Als Kind musste sie hungern und hart arbeiten. Sie besuchte keine Schule und erlernte keinen Beruf. Rigoberta Menchu lebte wie alle indianischen Mädchen und Frauen in Guatemala, wurde von Weißen und Mestizen verachtet, von Behörden und Militärs unterdrückt. Sie nahm keine Waffe in die Hand, sondern schloss sich dem gewaltlosen Widerstand an. Heute ist die Quiche-Indianerin für die Ureinwohner ganz Lateinamerikas eine Symbolfigur in ihrem Kampf um Anerkennung, Menschenrechte und politische Gleichberechtigung. Als erste Indianerin erhält die 33jährige in diesem Jahr den Friedensnobelpreis.
Mit fünf Jahren hütete Rigoberta Menchu auf den „fincas“ (Plantagen) der Großgrundbesitzer ihren jüngeren Bruder, während die Eltern und älteren Geschwister Baumwolle und Kaffee pflückten oder Zuckerrohr schnitten, weil ihr Land in den Bergen nicht genug zur Ernährung der Familie abwarf. Schon mit acht Jahren pflückte sie täglich 30 Pfund Kaffeebohnen für einen Hungerlohn. Später verdingte sie sich als Dienstmädchen bei einer weißen Familie in der Stadt, erfuhr die Verachtung und Unterdrückung von Seiten der Weißen und Mestizen.
Seit 1981 lebt die Quiche-Indianerin, die Spanisch erst als Erwachsene lernte, nicht mehr in Guatemala. Zwei Jahre zuvor war sie dem Landarbeiterkomitee CUC beigetreten und hatte begonnen, die Bauern in den Dörfern zu organisieren. Ihr Einsatz für die elementaren Menschenrechte ihrer Landsleute, für eine gerechtete Landverteilung und politische Beteiligung brachte ihr einerseits die Anerkennung der indianischen Bevölkerung, andererseits die Verfolgung durch das Militär in ihrem Land ein.
Zusammen mit anderen gründete Rigoberta Menchu 1983 im Exil die „Vereinigte Vertretung der Guatemaltekischen Opposition“. Vier Jahre später nahm sie am „Nationalen Dialog“ ihres Landes teil, der das Ende des Bürgerkrieges erreichen wollte. Inzwischen reist sie durch die ganze Welt auf der Suche nach Unterstützung für ihr Volk. Sie war die erste Indianerin Guatemalas, die die Urbevölkerung ihres Landes bei der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen vertrat.
Die Frau mit dem sanften Wesen verkörpert ein Stück der schmerzvollen Geschichte der Indianer in Guatemala. Ihr Vater Vicente Menchu gehörte zu den 38 Ureinwohnern, die 1980 nach einem Protestmarsch in der spanischen Botschaft in Guatemala-Stadt verbrannten, nachdem das Militär das Gebäude angezündet hatte. Ihre Mutter wurde kurz darauf entführt, grausam gefoltert und ermordet, ihr jüngster Bruder erlitt das gleiche Schicksal.
Damals überlegte Rigoberta Menchu, ob sie nicht eine Waffe in die Hand nehmen und sich der Guerilla anschließen sollte. „Ich hätte gerne gekämpft“, schreibt sie in ihrem Buch „Leben in Guatemala“. Doch sie entschied sich für die politische Arbeit. Trotz allem Leid wirkt sie heute nicht verbittert. Sie könne verzeihen, sagt sie, wenn es in ihrem Land politische Veränderungen gebe, „damit nie mehr eine Mutter gefoltert, ein Vater verbrannt und ein Bruder erschossen wird.“
Rigoberta Menchu steht heute für das erwachte Selbstbewusstsein der indianischen Bevölkerung Lateinamerikas, die immer lauter die Einhaltung der Menschenrechte und politische Mitbestimmung fordert. Ein Ausdruck davon ist die Kampagne „500 Jahre indianischer, schwarzer und Volkswiderstand“, mit der die Volksgruppen des Subkontinents eine Gegenbewegung zu den Kolumbusfeiern in diesem Jahr in Gang setzten.
Der Trägerkreis dieser Kampagne und der argentinischen Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel hatten Rigberta Menchu für den Nobelpreis 1992 vorgeschlagen. Zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen aus aller Welt unterstützen die Kandidatur. In Europa hieß es, gerade die Europäer seien 500 Jahre nach Beginn der Eroberung Amerikas noch immer tief in Schuld gegenüber den Ureinwohnern verstrickt. Der Preis könne eine Geste der Versöhnung sein. Für die indianischen Völker in ganz Lateinamerika aber bedeutete dieser Preis, dass ihre Unterdrückung und Ausbeutung endlich wahrgenommen, dass sie als Völker anerkannt und dass ihrem Widerstand Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Denn noch immer werden sie als „Inditos“ (Indianerchen) in den Ländern Lateinamerikas als Menschen zweiter Klasse behandelt, leben als Nachkommen der einst alleinigen Einwohner Amerikas im Elend und sind jeglicher politischer Einflussnahme beraubt.
Wenn Rigoberta Menchu am 10. Dezember in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennimmt, sieht sie sich in einer Reihe mit anderen Frauen, die in den vergangen 15 Jahren in Lateinamerika eine neue Form des Widerstandes ohne Waffen begründet und durchgehalten haben: Mütter, Schwestern, Töchter, die in Argentinien, El Salvador oder Guatemala nach ihre „verschwundenen“ Angehörigen fragen, die Bestrafung der Mörder fordern und sich weder mit Ausflüchten abweisen, noch mit Drohungen einschüchtern lassen.
aus: epd ZA Nr. 202 vom 19.10.92 (6180/16.10.1992)
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