Ausgabe 1 / 2011 Artikel von Regine Rapp-Engels und Margot Papenheim

Rosa Pillen für Frauen, blaue für Männer?

Gespräch mit den Deutschen Ärztinnenbund über Gender-Medizin

Von Regine Rapp-Engels und Margot Papenheim


Brustkrebs gefährdet die Gesundheit von Frauen, Prostatakrebs die von Männern. Aber stimmt auch die landläufige Annahme, dass Frauen Migräne und Männer einen Herzinfarkt bekommen? Wie verhält es sich mit Geschlecht und Medizin?

ahzw: Was bedeutet eigentlich Gender-Medizin?
Dr. Regine Rapp-Engels: „Gender Medicine“ ist die internationale Fachbezeichnung für „geschlechtsspezifische Medizin“. Das ist der nach Geschlecht differenzierende Blick auf Gesundheit und Krankheit, und zwar sowohl aus biologischer als auch aus sozialer, psychologischer und kultureller Sicht. Dieser Blick bezüglich Gesundheitsförderung und Prävention, Diagnose, Therapie, Pflege und Rehabilitation ist für eine geschlechtergerechte und damit effiziente und auch kostensparende Gesundheitsversorgung unabdingbar – übrigens auch in der Zahnmedizin.

Welchen Stellenwert hat Gender-Medizin in der medizinischen und pharmakologischen Forschung?
Inzwischen ist bekannt, dass Frauen und Männer unterschiedlich auf Arzneimittel reagieren können, zum Beispiel halten die Wirkungen von bestimmten Arzneimitteln bei Frauen länger an, und die Dosierung, etwa bei manchen Schmerzmitteln, kann anders sein. Die Forschung erfolgte aber bislang – mit Ausnahme der Reproduktionsorgane und deren Funktionen – überwiegend an Männern, und die Ergebnisse wurden dann einfach auf Frauen übertragen.

In Unkenntnis der Unterschiede sind Frauen häufiger von Nebenwirkungen betroffen als Männer. Darum hat der Deutsche Ärztinnenbund sich dafür eingesetzt, dass bei klinischen Arzneimittelprüfungen nun Frauen angemessen berücksichtigt werden müssen. Zudem fordern wir eine Informationspflicht zu den Unterschieden der Arzneimitteltherapie bei Frauen und Männern: ÄrztInnen und PatientInnen müssen in den Packungsbeilagen darüber informiert werden, ob und mit welchem Ergebnis eine nach Geschlecht differenzierende Untersuchung stattgefunden hat. Und statt die Zartheit der weiblichen Gefäße zu beklagen, müssten die Instrumente für Eingriffe an den Herzkrankgefäßen den weiblichen zarteren Bedingungen angepasst werden.

Spielt Gender-Medizin im Alltag von HausärztInnen eine Rolle?
Ärztinnen garantieren nicht unbedingt einen weiblichen oder geschlechtssensiblen Blick auf die Gesundheit. Aber aufgrund ihrer Sozialisation und ihrer Erfahrungen besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Frauen dafür zumindest sensibilisiert und auch engagiert sind. Wir wissen zum Beispiel, dass Patientinnen mit Herzschwäche bei Ärztinnen gut aufgehoben sind und nach einer Studie der Universität Köln werden Frauen zudem bei Diabetes schlechter behandelt als Männer.

Mit welchen Beschwerden kommen ältere Frauen als Patientinnen zu ihren HausärztInnen?
Die häufigsten Erkrankungen bei Frauen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren sind Arthrose, Angina pectoris, Diabetes, Trübung der Augenlinse, Depression, chronische Bronchitis, Herzinfarkt, Venenschwäche, Brustkrebs, Durchblutungsstörungen des Gehirns. Bei Frauen im Alter ab 75 sind es Arthrose, Trübung der Augenlinse, Angina pectoris, Demenz, Diabetes, Venenschwäche, Herzinfarkt, Depression, chronische Bronchitis und Osteoporose. Hier sind die – leider nur zum Teil bekannten – Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu berücksichtigen. Fest steht, dass der Stoffwechsel beim Abbau und Ausscheidung von Medikamenten altersbedingt langsamer arbeiten kann, so dass Medikamente länger im Körper bleiben und empfohlene Dosierungen bereits eine Überdosierung bedeuten können. Besonders gefährlich für ältere Menschen sind z.B. Überdosierungen mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln, die die Sturzgefahr erhöhen, was wiederum besonders bei Osteoporose das Risiko erhöht, einen Knochenbruch zu erleiden.

