Das Schild „Für Juden verboten“ war der Olympiade wegen noch nicht wieder an der Bank angebracht, die Schraublöcher waren deutlich in der Lehne zu sehen. Johann Isidor dachte an seinen Schwiegersohn. Mit steifen Fingern massierte er den Schmerz aus der Brust. Fritz hatte endlich in Amsterdam eine Anstellung gefunden, in einer Import-Export-Firma, noch dazu mit einem jüdischen Inhaber, doch Victoria, die ewig Bockige, wollte mit den Kindern so lange in Frankfurt bleiben, bis ihr Mann „eine passende Wohnung“ aufgetan hätte. … „Alle haben's kapiert“, klagte Johann Isidor bei Meyerbeer, „nur die schöne Victoria nicht. … Da lob ich mir meine Alice. Die erwartet keine passende Wohnung im afrikanischen Busch, ihr reicht der passende Mann. Sie ist fast schon bei ihm, unsere Jüngste.“
Zu Hause fragte ihn Betsy mit dem weiblichen Instinkt, der ihn nach vierzig Jahren Ehe immer noch erschreckte, wie sein Spaziergang gewesen wäre. „Wie immer“, erwiderte er. „Zwei alte Herren haben auf einer Bank am Main gesessen, einer jungen Frau nachgeschaut und festgestellt, dass sie nicht mehr die Jüngsten sind.“
„Aber Schmerzen an der Blase hattest du nicht?“, forschte Betsy. „Schmerzen im Gemüt“, erwiderte Johann Isidor, „da helfen keine Kürbiskerne. Ich glaub, da ist Opium angesagt.“ Am nächsten Tag sagte er sowohl einen Zahnarzttermin
ab als auch den Nachmittagsspaziergang mit Doktor Meyerbeer. In unruhiger Nacht hatte Johann Isidor, der verantwortungsvolle, immer noch resolute Patriarch, seine Entscheidung getroffen. Es ging nicht länger an, dass er auf die Habe, die ihm geblieben war, nicht jederzeit zurückgreifen konnte. Seine Kinder wollten – und mussten! –auswandern. Dafür brauchte der Vater Bargeld. Grundbesitz war eine Fessel geworden.
Erwin vertraute der Vater als Einzigem an, dass er bereits seit Längerem wegen seines Hauses in der Glauburgstraße verhandelte. „Und wenn ein gewisser Herr Schwabe nur halb so anständig ist, wie er tut, dann betrügt er mich nicht mehr, als sein Gott ihm gestattet. Und für den armen Jud bleibt auch noch was. Mir ist es nicht genug, wenn ich gerade noch die Reichsfluchtsteuer für meine Kinder aufbringen kann. Ich will sie nicht nackt in die Welt schicken. Bei Alice wird es bald soweit sein. Deine Mutter hat's im Gefühl. Sie sucht schon die Koffer zusammen.“
„Ich wollt, ich könnt dir widersprechen“, sagte Erwin.
„Deine Ration an Widerspruch hast du als Zwölfjähriger fürs ganze Leben aufgebraucht, mein Sohn“, antwortete Johann Isidor. „Und ich wollt', ich könnt jetzt lächeln.“
Am 20. Juli trennte sich Johann Isidor Sternberg von seinem Haus in der Glauburgstraße. … Auf dem kurzen Nachhauseweg fiel Johann Isidor auf, dass überall die Fenster offen standen und dass in vielen Wohnungen die Radios auf volle Lautstärke gestellt waren. An einem Montag der Norm wäre das aufgefallen, doch an diesem speziellen wurde im griechischen Olympia auf der Peleponnes das olympische Feuer entzündet. Der erste Fackelläufer war schon unterwegs in Richtung Athen. Der Deutsche Rundfunk übertrug die Feierstunde direkt von dort. Der Sprecher sagte, dies wäre eine „Meisterleistung deutscher Technik“. Ein Filmteam unter Leitung der deutschen Regisseurin Leni Riefenstahl wollte den Übertragungswagen des Rundfunks von Olympia nach Berlin begleiten.
Erst im Bett und im Trost der gnädigen Dunkelheit erzählte er seiner Frau, dass ihm das Haus in der Glauburgstraße nicht mehr gehörte und höchstwahrscheinlich bald auch nicht mehr die Posamenterie in der Hasengasse. „Aber von der Rothschildallee“, beruhigte er Betsy, die in ihre Kissen weinte, „trenne ich mich nicht aus freien Stücken. Das verspreche ich dir. Ehrenwort. So junge Leute wie wir können ja schließlich nicht ins Altersheim ziehen.“
aus:
Die Kinder der Rothschildallee
© 2009 by LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH München
Der Textauszug stammt aus dem 2. Band einer Trilogie, in der in Romanform die Geschichte einer Frankfurter jüdischen Familie von 1900 bis 1948 erzählt wird.
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