Alle Ausgaben / 2010 Material von Dorothee Sölle

Schaukeln in La Paz

Von Dorothee Sölle

Eine Cholita (eine Frau in traditioneller indianischer Tracht) kommt mit ihrem kleinen Kind zum Spielplatz. Sie gehen zu den Schaukeln, wo gerade zwei andere, städtisch gekleidete Frauen ihre Kinder in die Metallschaukeln klettern lassen. Die Frauen mit der helleren Hautfarbe stellen sich hinter ihre Kinder und stoßen sie kräftig an, damit sie weit fliegen. Sie ermuntern sie, hoch und weit zu fliegen.
Die dunkelhäutige Frau steht vor ihrem Kind, sie zieht es nah zu sich und lässt es auf sich zu fliegen. Das Kind gewinnt den Schwung aus der Nähe zu ihr. Es kann die Mutter die ganze Zeit sehen. Es lernt das unendliche Spiel der Beziehung: nah und fern, „ich bin bei dir“ und „ich komme nie wieder“, je näher, desto weiter. Es lernt zu lächeln und mit dem Lächeln zu spielen. Es lernt zu flirten; es versteckt sich, indem es am höchsten Punkt die Augen zumacht, und es lässt sich finden.
Die beiden anderen Kinder, eins blond, eins braunhaarig, lernen etwas zu leisten. Sie werden gelobt, nicht gelockt. Sie fliegen auf die Welt zu, sie sollen sie ja erobern. Ihr „nochmal, nochmal“ ist eine Forderung, nicht ein Betteln. Ihre Mütter können durch andere Personen ersetzt werden. Die Beziehung ist eine Nebensache, das Ich-Es triumphiert über das Ich-Du. Offenen Auges sausen sie durch die Luft. Der schüchterne Charme der Kinder der indianischen Kultur ist zu nichts nütze; die weißen Kinder werden allzu früh entwöhnt.

Dafür schaukeln sie tatsächlich höher.

Dorothee Sölle
aus:
Dorothee Sölle,
Gott im Müll. Eine andere Entdeckung Lateinamerikas, dtv 990, München 1992,
S. 131

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