Gibt es „typische“ Frauen- und Männerleiden, die biologisch bedingt sind?
Autoimmunerkrankungen werden bei Frauen häufiger beobachtet als bei Männern. Beispiele sind verschiedene Rheumaformen oder auch eine Form der Schilddrüsenfunktionsstörung. Hierbei entwickelt das Immunsystem des Körpers Antikörper gegen die vermeintlichen „Eindringlinge“. Für die geschlechtsspezifischen Unterschiede werden hormonelle Ursachen vermutet.

Weit verbreitet ist die Meinung, dass eine Depression wesentlich häufiger bei Frauen als bei Männern aufträte. Und in der Tat werden Depressionen bei Frauen fast doppelt so oft wie bei Männern diagnostiziert. Das kann aber auch daran liegen, dass Frauen eher über ihr psychisches Befinden sprechen – und dass Frauen eher eine psychische Belastung zugestanden wird. Nicht erst seit dem Suizid des Nationaltorhüters Robert Enke wissen wir, dass Männer ihre depressiven Symptome anders verstecken, dass Männer möglicherweise auch eher wegen dieser Diagnose stigmatisiert werden, da sie dem Bild von Männlichkeit entgegensteht. Zum Glück kommt hier also langsam Bewegung in die Debatte.

Typische Männerleiden sind solche, die genetisch an das X-Chromosom gebunden sind, das bei Männern bekanntlich nur einmal vorhanden ist. So bricht die Bluterkrankheit nur bei männlichen Genträgern aus, da bei Frauen immer das gesunde zweite X-Chromosom dominiert und das eventuell die Krankheit tragende zweite X-Chromosom stumm schaltet.

Und inwiefern sind nun durch Geschlechterrollen geprägte Unterschiede für unterschiedliche Erkrankungen von Frauen und Männern verantwortlich?
Hier ist insbesondere die Belastung durch geschlechtsspezifische Rollenverteilung zu nennen. Frauen leisten nach wie vor den größten Anteil an unbezahlter Familienarbeit. Insofern können Stress und Doppelbelastung zu Burn-out und entsprechenden seelischen und/oder körperlichen Erkrankungen führen.

Laut Weltgesundheitsorganisation WHO ist Gewalt das größte Gesundheitsrisiko von Frauen weltweit. Für Deutschland lieferte 2004 die Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ des BMFSFJ erstmalig umfassendes und repräsentatives Bild von Ausmaß, Hintergrund und Folgen von Gewalt gegen Frauen. Danach haben 37 Prozent aller Befragten körperliche Gewalt und Übergriffe ab dem 16. Lebensjahr erlebt. 13 Prozent gaben an, seit dem 16. Lebensjahr Formen von sexueller Gewalt erlebt zu haben, und 42 Prozent, Formen von psychischer Gewalt. Gewalt kann krank machen, sie hinterlässt vielfältige körperliche und seelische Schädigungen.

In den Medien kursiert der Hinweis, dass Männer mit Schmerzen im -linken Arm auf Herzinfarkt hin untersucht werden – Frauen mit denselben Symptomen bekommen ein Rezept für Fangopackungen und Massage …
Frauen haben beim Herzinfarkt diese Symptome auch seltener als Männer! Sie haben eher ein Ziehen mittig in der Brust, eventuell ausstrahlend in den Hals und den Kiefer, oder Übelkeit und Oberbauchbeschwerden. Zudem unterstellen Ärzte Frauen manchmal eine gewisse „Empfindlichkeit“ – sie vermuten eher psychosomatische Ursachen und nehmen die körperlichen Beschwerden nicht so ernst. Allerdings lassen Frauen sich auch eher mit einer harmlosen Diagnose abspeisen. Auch sind die klassischen Untersuchungsmethoden wie zum Beispiel das Belastungs-EKG bei Frauen weniger aussagekräftig als bei Männern. Diesen neuen Erkenntnissen wird allerdings inzwischen zum Beispiel im Herz-Pass der Deutschen Herzstiftung bei den Herzinfarkt-Symptomen Rechnung getragen.

