck, nicht mehr erwünscht zu sein. Es hätte fatale Folgen, diesem Druck nachzugeben.
Beyer: Mein christliches Gewissen hat nicht gesprochen, was die Sterbehilfe für meine Mutter anging. In der Bibel gibt es keine Texte zur Sterbehilfe. Der Tod ist der Feind und eine ziemlich liederliche, schmerzhafte Sache. Der Tod lässt sich nicht managen. Es ist eine Illusion, dass man wegdämmert und noch ein paar schöne Gespräche führt.

Talkshow „Tacheles“ am 20. März 2001 in der Marktkirche Hannover, entnommen: www.tacheles.net/archiv 

Arbeitsmaterial 4. Gruppe:
Deshalb soll ein Christenmensch mitten hindurchgehen und sich jene beiden Arten von Menschen vor Augen halten. Entweder nämlich treten ihm hartnäckige, verhärtete Zeremonienmenschen entgegen, die wie taube Nattern die Wahrheit von der Freiheit nicht hören wollen, sondern ihre Zeremonien gleichsam als Rechtfertigungsmöglichkeiten rühmen, gebieten und betonen ohne den Glauben, wie einst die Juden, die nicht verstehen wollten, wie sie gut handeln sollten. Diesen muss man widerstehen, ihnen gegenüber muss man das Gegenteil tun und ihnen tapfer ein Ärgernis geben, damit sie nicht durch jene gottlose Meinung sehr viele in die Irre führen. Vor deren Augen ist es förderlich, Fleisch zu essen, Fasten zu brechen und andere Dinge für die Freiheit des Glaubens zu tun, die sie für die größten Sünden halten. (…) Oder es treten ihm Einfältige, Ungebildete, Unwissende und, wie der Apostel sie nennt, Schwache im Glauben (Röm 14,1) entgegen, die jene Freiheit des Glaubens noch nicht fassen können, selbst wenn sie es wollten.  iese soll man schonen, damit sie nicht verletzt werden, und man soll es ihrer Schwachheit zugute halten, bis sie ausreichender unterrichtet sind. Denn weil diese nicht aus verhärteter Bosheit so handeln und denken, sondern allein aus der Schwäche des Glaubens, so soll man, um Ärgernis gegen sie zu vermeiden, das Fasten und andere Dinge bewahren, die diese für nötig erachten. Denn dies fordert die Liebe, die niemand verletzt, sondern allen dient.

Martin Luther, „Tractatus de libertate christiana“ 1520, Übersetzung: Karl-Heinz zur Mühlen, in: Martin Luther, Freiheit und Lebensgestaltung. Ausgewählte Texte, Göttingen 1983, S. 70

Arbeitsmaterial 5. Gruppe:
Seit Jahrzehnten zum ersten Male wieder Lessings ,Ringparabel' gelesen. Sie ist einfach empörend. „Drei mal drei macht neun“, sprach A. „Das ist Deine Meinung!“ höhnte B. „Sondern?“ „Natürlich sechzehn!“ „Psst“ machte da Nathan der Unweise. „Warum regt ihr euch so auf? Schließlich leben wir im Zeitalter des Pluralismus! Und der Toleranz! Gottseidank! Also hat jede Meinung gleiches Recht. Das gleiche Recht darauf, als Wahrheit aufzutreten. Solange nur jeder von euch das Recht des Anderen auf seine Meinung respektiert und an die seine wahrhaft glaubt…“ „Was soll das heißen?“ schrie da A. „Ich habe keine Meinung!“ „Sondern?“ fragte Nathan zurück. „Und du erhebst trotzdem Anspruch darauf, als Wahrheit geduldet zu werden?“ „Nein!“ regte A sich auf. „Ich erhebe durchaus nicht den Anspruch darauf, geduldet zu werden!“ „Sondern?“ „Sondern anerkannt zu werden!“ „Diesen Anspruch, mein Lieber, erheben die Sprecher aller Meinungen. Warum solltest du größeren Anspruch darauf erheben dürfen als die Anderen? Wäre das fair “ „Was denn sonst?“ schrie A zurück. „Wenn jede Meinung das Recht darauf hat, als Wahrheit aufzutreten, dann erkennt ihr ja die Wahrheit nur noch als Meinung an, als eine unter anderen! Also ausgerechnet als das, was sie gerade nicht ist! Wenn das nicht der Inbegriff von Un-fairness ist! Von Unfairness gegen die Wahrheit!“ „Das ist deine Meinung!“ höhnten da Nathan, B und C unisono, worauf A, der erkannte, dass er gegen solche Majorität niemals würde aufkommen, fortschlich und sich am erstbesten Baum aufhängte.“

Günther Anders, aus: Ketzereien, München 1991, S. 255f

Fußnoten:
(1)
 1 Kor 6,12 und 10,23; mit Hilfe eines guten Kommentars zum 1. Korintherbrief lässt sich auch anhand dieses Bibelwortes in der beschriebenen Weise ein biblisches Rollenspiel anleiten, in dem die verschiedenen Gruppierungen in der korinthischen Gemeinde zu Wort kommen: Die Starken (= Libertinisten?) und die Schwachen nach 1 Kor 8-10.

Ute Clemens, 42 J., war nach dem Studium in Berlin und Leipzig Pastorin in Templin. Annedore Wendebourg, 47 J., hat nach dem Studium in Münster und Hamburg unter anderem als Gemeindepfarrerin und Leiterin eines Diakonissen-Mutterhauses gearbeitet. Heute sind beide Autorinnen „gestandene Landpfarrerinnen“ in Helstorf und Niedernstöckern, kleinen Gemeinden in der Nähe von Hannover.

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