Ausgabe 1 / 2005 Material von Gudrun Pausewang

Schaukel mich, Torsten!

Von Gudrun Pausewang

Torsten Winkelmeyer hatte seit seinem vierzehnten Lebensjahr immer nur für sein Auto gelebt. Er hatte schon damals nur an den roten Porsche gedacht, den er einmal haben wollte. Davon hatte er Tag und Nacht geträumt. Und er hatte sich entschlossen, Maurer zu werden. Nicht weil er Spaß am Mauern hatte, sondern weil er glaubte, in diesem Beruf viel Geld verdienen zu können. Das Geld brauchte er für den Porsche.

Schon während der Maurerlehre hatte er angefangen zu sparen. Jede Mark trug er auf sein Sparbuch. Samstags half er auf den Baustellen im Dorf und verdiente sich damit noch etwas dazu. Sonntags kellnerte er im Hotel zum Goldenen Bock. Er übernahm Überstunden, wann immer er welche bekommen konnte. Und wer eine Scheune umbauen, eine Wand versetzen oder einen Dachraum ausbauen wollte, holte den Torsten. Der half immer – gegen gute Bezahlung natürlich. Er nahm sich nur die Zeit, um seinen Führerschein zu machen. Wenn ihn seine Kameraden auf eine Geburtstagsfeier oder eine Hochzeit einluden, sagte er jedes Mal: „Ich hab keine Zeit.“ Und wenn sie ihn auf der Kirmes mit ins Bierzelt nehmen wollten, lehnte er ab: Er wollte kein Geld ausgeben. Sogar während seiner Urlaubszeit arbeitete er auf Baustellen. Und an den kältesten Wintertagen, wenn der Frost alle Bauarbeiten unmöglich machte, saß er über Autoprospekten.
„Das ist doch kein Leben, Torsten“, seufzte seine Mutter. „Wenn ich erst den Porsche hab, dann fang ich an zu leben“, antwortete Torsten.

Als er knapp einundzwanzig Jahre alt war, hatte er das Geld beisammen und kaufte sich einen roten Porsche. Das ganze Dorf geriet in Aufregung. Das war ein Wagen – Donnerwetter! Die Leute winkten ihm zu, als er die erste Runde drehte. Und als der Nachbar ihm zurief: „Torsten, am Samstg gibt es was bei uns zu mauern“, antwortete er: „Diesmal nicht. Ich hab was anderes vor.“
Ja, er hatte was anderes vor: Er wollte mit seinem Porsche ausfahren. Und das tat er auch. Am Samstagnachmittag bestieg er den roten Wagen wie ein König, und alle gafften ihm nach, als er davonbrauste.
„Wenn das nur kein böses Ende nimmt“, seufzte seine Mutter.
Noch keine halbe Stunde später war das böse Ende schon da. Zwei Dörfer weiter war Torsten aus der Kurve geschleudert worden. Ihm war nichts passiert, aber sein schöner roter Porsche war nur noch ein Schrotthaufen…

Torsten hatte sich heimlich über die Felder davongeschlichen. Er wollte niemandem begegnen, wollte keinen sehen, der ihn kannte, und wünschte sich, tot zu sein. Alles war umsonst gewesen, all die Jahre hatte er vergeblich geträumt und geschuftet. Nein, das war nicht zu ertragen. Lieber wollte er sterben!
In einem einsamen Wiesental, nicht weit von der Unfallstelle, lag der Hof seiner Tante. Er beschloß, dorthin zu gehen und sich in der Scheune umzubringen. Das war wohl das Beste. Denn jetzt hatte das Leben für ihn keinen Sinn mehr, davon war er überzeugt.

Er schlich sich zur Scheune. Wenn ihn nur niemand sah! Aber schon hatten ihn die drei Kinder der Tante entdeckt, drei kleine Mädchen, sechs, acht und zehn Jahre alt.
„Torsten, Torsten“, riefen sie, „kommst du uns besuchen? Aber die Mama ist nicht da, die ist ins Dort gefahren.“ „Ich geh gleich wieder“, sagte Torsten finster. „Ich muss nur mal in eure Scheune. Spielt nur weiter.“ Da trollten sich die Kinder wieder zur Schaukel.
Es war keine Schaukel wie die kleinen, die man jetzt überall kaufen kann. Nein, es war eine sehr hohe Schaukel mit einem starken Balkengerüst. Als Kind hatte er oft darauf geschaukelt. Er war manchmal nur wegen der Schaukel den weiten Weg aus dem Dorf herausgewandert. Wenn man sie richtig in Schwung brachte, konnte man sich einbilden, man flöge in den Himmel.
Aber jetzt schenkte Torsten der Schaukel keinen Gedanken. Er ging in die Scheune und suchte nach einem Strick. Wenn nur die Kinder draußen blieben!
Aber da war schon die Älteste am Scheunentor und rief: „Schaukel mich, Torsten!“ „Also gut“, sagte er ärgerlich, „aber danach will ich meine Ruhe.“ Er blinzelte ins Licht, als er aus der Scheune trat. Mit drei Stößen flog das Kind in weitem Bogen durch die Luft und kreischte vor Vergnügen.
Torsten kehrte wieder in die Scheune zurück, nahm den Strick und suchte einen Nagel. Er stieg die Leiter hinauf, auf den Heuboden. Dort würde man ihn nicht so schnell finden. Aber schon rief die Mittlere vom Scheunentor her: „Schaukel mich auch, Torsten!“ Er hielt sich die Hand vor Augen, als er, geblendet vom Tag, hinausstolperte. Er brachte sie in Schwung und kehrte wieder zurück.
Aber schon brüllten alle drei Kinder vom Scheunentor herauf: „Hallo, Torsten, jetzt kommst du selber dran!“ „Zeig, wie hoch du kannst“, riefen sie. Wütend setzte er sich auf das Brett und begann zu schaukeln.
„Höher!“ juchzten die Kinder.
Je höher er flog, desto weiter konnte er sehen: erst die Wiesen, dann den Wald, dahinter die roten Dächer des Dorfes und zuletzt auch die Berge. Er spürte auf einmal wieder, wie wunderbar es war, so durch die Luft zu sausen, einmal oben, einmal unten, so wunderbar wie damals, als er noch als Kind hier geschaukelt hatte…

Gekürzter Text aus:
Ich gebe nicht auf. Geschichten, Gebete, Gedichte
© Signal Verlag, Baden-Baden 1987

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