Übrigens hat auch der Schlaganfall geschlechtsspezifische Aspekte. Bei Frauen sind oft Herzrhythmusstörungen die Ursache. Und nur jede zweite Frau, die nach akutem Schlaganfall aus dem Krankenhaus entlassen wird, kann nach einem Vierteljahr ihre Alltagsaktivitäten wieder ganz unabhängig aufnehmen, bei Männern sind es fast siebzig Prozent.

Stimmt es, dass Männer und Frauen unterschiedliche Schmerzen haben?
Frauen leiden häufiger unter Schmerzerkrankungen wie Fibromylagie, Reizdarmsyndrom, rheumatoider Arthritis und Migräne. Einer der Gründe ist vermutlich die Hormonausstattung, das Schmerzrisiko für Mädchen steigt nämlich mit der Pubertät an, für Jungen aber nicht. Auch weiß man, dass Östrogene beispielsweise Einfluss auf die Entstehung einer Migräne haben. Außerdem ändert sich die Schmerzempfindlichkeit mit den hormonellen Schwankungen während des Menstruationszyklus. Weiter unterscheiden sich Männer und Frauen in der Verteilung der Schmerzrezeptoren, und in der Verstoffwechselung von Schmerzmedikamenten.

Auch im Umgang mit Schmerzen unterscheiden sich die Geschlechter: Männer konzentrieren sich stärker auf die physischen, Frauen auf die emotionalen Aspekte von Schmerz. Das kann den Schmerz verstärken, weil er mit negativen Emotionen aufgeladen wird. Weil soziale und psychologische Faktoren für den Umgang mit Schmerzen wichtig sind, wäre es spannend, geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Behandlung mit Entspannungstraining und Biofeedback zu erforschen.

Bedeutet Gesundheit dasselbe für Frauen wie für Männer?
Frauen gehen achtsamer mit sich um und suchen infolgedessen auch dreimal so oft eine Ärztin oder einen Arzt auf wie Männer. Sie bekommen mehr Medikamente verschrieben, sie nehmen regelmäßiger an den Früherkennungsuntersuchungen teil, sie tun häufiger etwas, um gesund zu bleiben – und doch sind sie nicht gesünder als Männer.

Männer neigen dazu, rücksichtsloser mit ihrer Gesundheit umzugehen. So tendieren sie dazu, mehr, kalorienreicher, fettiger und ungesünder zu essen, mehr zu rauchen und Alkohol zu konsumieren, sich weniger zu bewegen und Warnsignale des eigenen Körpers zu ignorieren. Die geringere Lebenserwartung von Männern gründet sich zudem auf der hohen Zahl von Todesfällen durch Unfälle und Suizid. Insbesondere die medizinische Versorgung von depressiven Männern muss dringend verbessert werden, da bei Männern Depressionen seltener erkannt und daher auch nicht angemessen behandelt werden.

Was sind die drei wichtigsten -„Baustellen“ der Gender-Medizin?
Medizinische Forschung muss nach Geschlecht differenziert erfolgen. Das bedeutet nicht nur die zahlenmäßige Erfassung der ProbandInnen und PatientInnen nach Geschlechtern getrennt, sondern auch die Berücksichtigung in der gesamten Konzeption, Fragestellung und Auswertung der Studien. Medizinische Versorgungsforschung muss ebenfalls den Geschlechteraspekt berücksichtigen. Insbesondere ist dem Geschlecht der Behandelnden Rechnung zu tragen. Und schließlich ist es wichtig, die Gender-Medizin in der Aus- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe zu verankern. Darüber hinaus empfiehlt der DÄB eine geschlechtsbewusste Gesundheiterziehung in Kindergärten und Schulen.


Dr. Regine Rapp-Engels ist Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, der seit Jahren für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Medizin eintritt. Mehr unter:
www.aerztinnenbund.de
Die Fragen hat Margot Papenheim gestellt.

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang