Alle Ausgaben / 2016 Artikel von Andrea Blome

Reisen und bei sich ankommen

Bücher: Unterwegs sein und Reisen zu sich selbst

Von Andrea Blome

Reisen bildet, lautet ein geflügeltes Wort. Und das gilt tatsächlich nicht nur für die dezidiert als „Bildungsreisen“ deklarierten Städtetouren oder Sprachreisen.

Das große Los
Die Journalistin Meike Winnemuth gewann 2010 500.000 Euro in Günther Jauchs Show „Wer wird Millionär?“. Noch während der Sendung antwortet sie auf die Frage, was sie mit dem Gewinn machen würde: Ich will zwölf Monate lang je einen Monat in einer anderen Stadt dieser Welt leben. Der Plan: Immer am 1. hin und am 31. zurück. Ihre Weltreise gestaltete sie 2011 dann nach dem Motto: Losfahren, sich vom Gewohnten lösen und dann schauen, was passiert. Ihr Buch „Das große Los“ ist dann auch viel mehr als ein Reisebericht. Es ist ein immerwährendes Reflektieren über das Leben an sich. Das Reisen bringt die damals gerade 50-Jährige näher zu der Frage: „Wie will ich leben? Was will ich mit den plusminus 40 Jahren anfangen, die noch vor mir liegen? Was habe ich? Was fehlt mir? Was funktioniert, was nicht mehr, wovon möchte ich mich verabschieden, wovon brauche ich mehr in meinem Leben? Was also will ich?“ (S. 20)
Ihr Buch, das sind zwölf Briefe an Freundinnen und Freunde, Familienmitglieder. Briefe, in denen sie erzählt, was sie in einer fremden Stadt entdeckt, was sie ausprobiert, woran sie leidet, was sie unterwegs lernt. Am Ende eines jeden Briefes folgt dann eine schöne 10-Punkte-Liste dessen, was sie in dieser Stadt gelernt hat.
Die aus Shanghai beginnt so: „10 Dinge, die ich in Shanghai gelernt habe:
1. Selbst hinfahren, hingehen, hinschauen ist die einzige Möglichkeit, sich von seinen Vorurteilen zu ­befreien. Shanghai war so viel entspannter, lustiger, lebensfreudiger, als ich das vermutet hatte.
2. Man muss den Dingen immer eine zweite Chance geben, auch wenn sie die nicht verdienen. Seegurke zum Beispiel. Zum ersten Mal 1983 in Seoul gegessen. Jetzt wieder. ­Immer noch entsetzlich. Nächster Versuch 2039.
3. Vor allem muss man den Dingen aber eine erste Chance geben. Eisernes Gesetz beim Reisen: Alles mindestens einmal probieren.
4. Frittierte Bienen schmecken besser als frittierte Libellen.
5. Wenn ein Chinese etwas perfekt ­findet, sagt er cha bu duo. (…)

Meerblick statt Frühschicht
Eine Weltreise mit offenem Ausgang unternahm auch Carina Herrmann. Der Untertitel ihres Buches „Meerblick statt Frühschicht“ weist die Richtung: „Warum ich losreisen musste, um bei mir selbst anzukommen“. Carina Herrmann ist Krankenschwester auf der Kinderonkologie, nah am Burnout und eigentlich nie gereist. Schon gar nicht allein. Der Impuls, für ein Jahr auszusteigen, sich aufzumachen in die Welt, die Wohnung aufzugeben, den Job zu kündigen, alle Dinge zu verkaufen oder zu verschenken, wirkt auf Freundinnen und Bekannte wie ein seltsamer Kurzschluss. Unterwegs entdeckt Carina Herrmann, die inzwischen das Reisen und das Schreiben darüber in ihrem Blog „Pink Compass“ zum Beruf gemacht hat, dass sie genau auf dem richtigen Weg ist. „Ich erkenne (…) langsam, dass ich so gerne allein reise, so gern allein bin, weil ich dann endlich atmen kann. Mein Leben lang habe ich ständig versucht, Erwartungen anderer zu erfüllen. Bewusst und sehr unbewusst. Ständig habe ich versucht, gut genug zu sein, um anerkannt zu werden. Um gemocht zu werden. Um zu gefallen. (…) Jetzt auf Reisen kann mir das völlig egal sein. Ich bin heute hier und morgen da. Es muss mich nicht interessieren, ob mein Gegenüber mich mag oder nicht. Ich bin endlich frei, absolut so zu sein, wie ich bin. (…)“ (S. 57)

Ein Jahr in Rio de Janeiro
Die Journalistin Frauke Niemeyer ging zum Arbeiten für ein Jahr nach Rio de Janeiro. Mit rudimentären Portugiesisch-­Kenntnissen, einer gehörigen Portion Respekt vor der berüchtigten Gewalt auf Rios Straßen und vor allem dem Wunsch herauszufinden, wie Rio ist, wenn Alltag ist. Wie sie die Stadt erlebt, von deren Menschen sie als Touristin so begeistert war. „Zwei Mal habe ich Rio de Janeiro als Touristin erlebt, für ein paar Wochen nur, und beide Male eine unerklärliche Energie verspürt, die dieser Stadt innezuwohnen schien. Leidenschaft und Dynamik gepaart zu einer Kraft, die mir fast mystisch erschien, die Abenteuer versprach, Sinnlichkeit, die mich ausgelassen machte und lebenshungrig.“ (S. 9) Es dauert eine Weile, anzukommen im Alltag dieser großen Stadt und fremden Welt. Die Anbindung an die Redaktion hilft dabei, Kontakte zu knüpfen. Aber es sind auch die Cariocas, die Bewohnerinnen und Bewohner Rios selbst, die es ihr leicht machen, heimisch zu werden. Dazu die Musik, das Meer, der Strand, der freundliche Umgang miteinander und der ­Respekt voreinander. Und dann ist es nicht mehr weit zu einem ganz besonderen Lebensgefühl: „Genauso fühle ich mich manchmal hier. Losgelöst, leicht, als ließe Rio mich frei im Raum schweben.“

„IN 20 JAHREN WIRST DU DICH MEHR ÜBER DIE DINGE ÄRGERN, DIE DU NICHT GETAN HAST, ALS ÜBER DIE, DU GETAN HAST. ALSO WIRF DIE LEINEN
LOS UND SEGLE FORT AUS DEINEM SICHEREN HAFEN. FANGE DEN WIND IN DESSEN SEGELN. FORSCHE, TRÄUME, ENTDECKE.“
Mark Twain

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