Ausgabe 1 / 2008 Frauen in Bewegung von Bettina Röder

Sabine Werth

Decken Sie mit uns die Tafel

Von Bettina Röder


Vor 15 Jahren gründete die Sozialarbeiterin Sabine Werth die „Berliner Tafel“. Inzwischen gibt es 750 deutschlandweit. Besuch bei der Chefin eines Erfolgsunternehmens für Bedürftige.

Wieder einmal ist alles sehr knapp. Denn wer Sabine Werth besuchen möchte, muss durch das dickste Großstadtgewühl. In einer dreiviertel Stunde ist das schwer zu schaffen. Die „Berliner Tafel“ liegt am Berliner Westhafen, an der großen Stadtautobahn. Dort, wo auch der Großmarkt der Hauptstadt ist. Frühmorgens, wenn alles noch schläft, fahren von hier die Transporter, um die Geschäfte zu beliefern. Das von Sabine Werth gegründete Unternehmen ist mittendrin. In einem der würfelförmigen Container. Für einen Euro pro Quadratmeter hat der Großmarkt der „Berliner Tafel“ das Gelände überlassen. 1300 Quadratmeter ist es insgesamt groß.

Im ersten Stock sitzt die Chefin. Aber nur, wenn sie Besuch empfängt. Sonst ist sie unten in der großen Halle. „Da stehen alle Jungen und Mädels und sortieren wie wild“, sagt die burschikos wirkende Frau mit den kurzen blonden Haaren. Gemeint sind jene gut 100 Menschen, die hier in den Lagerhallen auf der Matte stehen. Kisten mit Paprika, Melonen, Birnen und Sellerie stapeln sich, Bäcker haben Brot gespendet, Supermärkte Käse und Wurst. Kein Produkt darf ein Verfallsdatum überschreiten. Immerhin geht es jeden Monat um 260 Tonnen, die sortiert und für die Auslieferung fertig gemacht werden müssen. Morgens wird die Ware von den Tafel-Fahrern abgeholt: aus Hotels, von Supermärkten oder aus einer der vielen Bäckereien Berlins.

Um 7.30 Uhr geht's los. Pünktlich um 13 Uhr verlassen dann die 15 Lieferfahrzeuge mit dem grünen Logo vom Brandenburger Tor den Fuhrpark. Mit mehr als 300 diakonischen und städtischen Einrichtungen ist Sabine Werth im Geschäft. Da ist in Pankow Paulas Panke, wo „die Kids nach der Schule was Warmes kriegen“. Oder das Frauenhaus ganz im Süden der Stadt. Allein 14 Grundschulen werden beliefert.


Ein Modell macht Schule

Begonnen hatte alles 1993. Damals gründete Sabine Werth nach dem Vorbild der City-Harvest in New York die Berliner Tafel. Sie ist ein gemeinnütziger, mildtätiger Verein. Und nicht nur die größte Tafel in Deutschland, sondern auch eine Erfolgsgeschichte. 750 Stecknadeln mit farbigen Köpfen auf der Deutschlandkarte im Tafel-Büro zeugen davon. So viele Tafeln gibt es inzwischen. Das Modell hat Schule gemacht. „Das hier ist nichts für Weiber auf dem Sozialtrip“, sagt Sabine Werth und schaut kurz durch ihre runde Brille. „Wer kurz mal den Golfplatz mit einem wohltätigen Verein tauschen möchte, ist fehl am Platz.“ Die 50-Jährige in dem roten Shirt wirkt resolut. Doch nur im ersten Augenblick. Gleich im zweiten erzählt sie von einer Niederlage: Dass sie neulich ganz und gar den Termin verpasst hat für eine Veranstaltung, auf der sie Hauptreferentin war.
Aber das ist die Ausnahme. Und muss es sein. Denn nichts funktioniert hier, wenn nicht alles aufeinander abgestimmt ist. Auf die Minute. „Weil ich Freude habe an der Organisation, hab ich das gemacht“, sagt Sabine Werth. Doch auch das ist tiefgestapelt. Denn die Gründe, warum die gelernte Sozialarbeiterin vor fast 15 Jahren die Tafel ins Leben rief, liegen viel tiefer. Es geht ihr um Verteilungsgerechtigkeit und darum, dass völlig einwandfreie Lebensmittel Tag für Tag auf dem Müll landen – in Berlin sind das 20 Prozent aller Lebensmittel – während Menschen auch in unserem Land sie sich längst nicht mehr leisten können.


Es geht nicht um Almosen

Für sie da zu sein, das hat Sabine Werth in ihrem Leben praktiziert. Doch das zu sagen, wäre ihr viel zu pathetisch. „Bedürftige dieser Nation darf man nicht auf Obdachlose reduzieren“, sagt sie stattdessen. Sabine Werth ist ein politisch denkender Mensch. Und sie ärgert sich immer wieder, wenn die Tafeln mit Obdachlosenspeisung aus irgendwelchen Nobelrestaurants verwechselt werden. „Unter den 125.000 Menschen, die wir pro Monat mit Essen versorgen, sind 2000 Obdachlose. Da ist doch viel erschreckender, dass darunter ein Drittel Kinder und Jugendliche sind, Tendenz langsam steigend.“

Sie legt Wert darauf, dass es nicht um Almosen geht. Darum ihr Motto: „Decken Sie bitte mit uns gemeinsam die Berliner Tafel.“ Pro Mahlzeit wird ein Euro gezahlt. Zehn Menschen sind bei der Tafel fest angestellt, 600 Ehrenamtliche und 1100 zahlende Mitglieder die Basis. Und feste Regeln, die mittlerweile für alle anderen Tafeln ebenso gelten. Eine davon: Nichts gibt es umsonst. Eine andere: Der Regionalschutz wird eingehalten. Sicher ein Grund für das florierende Unternehmen. „Ich hab das hochgetrieben.“ Wenn Sabine Werth das sagt, klingt es nicht eitel. Eine geheimnisvolle Lebenskraft geht von ihr aus. „Die habe ich wohl von meiner Mutter“, sagt sie, und ihre blauen Augen werden nachdenklich. Aber nur für einen Augenblick. Dann ist sie gleich wieder die Aktive, Lustige, die ihre Lebensgeschichte erzählt.

Drei Jahre war Sabine Werth alt, als ihre Mutter, eine OP-Schwester, mit ihr „in den Westen abgehaun“ ist. Das war 1960, ein Jahr vor dem Mauerbau in Berlin. „Sie hat sich immer durchsetzen müssen“, sagt Sabine Werth und ist belustigt darüber, dass sie immer mehr Eigenschaften ihrer Mutter an sich entdeckt. Auch solche, die sie an ihr nicht so mochte. „Ich bin eine Rampensau“, lacht sie. Immerhin war sie mit 14 Jahren die erste Schulsprecherin West-Berlins, die dem Rias ein Radiointerview gab. Seit 20 Jahren ist Sabine Werth, die an der evangelischen Sozialhochschule studiert hat, Sozialarbeiterin. Ihr Geld allerdings verdient sie nicht mit der Tafel, sondern in dem von ihr begründeten Familienpflegebetrieb. Dabei geht es nicht um Altenpflege, sondern um junge Mütter, die durch die Firma Hilfe bekommen.


Für „Laib und Seele“ sorgen

Sabine Werth selbst hat keine Kinder. „Dafür aber eine große Liebe.“ Vor zwei Jahren ließ sie sich in der Berliner Heilig-Geist-Kirche mit einer Frau trauen: Friederike Sittler, der Chefin vom Kirchenfunk des Radio Berlin Brandenburg (RBB). Kennen gelernt hat sie sie bei einem Radiointerview. Da kam auch die neue Idee. Warum nämlich, so haben sich die beiden Frauen gefragt, beziehen wir nicht mehr die Kirchgemeinden ein? „Laib und Seele“ war geboren. 43 Kirchgemeinden in der ganzen Stadt beteiligen sich inzwischen mit Ausgabestellen an dem Projekt. Neben der Kirche sind der RBB und die Berliner Tafel mit von der Partie. Zum Weihnachtsfest im Jahr 2004 war Start.

Wenn Sabine Werth diese zweite Erfolgsgeschichte erzählt, schwingen dann doch in ihrer Stimme Emotionen mit. „Uns war klar, dass viele Berliner zu Weihnachten nix zu essen hatten“, sagt sie. Also wurden 3500 Haushalte angeschrieben. Genauso viel wie die Marienkirche im Zentrum der Stadt Sitzplätze hat. Auf denen stand dann einen Tag vor Heiligabend je ein Baumwollbeutel mit einem Weihnachtsgeschenk. Der evangelische und der katholische Bischof der Stadt, Wolfgang Huber und Georg Sterzinsky waren mit von der Partie. Aber auch Max Raabe mit seinem Palastorchester. 300 Brote backt inzwischen die Kamps Bäckerei täglich für „Laib und Seele“ unentgeltlich. 1000 Menschen engagieren sich für die Aktion ehrenamtlich.
„Ach ja, da wären auch noch die beiden Kinderrestaurants der Stadt“, sagt Sabine Werth. Auch die hat sie ins Leben gerufen. Und ist ihrem Grundsatz treu geblieben: keine Stigmatisierung von Menschen. Für einen Euro können die Kids hier ein warmes Mittagsmenü bekommen. Wichtig ist ihr, dass sie alle beisammen sind: die bedürftigen und die wohlhabenderen Kinder. Auf dem Tisch vor Sabine Werth steht das kleine Modell von einem drachenähnlichen Gebäude mit einem großen Segel – ihre neuste Idee: ein Kinderimbiss, auf 40 Quadratmeter Fläche geplant in der Arminius Markthalle in Berlin-Moabit. Hier sollen die Kinder ihr Essen selbst zubereiten. Und dabei erfahren, wie wichtig es ist, dass Pommes aus frischen Kartoffeln zubereitet werden und dass Frischgemüse zehn mal leckerer ist als das aus der Fertigpackung. Die statische Berechnung für das Drachenhaus hat ein Professor aus Dessau gemacht. „Nun brauchen wir noch einen Messebauer, der das umsetzt“, sagt Sabine Werth. Ihre Hoffnung ist berechtigt. Finanziert sich doch die „Tafel“ nur zu einem Drittel aus Mitgliedsbeiträgen. Zwei Drittel sind Spenden.

Neulich hat Sabine Werth im Kreis ihrer Kolleginnen und Kollegen ihren 50. Geburtstag gefeiert. Deren Wunsch: bis 2009 bitte keine neue Idee von ihr. Sie lacht. „Natürlich haben sie recht. Erst einmal muss alles andere realisiert werden. Ob ich's durchhalte, kann ich nicht versprechen. Aber bis dahin ist ja viel Zeit.“



Bettina Röder ist Redakteurin bei der Zeitschrift kritischer ChristInnen „Publik-Forum“. Dort verantwortet sie seit zehn Jahren das Berliner Hauptstadtbüro. Sie hat Kunstgeschichte studiert und als Kunsterzieherin unterrichtet. In den Jahren vor
der Wende arbeitete sie in der Ost-Redaktion der protestantischen Zeitung „Die Kirche“.

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